Darf meine Freiheit die Freiheit eines anderen einschränken?

„Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ Dieser Satz ist der Sargnagel aller Freiheit. In einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, wird meine Freiheit immer irgendwo auch die Freiheit eines anderen Menschen beeinflussen.

IMAGO/Future Image

Immer wieder höre ich in Diskussionen folgenden Satz: „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ Das hört sich erst einmal gut an. Freiheit heißt nicht, dass man tun und lassen kann, was man will. Die Freiheit hat im Mitmenschen ihre Grenzen. Freiheit und Rücksicht gehören zusammen.

Doch bei näherem Betrachten beginnen die Probleme: Darf meine Frau um 5.00 Uhr morgens aufstehen, um mit Freundinnen in den Urlaub zu fahren, obwohl sie mich dann weckt, selbst wenn sie noch so leise ist? Ihre Freiheit endet nun mal da, wo meine Freiheit beginnt. Und meine Freiheit beginnt ziemlich oft. Darf mein Nachbar um 19.30 Uhr Schlagzeug üben, obwohl ich dadurch akustisch in meiner Freiheit eingeschränkt werde?

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In den politischen Diskussionen um Corona und Klima verschärft sich die Tücke dieses vermeintlichen Freiheits-Grundsatzes: Darf ich überhaupt noch in die Öffentlichkeit? Selbst wenn ich mich gut fühle, kann ich ja ein ansteckendes Virus in mir haben, mit dem ich die Freiheit des anderen bei Ansteckung erheblich einschränken könnte.

Und ist mein Leben in Deutschland nicht per se freiheitsraubend für andere, weil ich hier im Wohlstand so viel CO2 produziere, dass irgendwo auf der Welt vermeintlich Menschen dadurch klimatische Nachteile haben könnten? Bereits jetzt läuft die Klimaklage eines peruanischen Andenbauers gegen den RWE-Konzern in Deutschland; in dieser Logik spricht eigentlich nichts dagegen, dass der peruanische Andenbauer auch den einzelnen deutschen SUV-Autofahrer oder den winterlichen Vielheizer vor Gericht zieht.

„Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ Dieser Satz wird schneller als man denken kann zum Sargnagel aller Freiheit. Denn in einer systemischen Welt, wo alles mit allem zusammenhängt, wird meine Freiheit IMMER irgendwo auch die Freiheit eines anderen Menschen oder die Natur negativ beeinflussen.

So konnte in der Corona-Zeit öffentlich propagiert werden: „Demokratie während Corona bedeutet, dass man für eine kurze Zeit auf seine Freiheitsrechte verzichtet.“ Vom Ende her gedacht, heißt das: „Solange Menschen ansteckende Krankheiten in sich tragen könnten, bedeutet Demokratie, dass man auf seine Freiheitsrechte und damit auf Demokratie verzichtet.“

Schöne neue Welt. Im Namen der Freiheit wird die Freiheit grundlegend abgeräumt.

Ich möchte daher gegen diesen freiheitszerstörenden „Freiheitsgrundsatz“ einen neuen freiheitsfördernden Freiheitsgrundsatz in den Ring der Diskussion werfen. Dieser lautet: „Die Freiheit des Einzelnen darf die Freiheit des Anderen zumutbar einschränken.“ Dieser Leitsatz hat den Vorteil, dass er zum einen die Freiheit stärkt, dass er zum anderen die Freiheit des anderen im Blick hat und dass er in die Diskussion führt, denn das Wort „zumutbar“ zwingt in die Kommunikation: Was ist „zumutbar“?

Wenn meine Frau es nicht jede Woche einmal macht, dann ist es für mich zumutbar, dass sie sogar um 3.00 Uhr in der Nacht aufsteht, um in den Urlaub zu fahren. Der Nachbarsjunge darf im Mehrfamilienhaus bis 22.30 Uhr an seinem Schlagzeug üben. Es nervt mich zwar manchmal ein wenig, aber ich freue mich von Herzen, wenn Jugendliche Freude an der Musik haben und engagiert ihr Hobby betreiben.

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Für mich ist es auch zumutbar, dass Menschen mich ungewollt mit Corona anstecken. Denn die Alternative, die Selbstisolation, halte ich für mein einigermaßen gesundes Immunsystem nicht für förderlich. Ein durch überzogene Schutzmaßnahmen geschwächtes Immunsystem könnte mittelfristig zu einem erheblichen Risiko für die Gesundheit werden.

In meiner Freiheitsausübung darf ich anderen etwas zumuten. Schon bei meiner Geburt habe ich meiner Mutter viel zugemutet. Und meine Mitmenschen dürfen mir in ihrem Freiheitsdrang etwas zumuten. Freiheit geht selten ohne Zumutungen. Das betont auch folgende unübliche, aber grammatikalisch mögliche Übersetzung des Bibelwortes Galater 6,2: „Einer ertrage den anderen als Last.“

Wir sagen häufig: „Ich möchte dem anderen nicht zur Last fallen.“ Sicherlich, wir möchten den anderen nicht belästigen. Und das ist gut und rücksichtsvoll. Aber es gehört zu unserem menschlichen Dasein, dass wir (freiheits)bedürftig sind und dass wir von unserer Zeugung an immer wieder anderen Menschen zur Last fallen müssen.

Auch in der Ausübung unserer Freiheitsbedürfnisse dürfen wir anderen Menschen zur Last fallen. Wie viel, das muss nicht nur beim Schlagzeugüben ausgelotet werden und hängt von der Weltsicht und Weitherzigkeit der Beteiligten ab. Wer Freiräume aktiv nutzen will, dabei aber keinem anderen etwas zumuten möchte, der landet in der Unfreiheit.

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Kommentare ( 28 )

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Kapitaen Blaubaer
1 Jahr her

Sehr gute Analyse und interessante Auslegung der Gallaterworte. Rücksichtnahme ist wichtig im Miteinander, ebenso das halten an vereinbarten Regeln. Aber ein Miteinander in welchem man seinem Nächsten in keinster Weise zur Last fällt ist nicht möglich. Pfarrer Zorn benennt hier eine systemische Falle, wie es so viele gab in den letzten Jahren. Wie ich den Michel kenne, wird er zu plump sein, diese durchschauen zu wollen, und wird den Artikel daher vom Tisch fegen.

Silverager
1 Jahr her

Wenn Herrn Zorns Gattin um 5 Uhr aufsteht, um mit ihren Freundinnen in Urlaub zu fahren, dann ist seine Ehe dabei, den Bach runterzugehen.
Und wenn der Nachbarsjunge bis 22:30 Uhr Schlagzeug übt, gehört ihm ordentlich eins hinter die Löffel.
Und wenn der peruanische Andenbauer gegen RWE klagt, ist das barer Unsinn.
Also, werter Herr Zorn, mit Freiheitsbehinderung haben die Beispiele nun überhaupt nichts zu tun.

Last edited 1 Jahr her by Silverager
Ralf Poehling
1 Jahr her

Wunderbarer Artikel, Herr Pfarrer. Sie haben das Problem verstanden. Echte Freiheit des Einzelnen geht nicht ohne freiwillige Rücksichtnahme auf andere. Insbesondere dann nicht, wenn der Platz immer enger wird und mehr und mehr Menschen Tür an Tür wohnen und sich dabei nicht nur hören, sondern auch bildlich wie praktisch auf die Füße treten können. Eine freie Gesellschaft braucht gut erzogene Menschen mit dem richtigen Gespür für die Angemessenheit von Verhaltensweisen in jedem erdenklichen Kontext. Während man in einem Proberaum außerhalb von Wohngebieten problemlos auch mitten in der Nacht Schlagzeug spielen kann, sollte man das gleiche nicht in seiner Wohnung mitten… Mehr

Klaus D
1 Jahr her

Die absolute Freiheit ist gleichzusetzen mit Anarchie!

Boudicca
1 Jahr her

Um 19.30 Uhr mit voller Lautstärke Schlagzeug ohne Dämpfer in einem Mehrfamilienhaus zu üben, ist keine große Freiheitsübung sondern Lärmbelästigung.
Leider verwechselt hier der Autor die Regeln guten Benehmens, guter Sitten und persönlicher Toleranz mit Freiheit.

Deutscher
1 Jahr her

„Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ Dieser Satz ist der Sargnagel aller Freiheit.

Richtig. Und er wird nur von denen benutzt, die nicht merken, dass man ihn jederzeit auch gegen sie selber anwenden kann.

Wo mit diesen Worten gar für Veganismus geworben werden soll: Denen sei gesagt, dass Kant durchaus als einer der bedeutenderen Vertreter des mechanistischen Weltbildes gelten darf, wonach das Tier nur eine Maschine ist und sein Wert über den eines Funktions- und Nutzgegenstandes nicht hinausgeht.

Talleyrand
1 Jahr her

Wenn man mal die gutgemeinte humanistisch geprägte Theorie beiseite lässt, bleibt in der Praxis nur soviel übrig: Die Freiheit des Einzelnen bemisst sich nach seiner Macht in dieser Welt und der Möglichkeit diese anzuwenden. Es sei denn, er weiß etwas von der Freiheit eines Christenmenschen. Das ist eine außerweltliche Freiheit, ein Gottesgeschenk. Sie ist, recht verstanden, grenzenlos, außerweltlich, weil zeitlos ewig.

Mausi
1 Jahr her

Kant „richtig“ zu verstehen, ist mir nicht möglich. Um „Meine Freiheit endet, wo die des anderen beginnt“ sinnvoll im Sinn der Freiheit zu leben, braucht es viel Nachdenken. Denn natürlich ist es nicht so einfach. Daher ziehe ich mich lieber auf volkstümliche Sprichworte zurück. Folgendes Sprichwort beschreibt Freiheit m. E. sehr gut: Was Du nicht willst, dass man Dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu. Müsste man die Kleber wirklich mal fragen, wie es aussähe, wenn einer ihrer Liebsten im Krankenwagen stecken bleibt. Aber selbst dieses Sprichwort kommt heutzutage an seine Grenzen. Denn viele wissen gar nicht mehr, was… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Mausi
Spicebar
1 Jahr her

Wenn meine Frau morgens um 5:00 aufstehen würde, um mit ihren Freundinnen in den Urlaub zu fahren, würde ich mir vermutlich noch ganz andere Gedanken machen, als ob mich das beim Durchschlafen stört. Zum Beispiel ob unsere Ehe bereits eingeschlafen ist und ich nur noch als der „Umarmer“ oder „Verbalpartner“ einer frei definierbaren und somit unverbindlichen Gemeinschaft namens „Ehe“ gesehen werde und mir vielleicht mal ein paar John Eldredge Bücher zulegen sollte, um meine männliche Identität zu stärken. Sonst kommt es am Ende womöglich so, dass die Solidarität unter solchen „Reisemädels“ auch außerhalb der Urlaubsplanung die eheliche Intimität über kurz… Mehr

W aus der Diaspora
1 Jahr her

So ausgedrückt würde dann bedeuten, dass es etliche gibt, die es zumutbar finden fleischlos zu leben und deshalb allen das Fleisch essen verbieten können. Nein! Freiheit endet dort wo wir die Freiheit des anderen einschränken. Wenn ihre Frau um 5 Uhr aufsteht und sie dadurch weckt, dann haben Sie die Freiheit sich rumzudrehen, wieder einzuschlafen oder aufzustehen. Sie haben auch am Abend davor die Möglichkeit ihre Frau zu bitten doch auf dem Sofa zu schlafen um sie morgends nicht zu wecken. Sie müssten dann die gegenseitigen Freiheitsgrenzen aushandeln. Denn was ist zumutbar? Zumutbar ist es doch sicher auch, dass ihre… Mehr