Überlebensstrategieen auf der „MS-Titanic-Deutschland“

Selbstsicher hält der Kapitän Meinungsumfragen hoch, die er frisch unter den Passagieren an Bord gemacht hat. „80% Zustimmung für unseren Kurs. Und die restlichen 20% werden wir auch noch überzeugen.

In meinem Land komme ich mir manchmal vor wie auf der Titanic. Beim Blick vom Deck sichte ich immer dickere Eisschollen in Form von schweren politischen Absurditäten.

Mein Traumschiff Deutschland mit seinen ehemals vorzüglichen Eigenschaften wie Meinungsfreiheit, Eigentumsfreiheit, Marktfreiheit, Souveränität, Währungsstabilität, Energiesicherheit, Umwelttechnik, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand für alle, innere Sicherheit, ausgewogenes Parteiensystem und funktionierende Sozialsysteme sehe ich ernsthaft in Gefahr.

Doch der Kapitän der „MS-Titanic-Deutschland“ lacht nur über meine Sorgen: „Sie gönnen mir wohl nicht, dass ich ins Guiness-Buch der Rekorde komme mit der schnellsten Atlantiküberquerung. Was ihr bei TE als angebliche Eisschollen ausmacht, das ist nur die Wasseroberfläche, die von der Sonne glitzernd bestrahlt wird. Wir fahren auf eine glorreiche klimangerechte, gendergerechte, impfgerechte, universalgerechte Zukunft zu. Sicherlich, es gibt auf einem Schiff immer ein paar Problemchen. Aber grundsätzlich ist alles in bester Ordnung in dem besten Deutschland aller Zeiten.“

Selbstsicher hält der Kapitän dann noch Meinungsumfragen hoch, die er frisch unter den Passagieren an Bord gemacht hat. „80% Zustimmung für unseren Kurs. Und die restlichen 20% werden wir auch noch überzeugen. Unsere öffentlich-rechtlichen Informationssendungen überall auf dem Schiff werden die Menschen von unserer alternativlosen Wahrheit überzeugen.“

Angesichts solch triumphierender Selbstsicherheit frage ich mich, wie ich auf der „MS-Titanic-Deutschland“ überleben kann:

Die erste Option: Ich gehe unter Deck und mache nur noch, was mich ablenkt:
Fußball, Familie, Shoppen, Saufen, Beruf, Briefmarken sammeln, Spiritualität, Rosamunde Pilcher – was auch immer; Hauptsache ich krieg nichts mehr mit vom Schiffskurs. Zeitungen und Politik meide ich fortan wie der Teufel das Weihwasser.

Die zweite Option: Ich tue Buße und mache eine Kehrtwende um 180 Grad. Alles, was ich bisher bei Tichy geschrieben habe, nehme ich als falsch zurück. Der Kapitän und 80% der Bevölkerung können doch nicht irren.
Die Zukunft ist wunderbar. Die Regierung ist klasse. Das Leben ist schön. Wer das anders sieht, so wie ich früher, der ist ein Miesepeter oder hat einen an der Klatsche.

Die dritte Option: Ich habe zwar weiter meine Fragen und Sorgen, aber ich schließe mich trotzdem konsequent der Mehrheitsgesellschaft an.
Ist zwar auf die Dauer sehr anstrengend, die Zweifel wie einen Wasserball ständig unter Wasser halten zu müssen, aber immer gegen die Mehrheit zu sein, ist auch nicht leicht. Und damit ich nicht in meinen eigenen Spiegel zu schauen brauche, entferne ich heimlich alle Spiegel an Bord.

Die vierte Option: Ich übe mich im Nahkampf, um bei den kommenden Verteilungskämpfen wenigstens einen schönen Platz auf einem Rettungsboot zu ergattern.

Die fünfte Option: Ich beneide einen Kollegen, der das nötige Kleingeld hatte, um sich vom Helikopter von Bord holen zu lassen, um mit der „MS-Schweiz“ weiterzufahren.

Die sechste Option: Ich stehe weiter offen und geradeaus zu meiner Meinung. Und dann gehe ich mit mir im Reinen fröhlich und zufrieden auf Deck, um die noch verbleibende Zeit mit meinen sich als echt herausfilterden Freunden zu genießen.

Die siebte Option: Ich baue mir aus dem Schrank in meiner Kajüte ein kleines Rettungsboot. Sozusagen eine kleine Familien-Arche-Noah für schlechte Tage. Mal schauen, ob mir das mit meinen zwei linken Händen gelingen wird.

Die achte Option: Ich schlage fröhlich in die Hand Gottes ein, die er zu mir in seinem Wort ausstreckt. Diese Perspektiverweiterung macht mich gelassener auf der Titanic bei meinem Weg zwischen Widerstand und Ergebung.

Die neunte Option: Ich versuche noch ein paar Zweifelnde zu gewinnen, um dann als stärkere Gruppe den Kapitän zu überzeugen, den Kurs zumindest um 0,5 Grad zu verändern. Ich habe ausgerechnet, dass wir dann am größten Eisberg vorbeikommen sollten.

Die zehnte Option: Ich hoffe, dass ein baldiger Zusammenstoß mit einer größeren Eisscholle den Kapitän und die Passagiere an Board aufwachen lässt.

Die elfte Option: Ich pflanze noch ein Apfelbäumchen; ich überlege nur noch, ob an Deck oder in meiner Kajüte.

„Weiß ich den Weg auch nicht,
du weißt ihn wohl.
Das macht meine Seele still und friedevoll.
Ist’s doch umsonst, dass ich mich sorgend müh,
dass ängstlich schlägt mein Herz, sei’s spät, sei’s früh.“
(Hedwig von Redern, 1901)

P.S. Dieses Kirchenlied ist für mich zugleich Tranquilizer als auch Energizer im Sinne der achten Option. Damit gebe ich zu erkennen, dass ich mich in meinem Leben für die Optionen 6-11 entschieden habe.

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Kommentare ( 80 )

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MichaelaMa
2 Jahre her

Ab Option 6 wird es interessant. Ich würde eine Kombination aus den Optionen 6-8 wählen, Option 9 sehe ich als nicht realistisch an, versuche es aber, weil es mir mein Gewissen gebietet, dennoch mit dem Grundsatz: Ich tue, was ich kann und gebe dabei mein Bestes. Weil die Eisscholle aus Option 10 garantiert kommen wird, bete ich für einen möglichst glimpflichen Ausgang (auch für diejenigen, die die Erschütterung unerwartet trifft). Option 11 würde ich dahingehend modifizieren, dass ich das Apfelbäumchen in einem kleinen Topf pflanze, das auf die (Wahl-)Familienarche aus Option 7 passt. Und hoffen, dass noch genug Zeit bleibt,… Mehr

Menkfiedle
2 Jahre her

Die grossen Erzählungen der Neuzeit sind passe oder im Niedergang begriffen: Kapitalismus, Kommunismus, Liberalismus. Was wir heute erleben, sind die letzten Zuckungen des Liberalismus, indem alles und jedes als gleich postuliert wird. Es geht nicht mehr um gleiche Rechte des Verschiedenen, es geht um Gleichheit. Autokratische Systeme praktizieren das auch. Wir erleben gerade den Einzug des Autoritatismus und des Totalitären durch die Hintertür, der vermeintlichen Verteidigung des Liberalismus. Der neue Faschismus sagt nicht, hey- ich bin der neue Faschismus, er sagt – ich bin der Verteidiger des Liberalismus. Liberalismus meint im Kern die gleichen Rechte des Verschiedenen, um gleiche Chancen… Mehr

Last edited 2 Jahre her by Menkfiedle
Peter Silie
2 Jahre her

Das ist interessant: wenn Sie absolut sicher sind, daß das Schiff auf einen katastrophalen Kurs mit einem Eisberg läuft, um in diesem Bild zu bleiben, könnten Sie meutern bzw. das Ruder, notfalls auch mit Gewalt, an sich reißen. Sie würden ja aus einem offensichtlichen Notstand heraus handeln. Das geht schon in die Richtung der franz. Generalität, die zwei Briefe an Macron geschrieben hat, worin durch die Blume ein Putsch in den Raum als eine mögliche Option gestellt wurde. Die Frage ist: gibt es die notwendige Sicherheit bei der Prognose über die Zukunft überhaupt? Wenn man das verneint, weil zB die… Mehr

H. Priess
2 Jahre her

Ich bin`s nochmal. Mir kommt dieser Staat nicht wie die Titanik vor eher wie ein riesiges Ruderboot. Auf der linken Seite sitzen viele und schöpfen mit Wassereimern Wasser ins Boot und auf der rechten Seite sitzen wenige die mit Teelöffeln das Wasser rausschöpfen und auf der Bootsspitze sitzt die Kapitänin und feuert die linke Seite an schneller zu machen denn die auf der rechten Seite sind dabei zu gewinnen. Ich bin nicht gläubig in den Sinne von Religion aber an etwas glauben tun wir doch alle oder? Bis vor etlicher Zeit glaubte ich auch noch an die Menschen, an ihre… Mehr

Enrico Stiller
2 Jahre her

Deutschland – wenn man überhaupt noch von diesem Land sprechen kann, denn eigentlich ist es doch nur noch eine leere Hülse mit dem alten Namen – wird gegen den Eisberg laufen. Und dann wird folgendes passieren:
Regierung und Mainstream-Journalisten werden nachweisen, dass der Eisberg rechtsradikal war. Sie selbst träfe natürlich keinerlei Schuld.

Peter Silie
2 Jahre her
Antworten an  Enrico Stiller

Sie werden behaupten, daß der Eisberg das Schiff gerammt hat und nicht umgekehrt. Und ich fürchte, bei all der Konformität und Obrigkeitshörigkeit, die wir seit einigen Jahren erleben, wird auch diese Propaganda wieder verfangen.
Am Ende bedingen sich Verführer und Verführte gegenseitig. Ein echtes Armutszeugnis für den Deutschen.

Menkfiedle
2 Jahre her
Antworten an  Enrico Stiller

Der historische Vergleich hinkt. Das Schiff Deutschland wird gerade in seine Einzelteile zerlegt, von der Mannschaft und einigen Passagieren. Aus den Einzelteilen bauen sie etwas neues, das andere Namen trägt. Andere Passagiere wachen eines Morgens auf und stellen fest, dass sie sich woanders befinden, auf der „Europa“ oder auf der „Anywhere“ und auf Nachfrage erklärt man ihnen, dass sich das Reiseziel geändert habe. Dystopisch? Ja.

ketzerlehrling
2 Jahre her

Und wer sitzt in den Rettungsbooten? Die 80 % Gläubigen?

Peter Silie
2 Jahre her
Antworten an  ketzerlehrling

Worauf Sie wetten können.

AnSi
2 Jahre her

Danke für diesen Text, Herr Zorn!
Auch wenn ich in keinster Weise gläubig bin, geben sie mir doch Kraft.
Mir fehlt in der Aufzählung die Option: ich gehe vor dem Zusammenstoß mit dem Eisberg von Bord. Vielleicht kann man ja das Boot aus Option 7 nutzen? Mittlerweile fühle ich mich hier auf diesem Schiff so unwohl, ich kann es und die Kapitäne nicht mehr ertragen.

Delfina64
2 Jahre her

Der Glaube als Tranquilizer und gleichzeitig Energizer gefällt mir sehr.

Delfina64
2 Jahre her

Meine Befürchtung: Selbst bei einem Zusammenstoß mit einer Eisscholle, würden die meisten Menschen das kaum bemerken und leugnen; Ähnlich wie die Grünen im Wahlkampf mit Baerbock.

Teufelskralle
2 Jahre her

Untergang der Teutanic Ist ungefähr zwanzig Jahre her,  ein Luxusschiff als Teutanic benannt,  fuhr auf den Meeren kreuz und quer,  war auch für vieles Gute bekannt. War weltweit bekannt für Qualität,  vom Fleiß der Mannschaft nicht zu schweigen,  sogar eine gewisse Solidität  war denen auf Brücke zu eigen. Sicher gab es manche Querelen,  wie auf ’nem Großdampfer üblich,  aber gesund an Körper und Seelen,  einigte man sich meistens friedlich. Der Schiffsrumpf selbst war nicht von Pappe  und tipptopp war’n die Maschinen,  konnten vertragen so manche Schlappe,  fiel keinem ein, sie falsch zu bedienen. Die Passagiere waren, das ist normal,  sich… Mehr