Das komplette Chaos der Pandemiepolitik – erstmals in London enthüllt

Mehr als 100.000 Nachrichten zwischen britischen Ministern und Experten bieten Einblick in die Pandemiepolitik, wie man ihn nicht kennt – aber ahnt. Sie zeigen das Schwanken zwischen „perfekten“ Lösungen und ihrer vermurksten Ausführung. Statt Heimbewohner zu testen, nur Tests in der gesunden Bevölkerung. Teil eins einer Serie

Getty Images, Screenprint: Telegraph.co.uk - Collage: TE

Der britische Telegraph hat mehr als 100.000 WhatsApp-Nachrichten aus verschiedenen Regierungsteams rund um die Londoner Pandemiepolitik erhalten und wird darüber fortlaufend unter dem Titel „The Lockdown Files“ berichten. Die Nachrichten bestehen aus rund 2,3 Millionen Worten (das entspricht laut dem Journalisten Fraser Nelson „vier Mal Krieg und Frieden“) und wurden vor allem zwischen Gesundheitsminister Matt Hancock und anderen Ministern (auch Premierminister Boris Johnson) sowie Experten wie dem medizinischen Berater Chris Whitty und dem wissenschaftlichen Berater Patrick Vallance versendet. Die verschiedenen Gruppen sind als „Top Teams“, „Covid 19 senior group“ oder „crisis management“ überschrieben. In den ersten Beiträgen des Telegraph geht es vor allem um die Teststrategie der britischen Regierung und insbesondere des Gesundheitsministers und dessen Umgang mit Pflegeheimen.

— The Telegraph (@Telegraph) February 28, 2023

Ursprünglich hatte Hancock die Nachrichtenverläufe der Co-Autorin seiner Pandemic Diaries der politischen Journalistin Isabel Oakeshott zugänglich gemacht. Oakeshott entschied sich zur Veröffentlichung der natürlich vertraulichen Dokumente, weil sie glaubt, dass die offizielle Untersuchung zum britischen Pandemiemanagement in einer „kolossalen Weißwaschung“ mit geschwärzten Namen in tausenden Dokumenten enden wird: „Diese außergewöhnlichen Nachrichten … bieten einen unvergleichlichen Einblick in die Frage, wann, warum und wie die Regierung während der Krise kritische Entscheidungen getroffen hat. Und das ist genau das, was wir alle zu wissen verdienen. Keine geschönten, von der Regierung genehmigten Dokumente können mit der Rohheit dieser Echtzeit-Aufzeichnungen mithalten.“ Oakeshott glaubt, dass die britische Öffentlichkeit keinen Tag länger auf die geforderten Antworten warten kann. Hancock erwägt angeblich rechtliche Schritte.

Laut dem Telegraph zeugen die Nachrichtenverläufe vom unselbständigen „groupthink“ auf der Regierungsbank, aber auch von einer oft legeren, beiläufigen („casual“) Herangehensweise der Regierenden an wichtige Entscheidungen – etwa die Schulschließungen, die Maskenpflicht an Schulen und anderswo oder die Testpflicht in Pflegeheimen. Vor allem dieses Thema führt zu zahlreichen Paradoxen in der britischen Antwort auf die Pandemie.

22.000 Drive-Through-Tests, die niemand nutzen wollte

Zahlen aus Großbritannien
„The Telegraph“ berichtet: Mehr Menschen könnten durch Maßnahmen versterben als am Virus
In diesen Tagen läuft die Testpflicht auch für Besucher in deutschen Pflegeheimen ab. Zugleich fällt die Maskenpflicht für die Beschäftigten im Gesundheitssektor, wofür sich die Besucher (auch von Arztpraxen) wohl noch einen guten Monat gedulden müssen. Dann wäre die Prä-Covid-Normalität auch im letzten Gesellschaftsbereich wieder hergestellt – und das ist sicher ein Aufatmen für viele Menschen, für die normale Lebensabläufe (Arztbesuche, Besuche von engen Verwandten) zu lange durch unnatürliche Regelungen kompliziert und erschwert wurden. Die Hancock-Files führen da in eine ganz andere Zeit, als die „neue“ Krankheit als weitgehend unberechenbar galt und – zumal in Großbritannien – gehäufte Todesfälle in Pflegeheimen auf mangelnde Vorsicht oder falsche Regelungen zurückgeführt wurden.

Die britische Regierung unter Boris Johnson hatte zu Anfang die Absicht, einen anderen Weg als die großen Kontinentalländer Frankreich, Italien, Spanien oder Deutschland zu gehen. Am Horizont erschien ein Modell, das der schwedischen Herangehensweise zumindest ähnelte. Dabei war man allerdings nicht bis zum Letzten entschieden, wie das Einlenken Johnsons in der Lockdown-Frage zeigte.

Zunächst legte man allerdings den Akzent weniger auf generelles Einsperren der Bevölkerung und Lahmlegen der Wirtschaft als auf eine hocheffiziente Kontaktnachverfolgung nach dem Motto „Test, trace and isolate“ – „Testen, Verfolgen, Isolieren“. Das selbstgesteckte Ziel von Gesundheitsminister Matt Hancock waren 100.000 Tests am Tag. Dazu war er auch zur Presse-Kooperation bereit, etwa mit dem Konservativen George Osborne, der damals den Evening Standard herausgab. Ende April bat Hancock Osborne um Werbung für sein 100.000-Tests-Ziel. Konkret hatte Hancock 22.000 Plätze in Drive-Through-Testzentren zu vergeben, die damals zu wenige nutzen wollten. Osborne antwortete: „Ja – klar – Sie müssen morgen nur ein paar exklusive Worte an den Standard richten, und ich werde dem Team sagen, dass es das verbreiten soll.“

Warum ließ Hancock nicht gründlicher in Pflegeheimen testen?

Paradoxerweise bedeutete diese Teststrategie aber nicht, dass Hancock jeden Test, der durchgeführt werden konnte, guthieß. So sagte er zu einem Vorschlag (vom 24. April 2020), dass die Testung der asymptomatischen Pflegekräfte und Bewohner in Pflegeheimen, in denen es in den vergangenen 14 Tagen einen Ausbruch gegeben hatte, priorisiert werden sollte, das sei „ok, solange es die tatsächliche Ausschöpfung der Testkapazität nicht hintertreibt“. Also weniger Testverpflichtungen für Heime, um die Testzahl von 100.000 am Tag zu erreichen? Das wirkt nicht nur unsinnig, sondern wie eine Frucht des Wahnsinns. Man ließ die angeblich verletzlichste Gruppe der Bevölkerung weitgehend schutzlos, während man auf der anderen Seite die Durchtestung der (gesunden) Gesellschaft per Zeitungsannonce vorantrieb. Zu allem Übel soll Hancock dann auch noch zehntausende Tests in seine Zahlen mit einbezogen haben, die gar nicht verarbeitet wurden. Auch Testkits, die an Privathaushalte versandt wurden, aber in vielen Fällen nie zurückkamen, zählten mit.

Zweites Paradox: Als Chris Whitty vorschlug, alle Neuzugänge in Pflegeheimen zu testen, egal ob sie aus privaten Wohnungen oder aus Krankenhäusern kamen, stimmte Hancock zunächst zu („ein guter positiver Schritt“). Doch am Abend desselben Tages (14. April 2020) hatte Hancock seine Meinung aus unbekanntem Grund geändert: Nun sollten nur noch die Krankenhauszugänge PCR-getestet und bis zum Ergebnis isoliert werden, was widersinnig erscheint. Allerdings gab Hancock erst am 10. Juni 2020 zu, dass die Berührungspunkte mit der „Gesellschaft“, vor allem über die Pflegekräfte, die wahrscheinlichste Route für das Coronavirus in die Pflegeheime seien („Leider führt die wichtigste Route für Covid-19 in die Pflegeheime über die Gesellschaft“).

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Was für die Pflegekräfte galt, sollte also für die neu einziehenden Bewohner nicht gelten? Auf ähnliche Einwände antwortete Hancock mit der leger anmutenden Aussage: „Sagen Sie mir, wenn ich mich irre, aber ich würde das lieber weglassen und eher beschließen, ALLE jene zu testen & zu isolieren, die aus dem Krankenhaus in die Pflege kommen. Ich glaube nicht, dass die Verpflichtung für Privatzugänge etwas bringt. Das würde nur das Wasser trüben.“ Hancocks Annahme mag damit zusammenhängen, dass er Covid-Kranke eher im Krankenhaus als in Privatwohnungen vermutete. So sagte er, dass die Mehrheit der Privatzugänge wohl aus der Isolation zu Hause in die Heime komme. Insofern könne eine anfängliche Isolierung im Heim mit allen Beteiligten besprochen werden. An sich eine vernünftige Einstellung, die nun unter Beschuss gerät.

Der „Schutzring“ um die Pflegeheime als schöne Illusion

Im Hintergrund steht die Frage nach den mutmaßlich überproportionalen Coronatoten in britischen Heimen, für die man noch immer eine Erklärung sucht. Laut dem Telegraph wurden in dieser Zeit tausende Briten in Pflegeheime verlegt, ohne getestet worden zu sein. Fraser Nelson, der Herausgeber des Spectator, der sich an der Auswertung der Nachrichten beteiligt, nennt die britischen Pflegeheime die wahren „killing fields“ der Pandemie auf der Insel.

All das war vielleicht eine späte Erkenntnis Hancocks, die übrigens zusammen mit einem anderen Richtungswechsel kam: der Einführung der Infektion durch Aerosole als wesentlichem Faktor und folglich der Aufwertung des Maskentragens (so eine weitere Aussage Hancocks von Anfang Juni 2020). Die Aufnahmeregeln für Pflegeheime wurden allerdings erst am 14. August 2020 angepasst. Im Hintergrund wirkte vielleicht auch die Knappheit von Testkapazitäten mit, die Hancock inzwischen in seinem Buch Pandemic Diaries eingestanden hat. Das sei die „tragische, aber ehrliche Wahrheit“ – obwohl sie offenbar nicht für alle Phasen der Pandemie galt.

Am 28. April 2020 war Hancock, wie gesagt, verzweifelt darum bemüht, mehr Menschen zu Tests in Drive-Throughs zu bringen: „Die Nachfrage ist einfach nicht da.“ Daher die Werbe-Aktion mit George Osbornes Evening Standard. Ein halbes Jahr später beklagte allerdings derselbe Osborne, dass es quasi unmöglich sei, einen Test oder auch die Ergebnisse rechtzeitig zu bekommen. Erst Anfang Juli hatten die Mitarbeiter von Pflegeheimen die Möglichkeit, sich einmal pro Woche zu testen. Insofern steht eine andere Aussage in Frage, die Hancock gerne und oft während der Pandemie machte, dass er nämlich von Anfang an einen „Schutzring um Pflegeheime“ errichtet habe. Inwiefern das – die Isolation von Menschen, die in einer Gemeinschaft leben. von einem Krankheitserreger – überhaupt möglich war, ist eine andere Frage.

Common sense der Skeptiker: „Todesfälle alter Menschen, die einfach aufgeben“

Auf der anderen Seite muss man den Covid-Skeptikern in der britischen Regierung attestieren, dass sie eine gute Portion gesunden Menschenverstandes gezeigt haben. So stellte sich die (derzeit erneut amtierende) Staatssekretärin für Pflege, Helen Whately, gegen ein Besuchsverbot für Ehepartner, von denen der eine in einem Heim lebt. Über Monate hinweg durchgehalten sei das „unmenschlich“. Hancock erwiderte, dass die von Whately opponierte Erweiterung der Besuchsverbote auf „Tier 2“ (die mittlere Zone des britischen Lockdownsystems) am 11. Oktober 2020 beschlossen worden sei. Auch die beginnenden Impfungen konnten Hancock nicht zu einer sofortigen Lockerung der Besuchsregeln bewegen, obwohl Whately auch hier mit schlichten Worten intervenierte: Man müsse zu einer Anpassung der Besuchsregeln bereit sein, denn einerseits gebe es das Risiko von „Todesfällen alter Menschen, die einfach aufgeben“ (ebenso wie durch Covid), andererseits sei da die „Erwartung, dass Impfstoff = sicherer Besuch“. Dem schenkte der allwissende Gesundheitsminister allerdings keinen Glauben. Die Beinahe-Normalisierung der Besuchsregeln zog sich – ähnlich wie in Deutschland – bis Juli 2021.

Beide Entscheidungen Hancocks hinterließen laut Kommentatoren Traumata: die unvollständige Teststrategie in Bezug auf Pflegeheime ebenso wie die Isolation von Alten und Gebrechlichen von ihren nächsten Verwandten. Die Frage muss erlaubt sein, welche von beiden Maßnahmen wirklich für die Toten verantwortlich war. Denn klar ist auch: Das System kollektiver Pflege von Alten und Kranken ist nicht nur in Großbritannien hochgradig prekär und kann in vielen Fällen nicht für Fitness und Lebenszugewandtheit der Bewohner sorgen. Insofern gehört wohl eher das System auf den Prüfstand als der Mensch in ein Test-, Masken- und Isolationsregime gezwängt.

So weit die ersten Enthüllungen aus den britischen „Lockdown Files“. Mehr ist in den kommenden Tagen zu erwarten.

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