Die politische Maxime lautet: Nach uns die Sintflut!

Regierung und Opposition pflegen die kollektive Verdrängung der säkularen Probleme des Landes. Stattdessen übt man sich in Koalitions- und Personalvisionen.

Als ein sozialdemokratischer Kanzler vor 17 Jahren seine Agenda 2010-Reformstrategie mit einer mutigen Rede im Deutschen Bundestag startete, war der vorpolitische Raum, also Medien und Parteien, bereits einige Jahre stark von der Sorge beherrscht, wie der demografische Wandel, der ab den zwanziger Jahren die Herausforderung schlechthin für die Sozialversicherungen, ja den gesamten Sozialstaat darstellen würde, gestaltet werden könnte. Die Arbeitsmarktreformen (Hartz IV) waren ein wichtiger Baustein auf diesem Reformweg, deren Erfolge sich in dem Beschäftigungswunder der Jahre 2006 bis 2019 niederschlugen. Die stufenweise Erhöhung des Renteneintrittsalters im Jahr 2006, dann schon in der ersten Merkel-Koalition mit der SPD, war nochmals ein zwar umstrittener, aber objektiv mehr als notwendiger Reformschritt eines sozialdemokratischen Akteurs: Franz Müntefering setzte das vor allem durch. Doch danach war Schluss mit einer Politik, die auf die objektive Problemlage vorsorgend reagierte. Stattdessen wurde rückabgewickelt – mit allen negativen Folgen für die nachhaltige Finanzierung des Sozialstaats. Dabei weiß jeder verantwortungsvolle Politiker, dass zu späte Reformen immer umso brutaler ausfallen müssen.

Heute, in der Corona-Rezession, spielt finanzpolitische Vorsorge überhaupt keine Rolle mehr. Eine unsinnige Grundrente, die Armut nicht wirksam bekämpft, sondern eherne Grundprinzipien der Rente außer Kraft setzt und kapitale Ungerechtigkeiten mit sich bringt, wird im Schweinsgalopp vor der parlamentarischen Sommerpause verabschiedet. Ein leibhaftiger sozialdemokratischer Bundesfinanzminister markiert mit seinen neuen dreistelligen Milliarden-Krediten in Comic-Manier das große „Wumms“. Ein christdemokratischer Wirtschaftsminister rettet jeden Arbeitsplatz, als ob sich eine von der Politik stellgelegte Wirtschaft vom Staat wieder aufbauen ließe wie eine Spielzeugeisenbahn. In der Rentenpolitik, in der Beamtenversorgung und im Gesundheitssystem wird agiert, als ob es keine demografisch bedingte Alterung gäbe, die unseren üppigen Sozialstaat in den Abgrund zu führen droht. Soviel Wertschöpfung kann die schrumpfende aktive Erwerbsgeneration überhaupt nicht erwirtschaften, als dass man die immer größer werdenden Ruhestandskohorten weiter so bedienen könnte wie bisher. Denn die steigenden Steuer- und Abgabequoten werden für die junge Generation eine nahezu erdrosselnde Wirkung entfalten. Die teure Energiewende mit ihrem Einspeisevorrang für volatile Energieträger war für die Politik nicht Mahnung, sondern politischer Fehlanreiz, möglichst bald und teuer auch aus der Kohleverstromung auszusteigen. Dafür importiert Deutschland in der Dunkelflaute Atomstrom aus Frankreich und Kohlestrom aus Polen. Ein Irrwitz!

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Obwohl die Corona-Pandemie das globale Wachstum – pro Kopf gerechnet – stärker einbrechen lässt als nach der Großen Depression im Jahr 1930, basteln Regierungs- und Oppositionsparteien an Wahlprogrammen für das kommende Bundestagswahljahr, die so gut wie alle demografischen und ökonomischen Risiken ausblenden. Denn ansonsten kann man dem Volk glaubwürdig keine neuen Wohlfahrtleistungen offerieren, nach denen die Wähler leider nur zu oft auch selbst gieren. Die Corona-Rezession ist mitnichten ausgestanden, eine zweite Infektionswelle wird nicht nur Kalifornien, Texas oder Israel heimsuchen. Deshalb verstummen auch immer mehr Gutgläubige, die sich noch vor wenigen Monaten eine V-förmige Erholung nach dem Absturz des Lockdown versprochen haben.

Hauptsorge des politischen Establishments ist derzeit, wie man möglichst von der objektiven Problemlage unbeschadet bis zum September 2021 kommt. Weder Regierungs- noch Oppositionsparteien wollen den Wählern vor der Bundestagswahl die Zeche präsentieren, die für ihre verantwortungslose Politik fällig sein wird. „Nach uns die Sintflut!“ nannte man eine solche Politik in früheren Zeiten. Stattdessen wird im politischen Berlin und in den Leitmedien lieber über die Kanzlerkandidaten oder die Koalitionsoptionen spekuliert, weil Personalfragen appetitlicher zu präsentieren sind als fundamentale wirtschaftliche und soziale Veränderungen. Wenn Friedrich Merz im Spiegel-Interview seine Grünen Seiten entdeckt, garantiert ihm das mediale Aufmerksamkeit. Dass eine deutsche Bundeskanzlerin mit einem bayerischen Ministerpräsidenten in der Kutsche vorfährt oder ein nordrhein-westfälischer Regierungschef mit dem französischen Präsidenten diniert, erfährt in den Medien jedenfalls mehr Aufmerksamkeit als die Tatsache, dass drei deutsche Autobauer – Volkswagen, Daimler und BMW – im Verschuldungsranking der größten 900 globalen Unternehmen inzwischen die Plätze 1, 3 und 8 belegen. Und der „Wumms“-Finanzminister wird plötzlich sogar von seinem lieben Parteivorsitzenden-Duo in Interviews für kanzlerkandidatentauglich gehalten. Wenn das keine Nachricht wert ist!

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Kommentare ( 73 )

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retard
3 Jahre her

Eines der letzten Boards hier auf welchen reflektiert, gedacht und berichtet wird.

Nennt es nicht Corona-Rezession. Wir gehen dem gesamten gegaukel dieser Maschinerie welche im Gange ist auf dem Leim.
Corona ist der Tropfen auf dem heißen Stein und wird gemolken für jegliche Agenden jeglicher Organe.

Worte werden Wahrheit. Und die derzeitige mehr Kollektive Wahrheit hat sehr viele Lücken und Subtext.

Der Ketzer
3 Jahre her

„Die Arbeitsmarktreformen (Hartz IV) waren ein wichtiger Baustein auf diesem Reformweg, deren Erfolge sich in dem Beschäftigungswunder der Jahre 2006 bis 2019 niederschlugen.“ Diie Richtigkeit dieser Aussage bezweife ich sehr. Was haben diese Reformen denn gebracht? Repressionen, die einen Zwang erzeugten, sich unter Wert zu verkaufen, mit der Folge der Bildung eines ausgeprägten Niedriglohnsektors. Hinzu kommen Leiharbeit und Werkverträge (siehe Tönnies), die jetzt ausgerechnet die Spezialdemokraten und Grüne bejammern. Die Zahl derjenigen, die schon länger hier leben, hat doch längst deutlich abgenommen und die bislang angeblich so niedrigen Arbeitslosenzahlen waren nur deshalb so niedrig, weil die Millionen Zugewanderten noch keine… Mehr

Stephan M. Schulz
3 Jahre her

Dieses System funktioniert nur deshalb, weil der Großteil der Deutschen absolut unkritisch und damit fürchterlich dumm ist. Das bereitet mir schlaflose Nächte !

Maja Schneider
3 Jahre her

Corona, dieses Geschenk des Himmels für die Regierung, wird vermutlich bis zur Wahl 2021 weiter instrumentalisiert, so lässt sich wunderbar ablenken von den fundamentalen, hier geschilderten und von der Politelite selbst verursachten Problemen und die Bevölkerung weiter in Panik und vor allem gefügig halten, um möglichst viele Schritte zum Umbau der Gesellschaft zu erreichen. Die AfD wird weiter unter Dauerbeschuss stehen mit der Absicht, sie möglichst verbieten zu lassen, und dann könnte der angestrebte Weg mit Schwarz/Grün geebnet sein, eine nicht gerade beruhigende Vorstellung.

Manfred_Hbg
3 Jahre her
Antworten an  Maja Schneider

Zitat: Corona, dieses Geschenk des Himmels für die Regierung, wird vermutlich bis zur Wahl 2021 weiter instrumentalisiert, so lässt sich wunderbar ablenken von…..“ > Richtig! Und die -ehemalige und angesehene- sog. 4.Macht im Staat – welche heute Regierungs-, Relotius- und Lückenmedien ganannt werden, spielt das politische Versagerspiel auf breiter Linie mit. Oh man(n), was bin ich froh das ich heute keine 20 oder 30 Jahre mehr bin, sondern mittlerweile ü60 und vllt nur noch 15-20 Jahre zu leben habe. Ich hoffe inständig, dass die heute kleinen Kinder und die nun Geborenen später in 20-30 Jahre ihre eigenen Eltern fragen UND… Mehr

moorwald
3 Jahre her

Es klingt paradox: aber die anstehenden Probleme sind so riesig, daß sie das Vorstellungsvermögen des normalen Bürgers überfordern. Wenn man dicht vor einem hohen Berg steht, nimmt man dessen ganze Höhe nicht wahr.
Außerdem sind die Probleme nicht unmittelbar verständlich, sondern bedürfen der Erläuterung. Und die meisten Leute sind vollauf mit der Bewältigung ihres Alltags beschäftigt. Dazu ein bißchen Fernsehen, ein paar alberne Talkshows – eine große Realitätsflucht und -blindheit ermöglicht den Herrschenden erst ihr zerstörerisches, verantwortungsloses Tun.
Wer möchte schon glauben, die Regierung hinterlasse keine Wohltaten oder ein geordnetes Haus, sondern unvorstellbare Lasten und Zerfall?

Gerro Medicus
3 Jahre her

Zitat: „Weder Regierungs- noch Oppositionsparteien wollen den Wählern vor der Bundestagswahl die Zeche präsentieren, die für ihre verantwortungslose Politik fällig sein wird.“ Oppositionsparteien? Wen meinen Sie? Es gibt nur EINE wirkliche Oppositionspartei im Bundestag, und das ist die AfD. Und die legt sehr wohl den Finger in die Wunden einer verantwortungs- und skrupellosen Regierungspolitik, die auch jene Parteien mittragen, die nicht in der Regierung sind, die AfD natürlich ausgenommen. Angesichts Ihre politischen Vita, Herr Metzger, verstehe ich natürlich Ihre Sichtweise. Sie ist ja in Teilen auch nicht falsch, aber eben auch nicht ganz richtig. Sie selbst sind oder waren doch… Mehr

DELO
3 Jahre her

Als wir vor rund 50 Jahren in studentischen Fachzirkeln die damalige „Steuer- und Regelungstechnik“ diskutierten – also die heutige Automatisierungstechnik, die durch das Idiotenwort „Digitalisierung“ mehr oder weniger verschleiert werden soll – machten wir uns Sorgen, was wohl aus den vielen Menschen werden sollte, die durch die Automatisierung „freigesetzt“ werden würden. Hätten wir damals den „demographischen Wandel“ gekannt, wäre große Erleichterung aufgekommen. Heute ist bei diesem Wort das Gegenteil der Fall, obwohl im großen Stil automatisiert wurde.Was beweist uns das? Wir haben eben nicht das Produktionsniveau auf einen so hohen Wert gebracht, das sich die Menschheit darauf „ausruhen“ kann, sondern… Mehr

RauerMan
3 Jahre her

„Schönreden“ ist die Devise.
Und das mindestens bis zur Bundestagswahl 2021 um wiedergewählt zu werden, unkritischnund den tatsächlichen Sachstand überspielend.

Koste es was es wolle, gemäß dem damit erfolgreich operierenden Herrn Draghi, kopierend.

Wer und wieviel und wofür zu zahlen hat, kommt nach den Wahlen.

Schuld ist natürlich Korona, das steht doch außer Frage.
Andere die Schuldenmacherei erst herbeigeführte „Urgründe“ werden (wenns geht) dem
Volke als unbedeutend und als nicht zu verhindert gewesene Kollateralschäden verkauft.

Manche glauben das auch.

Hoffnungslos
3 Jahre her

Warum wird der demographische Wandel als so dramatisch hingestellt? Wir leben in einer Zeit des technologischen Wandels, der weniger Arbeitsplätze bringen wird. Weniger Menschen brauchen weniger Arbeitsplätze. Mehr Innovationen, mehr Qualität, bessere Ausbildung, usw. wären möglich. Das ist offensichtlich nicht gewünscht. Wir erleben technologische Rückständigkeit und dafür den massenhaften Import von Menschen aus archaischen Kulturräumen, denen mehrheitlich jede Ausbildung fehlt. Viele werden keine Chancen auf einen regulären Arbeitsplatz in unserem Land haben. Dafür wird das Aggressionspotential in der bunten, multikulturellen Bevölkerung drastisch ansteigen. Offensichtlich sind die Deutschen zu friedlich geworden.

Gerro Medicus
3 Jahre her
Antworten an  Hoffnungslos

Der demografische Wandel? Darf ich mal darauf hinweisen, dass seit Einführung der Straffreiheit von Abtreibungen, die zu 90% soziale Gründe hatten, jedes Jahr im Durchschnitt 110.000 Kinder nicht das Licht der Welt erblicken durften? Staatlich sanktionierter MORD! Insgesamt sind das seit 1976 also 44 x 110000 x 0,9 = 4,356.000 Deutsche, die heute alle im Alter zwischen 0 und 44 Jahre alt wären und die Demografie wesentlich positiv beeinflusst hätten! Wer hat diesen organisierten Kindermord legalisiert? Es war die SPD zusammen mit der FDP! Während wir heute im Durchschnitt für jeden Migranten, den wir wegen der Demografie angeblich brauchen, im… Mehr

feinbein
3 Jahre her
Antworten an  Hoffnungslos

ich hätte mich über ein Deutschland gefreut, daß bis 2030 vielleicht auf 78 oder weniger Millionen geschrumpft wäre. dies hätte sicher zu Schwierigkeiten geführt.Aber jetzt werden wir wohl bis 2030 85 oder gar mehr Millionen Hierlebende haben.Dies führt jetzt schon zu erheblich mehr Problemen, die ganz sicher nicht abnehmen und ganz im Gegenteil zu einem Land führen werden, in dem ich ganz sicher nicht mehr gut und gerne leben werde und das nichts mehr mit Deutschland nach meinem Verständnis zu tun hat!!!

Thorsten
3 Jahre her

Die Rentenalteranhebung sind ein RIESIGER BETRUG, der zu massiven Umverteilungen in Europa zulasten der deutschen Bürger führt.

Während in zb Frankreich schon mit 57 in Rente gegangen wird, sollen wir 10 Jahre länger schuften. Kein Wunder, dass damit die deutschen Staatskassen so proppevoll sind, das sie Begehrlichkeiten wecken.

Ein einheitliches Rentenalter in Europa würde die Sozialinanzen offen legen und die Mär vom reichen Deutschland beenden.

Der Ketzer
3 Jahre her
Antworten an  Thorsten

Irgendjemand muss die Party ja bezahlen und die Mehrheit der Deutschen (geschätzt über 87%) fühlen sich gut dabei.