Auch in der Corona-Krise darf der Rechtsstaat nicht untergehen

Dahrendorf: Wer die Freiheit einzuschränken beginnt, hat sie aufgegeben und verloren.

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Sind in der Krise alle Mittel erlaubt? Heiligt der Zweck die Mittel? Darf in der Not jedes Gebot gebrochen werden? Oder gibt es auch Grenzen? Der deutsch-britische Liberale Ralf Dahrendorf hat dieses Spannungsfeld in einem bemerkenswerten Interview mit der ZEIT im Jahr 1993 in kluger Weise ausgelotet. Dahrendorf stellt dort fest, er habe sich „nie anfreunden können mit dem sogenannten Prinzip Verantwortung, das uns dazu veranlassen soll, die Freiheit jetzt einzuschränken, damit künftige Generationen sie wieder haben. Wer die Freiheit einzuschränken beginnt, hat sie aufgegeben und verloren.“

Wenn die Regierung jetzt eine umfassende Änderung des Infektionsschutzgesetzes vorlegt, dann stellen sich diese Fragen überdeutlich. Laut dem Gesetzentwurf soll das Bundesgesundheitsministerium durch Rechtsverordnung beschlagnahmen, Verkaufsverbote aussprechen, Produktionsstätten schließen oder diese zu Umstellung der Produktion veranlassen können. Über Erlasse des Ministers können Teile des Sozialgesetzbuches und der Selbstverwaltung ausgesetzt und die grundgesetzlich garantierte körperliche Unversehrtheit der Bürger eingeschränkt werden. Gegenüber den Ländern sollen Einzelweisungen erteilt werden können, die „zur Sicherung der öffentlichen Gesundheit der Bundesrepublik Deutschland dringend geboten sind“. Zum Zwecke der Nachverfolgung von Kontaktpersonen von erkrankten Personen konnten im Ursprungsentwurf sogar technische Mittel eingesetzt werden. All das geschieht in der Notsituation der COVID19-Pandemie und soll vom Deutschen Bundestag und vom Bundesrat im Schnellverfahren verabschiedet werden.

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Doch gerade in Krisensituationen darf der Rechtsstaat durch die Demokratie nicht ausgehebelt werden. Historisch gibt es dafür genügend Beispiele, wie ursprünglich einmalige Eingriffe einen Dauerzustand etabliert haben. Wer garantiert uns, dass dies hier nicht auch der Fall ist? Die gesetzlichen Änderungen sind nicht einmal befristet. Eine parlamentarische Kontrolle ist weder im laufenden Prozess noch im Nachhinein vorgesehen, lediglich ein Bericht über „Vorschläge zur gesetzlichen, infrastrukturellen und personellen Stärkung des Robert-Koch-Instituts sowie gegebenenfalls zusätzlicher Behörden“ sind in einem Bericht an den Deutschen Bundestag bis zum 31. März 2021 vorzulegen.

Die Einschränkung des Grundrechtes der körperlichen Unversehrtheit hält wahrscheinlich einer verfassungsrechtlichen Überprüfung gar nicht stand. Wenn beispielsweise Pflegepersonal, Ärzte oder sogar Patienten gegen ihren Willen behandelt oder geimpft werden, mit Methoden oder Wirkstoffen, die bis dahin nicht ausreichend getestet und erprobt wurden, dann hat das Individualrecht der körperlichen Unversehrtheit seine Wirkung verloren. Menschen sind keine Testobjekte, die gegen ihren Willen zu einem höheren Ziel geführt werden dürfen.

Kein Zweifel: die derzeitige Pandemie erfordert entschlossenes Handeln, denn es geht um Menschenleben. Doch es muss immer auch um Menschenwürde gehen, das wussten schon die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes. Die wichtigsten Garanten dieser Menschenwürde sind individuelle Freiheit und Selbstbestimmung. Der Entwurf des Infektionsschutzgesetzes trägt diesem Aspekt zu wenig Rechnung. Es ist nicht verhältnismäßig, die Freiheit einzuschränken, um einem „höheren Ziel“ zu erreichen. In dieser Zeit sind parlamentarische Kontrolle und der Rechtsstaat wichtiger denn je. Wie schon Dahrendorf in jenem Interview sagte: „ich bin nach wie vor der Meinung, und vielleicht verschärft der Meinung, daß eine Welt, in der nur Zwang und Anreize menschliches Verhalten regieren, keine Welt ist, in der man gerne leben möchte.“

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Kommentare ( 30 )

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Coco Perdido
4 Jahre her

@„Wer die Freiheit einzuschränken beginnt, hat sie aufgegeben und verloren.“

Die Angst, dass eine Maßnahme für einen bestimmten Zweck mit dem Beginn eines allgemeinen und ausufernden Trends gleichzusetzen ist, ist nicht nur extremistisch, gleichmacherisch und paranoid sondern vor allem auch nicht liberal-ergebnisoffen, weil er damit eine bestimmte Art von Lösungsoptionen für jeden einzelnen Fall systematisch ausschließt, obwohl darunter die optimale Lösung sein kann.

Oneiroi
4 Jahre her

Der Rechtstaat ist schon vor langer Zeit untergegangen. Nur wird das momentan von Jahr zu Jahr immer mehr Menschen klar. Defakto gibt es bereits ein Mehrklassenrecht, dass je nach Situation komplett unterschiedlich angewendet wird.

bkkopp
4 Jahre her

Gerüchteweise konnte man hören, dass der FDP mit einem Ausschluss aus Koalitionsregierungen in Bundesländern gedroht wurde, wenn sie nicht Kemmerich zum Rücktritt bewegt. War eine solche Drohung justitiable Nötigung ? Warum hat die FDP nicht geklagt ? Von Politikern wird der Rechtsstaat nur verteidigt wenn sie auch alle Normenkontroll- und Verfassungsklage-Möglichkeiten voll ausschöpfen.

Maja Schneider
4 Jahre her

Führende Verfassungsrechtler wurden und werden nicht müde, auf die drohende, teilweise schon erfolgte Erosion unseres Rechtsstaates hinzuweisen, es hat kaum jemanden interessiert, ganz im Gegenteil. Nun kommt Corona als willkommenes Vehikel für Machterhalt und Machtausbau auf Kosten der Bürger und ganz im Sinne Merkels und ihrer links-grünen Gefolgschaft.

Dreiklang
4 Jahre her

Der Rechtstaat ging nicht erst 2015, sondern schon 2010 unter, mit „Eurorettung“ und 2011 mit „Fukushima“ aka „Energiewende“. Die FDP hat bei beiden mitgemacht, Herr Schäffler! 2015 war dann die logische Folge, nur nicht mehr mit der FDP. „Corona“ ist eine ganz andere Baustelle. Bei „Corona“ geht es um verzweifelte Maßnahmen, um einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems abzuwenden.

Vulkan
4 Jahre her

Bärbel Bohley hat es geahnt. Sie sagte: „… die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen.“ Nachzulesen hier: https://www.achgut.com/artikel/baerbel_bohley_die_frau_die_es_voraussah

Genco Steins
4 Jahre her

(IfSG, §28): „Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 Grundgesetz) werden insoweit eingeschränkt.“
Ein untergeordnetes Gesetz will ein höheres „verfassungsmäßiges Recht“ aushebeln?! Lächerlich!
Die gesamte Bevölkerung als „Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider“ anzusehen ist ebenfalls mehr als fragwürdig.

herbert b.
4 Jahre her

Daß diese Krisenlage von einer total inkompetenten und diffus
„handelnden“ Politikerkaste bis zum Gehtnichtmehr mißbraucht
wird, darf nicht überraschen. Die machen jetzt schnell noch einen
auf Schiller: Hier vollend ich’s, die Gelegenheit ist günstig. Man kann
längst die allzu vielen und allzu großen Lücken in den Regalen der Verbrauchermärkte als ein Abbild dieses Personals interpretieren…
als deren Spiegelbild sozusagen. Aber nicht den Mut verlieren, denn
reichlich vorhanden, d.h. ohne Lieferschwierigkeiten, sind dagegen
nach wie vor Artikel wie Täuschen, Tricksen, Bauernfängerei.

sponk07
4 Jahre her

Das ist selbstverständlich alles sehr richtig, Herr Schäffler, leider weiß das die Leserschaft von Tichy schon längst. Wenden Sie sich bitte an einen Bundestagsabgeordnteten Ihrer Wahl, vielleicht einer liberalen (hüstel) Partei? Ich bin schon ganz gespannt auf den beinharten Widerstand!

Altchemnitzer
4 Jahre her

Ach, keine Sorge um den Rechtsstaat, jener alter Prägung ist schon lange tot, mausetot. Der heutige ist schon noch ein Rechtsstaat, irgendwie, der Bürger kann immer noch alle Verwaltungsentscheidungen gerichtlich überprüfen lassen. Was ihm das nützt, gar nichts, selbst das BVG gibt liebend gern an den EuGh ab. Urteil irgendwann und wertlos.