Die Geimpften als neues „Wir“ und die Ungeimpften als die „Anderen“

Was derzeit mit der neuen Zweiteilung der Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte passiert, sollte vielen Kulturwissenschaftlern eigentlich bekannt vorkommen. Es ist das, was sie als „Othering“ in der Geschichte sonst beklagen und revidieren wollen, in reinster und übelster Form.

Laut gängiger und dominanter kulturwissenschaftlicher Theorie ist „Othering“, also die Konstruktion des „Anderen“, so etwas wie der Ursprung alles Bösen, was es angeblich durch antidiskriminierende Maßnahmen zu überwinden gilt. So hätten die Europäer im 19. Jahrhundert etwa durch ein Zerrbild des Orientalen sich selbst hervorgehoben und die Bewohner des Orients herabgewürdigt, wie Edward Said in seinem berühmten Buch „Orientalism“ behauptet. Dieses Muster, so die Theorie, ist auf zahlreiche andere Felder zu übertragen. Die betonte Unterscheidung und Distanzierung von „den Anderen“ könne man in Geschichte und Gegenwart beobachten mit Bezug auf das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, die Religions­zugehörigkeit, die ethnische Zugehörigkeit, die Nationalität, die soziale Stellung innerhalb einer Gesellschaft und (vermeintliche) biologische Unterscheidungskriterien zwischen Menschen. Ein typisches, viel gelobtes Buch aus dieser Schule war zum Beispiel „Europa erfindet die Zigeuner“ von Klaus-Michael Bogdal. Eng verwandt mit der Othering-Theorie ist auch das Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ und der „sozialen Desintegration“, mit dem Wilhelm Heitmeyer große nicht nur akademische, sondern auch politische Durchschlagskraft erreicht hat.

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Edward Saids „Orientalism“ ist längst selbst als wenig faktenbasiertes Konstrukt entlarvt worden, und auch ähnliche Thesen wie die von Benedict Anderson („Die Erfindung der Nation“) sind in ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit höchst zweifelhaft. Nicht jede Nation und überhaupt jedes „Wir“ ist allein eine Konstruktion von mächtigen Interessen durch Stigmatisierung und Herabsetzung der „Anderen“, die nicht dazu gehören. Aber manchmal funktioniert die soziale Wirklichkeit zweifellos wirklich nach diesem Muster.

Umso interessanter ist das laute Schweigen der Othering-Experten in den Universitäten und anderen Hochburgen des Geistes angesichts des ganz gegenwärtigen Beispiels von Othering, das nun live in den Medien und im Alltag mitzuerleben ist, zum Beispiel in der letzten Talkshow „Hart aber Fair“. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat es geradezu mustergültig ausformuliert: „Die Einen haben sich sehr vernünftig verhalten und müssen sich keine Vorwürfe machen, und die Anderen tun so, als wenn diese Pandemie nichts mit ihnen zu tun hätte!“ Da müsste heute eigentlich ein Aufschrei durch die Gänge der kulturwissenschaftlichen Seminare schallen: Ausgerechnet ein Sozialdemokrat redet der Ausgrenzung von „Anderen“ das Wort. Nichts dergleichen geschieht. Stattdessen empört sich die Twitter-Gemeinde über die Chefredakteurin des Philosophie-Magazins, Svenja Flaßpöhler, die als einzige nicht in den Empörungschor über die Ungeimpften einstimmte, also sich dem Othering-Ritual verweigerte. Als Argument genügt in der Corona-Twitter-Ära der „Schwurbel“-Vorwurf und ein wenig Beifall von denen, die schon erfolgreich als ganz und gar „Andere“ markiert sind (Querdenker zum Beispiel).

Ein paar kurze Jahrzehnte lang schien es so, als ob in aufgeklärten, freiheitlichen, rechtsstaatlich organisierten Gesellschaften die strenge Unterscheidung in „Wir“ und „die Anderen“ aufgeweicht sei oder sich sogar ganz überwinden ließe durch das, was Jürgen Habermas „herrschaftsfreien Diskurs“ nennt. Davon ist wenig übrig geblieben in Corona-Zeiten. Habermas selbst als Altvater des Juste Milieus hat klar gemacht, dass diejenigen, die der „Bekämpfung der Pandemie“ vermeintlich im Weg stehen, sich auf ihr Recht, am Diskurs teilzuhaben, nicht mehr berufen können. Und so ist aus seinem angeblich herrschaftsfreien Diskurs der billige Vorwurf des „Geschwurbels“ geworden, der jedes eigene konsistente Argument unnötig macht. Und im Zweifelsfall findet der Diskurs einfach nicht statt. Jemanden wie Flaßpöhler überhaupt einzuladen, so ein auf Twitter vielfach geäußerter Vorwurf, sei „false Balance“. Den Vorwurf kennt man aus der Klima-Debatte: Weil die Meinung des Anderen einfach zu randständig sei, verdiene sie kein öffentliches Forum. Das ist konsequentes „Othering“ – der Andere ist einfach zu anders, als dass ein Gespräch zumutbar wäre.

Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet jene Kräfte, die sich der Emanzipation und Integration der Ausgeschlossenen und Diskriminierten verschrieben haben, nun angesichts ihrer eigenen Vorherrschaft selbst praktizieren, was sie den zu überwindenden Herrschaftsformen anlasten.


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Kommentare ( 141 )

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141 Comments
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Emmanuel Precht
2 Jahre her

Der reine Stamm der Geimpften. Der neue Arier-Pass, das Impfbuch und die menschenverachtende Gruppenbezogenheit feiert Urständ in neuem Kleid. Nichts außer den Erscheinungen ändert sich. Die Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger zum Oberarm ist der neue Gruß, gerufen wird „Bleib gesund“. Wohlan…

reconquistadenuevo
2 Jahre her

Ich habe den Artikel an Freunde weitergeleitet mit den Worten: „ Super Artikel, vor allem aber die zahlreichen Kommentare ! Diskurs und Argumente auf höchstem Niveau. Unbedingt sich die Zeit nehmen, alles zu lesen“.
Danke Tichy ! (Soeben mal wieder kleine Spende überwiesen

Poetenfan
2 Jahre her

Der offenbar wegen meines Kommentars in Rage sich befindenden Community der Impfgegner, Querdenker und all derer, die immer noch nicht die Realitäten bereit sind zu akzeptieren, die immer noch Zahlen relativieren und Ausflüchte für ihre Entscheidung gegen die Impfung finden, meine Antwort: NurEinPhilosoph z.B.schreibt einfach nur Unsinn, arbeitet mit Unterstellungen und Verschwörungsmustern!! Hier nochmals Fakten: https://www.n-tv.de/wissen/Ungeimpfte-infizieren-sich-oefter-und-folgenschwerer-article22935569.html „20 Prozent der erwachsenen Deutschen wollen sich nicht impfen lassen. Das sind 15 Millionen Menschen. Jeder Fünfte Deutsche bezeichnet seine offenkundige Unvernunft als Freiheit. Es wird Zeit, den Missbrauch der Freiheit zu unterbinden.“ Diesem Kommentar von Ulrich Reitz kann ich mich nur voll anschließen!… Mehr

Julischka
2 Jahre her
Antworten an  Poetenfan

Sie werfen uns vor Ihre Meinung und Einstellung nicht zu akzeptieren, machen im selben Atemzug dann genau das Gleiche! Dabei zwingen wir Sie zu nichts, Sie uns schon! Wir sind alle gut informiert, darauf können Sie sich verlassen, deshalb haben wir ja berechtigte Zweifel! Schon allein daß Sie von „Impfgegnern“ schreiben zeigt, daß Sie nichts verstanden haben! Aber egal, es macht keinen Sinn mehr zu diskutieren, ich brauche meine Kraft für meine Kinder, denen und nicht nur meinen geht es nämlich garnicht gut. Die Psychologen können sich nicht mehr retten vor lauter Anfragen, die Triage findet schon lange statt. Junge… Mehr

Physis
2 Jahre her
Antworten an  Poetenfan

Warum sind Sie so wütend auf Leute, die ganz offensichtlich gesund sind? Da ich davon ausgehe, dass Sie bereits geimpft sind, müssen Sie doch keine Ängste mehr ausstehen, oder? Ich bin nicht geimpft und kann Ihnen also gar nicht zu nahe kommen! Warum also dieser Groll? Arbeiten Sie als Pfleger? Sind Sie als vermutlich Geimpfter etwa irgendwelchen Repressalien ausgesetzt? Ach so, Sie haben etwas gegen Dickköpfe. Ich will Ihnen etwas gestehen: Wären diese sog. Impfstoffe seit Jahren erprobt, hätte ich keinen Moment gezögert, mich impfen zu lassen. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass bereits e i n Mensch, der… Mehr

CIVIS
2 Jahre her

Es wird nicht mehr allzu lange dauern, dann wird es bald heißen

  • Die Geimpften als neue „Kranke“

und

  • die Ungeimpften als die „Gesunden“

Man schaue sich an, was diese Gentherapie bisher bewirkt bzw. nicht bewirkt hat:

  • keine eigene Immunisierung
  • weiterhin Infizierung von anderen
  • kontinuierlich steigende Tendenz an sog. Impfdurchbrüchen und an extrem gefährlichen Folge- u. Nebenwirkungen

Fazit: Diese Gentherapie ist nicht nur nutz- und wirkungslos, sondern im Gegenteil extrem toxisch und damit lebensgefährlich !

dodge
2 Jahre her

Martin Renner (von der einzigen , sich dem C 19 Othering entgegenstemmenden Partei) umschrieb Habermas Ansatz mit dem sinngemäßen Satz : „In Wahrheit wollten Sie doch gar nicht den herrschaftsfreien Diskurs , sondern die diskursfreie Herrschaft“

Georg J
2 Jahre her

Wenn bei einer „Inzidenz von 300“, 300 von 100.000 Menschen positiv auf das Corona-Virus getestet werden, sind das 0,3% „Testpositive“, nicht Erkrankte, nicht einmal Infizierte. Und wo ist das Problem bei einer „Infection Fatality Rate“ bei SarsCov2 von 0,15%? Es gibt kein reales Problem, nur ein künstlich inszeniertes.

Last edited 2 Jahre her by Georg J
Karl Schmidt
2 Jahre her

Ich wundere mich immer wieder über die Verwechslung von Narrativ und Motiv: Linke wollen keine diskriminierungsfreie Gesellschaft. Das wollten sie nie. Das ist nur ein Narrativ. Sie wollen selbst die Macht haben, andere zu diskriminieren. Die hatten sie aber nicht. Um in diese Position zu gelangen, haben sie – unter Berufung auf das Narrativ – für sich Teilhabe verlangt (und erhalten). Nun sind sie in der Position, diese Macht auszuüben zu können und das Narrativ fallen zu lassen. Doch Sie glauben immer noch an das Narrativ als politische Absicht. Wo bleibt da das Verständnis für politische Vorgänge?

Mikmi
2 Jahre her

Da werden gefälschte Impfausweise sich besorgt, nur um die gleichen Rechte zu genießen, anderen wird Sicherheit vorgegaukelt!
Fahre ich mit einem gefälschten Führerschein, nur um das Vergnügen anderer Autofahrer zu genießen?
Mit beiden kann ich Menschen schaden oder sogar töten.

AnSi
2 Jahre her
Antworten an  Mikmi

Mmh, aber Ihr Argument greift ja nur, wenn eine Impfung schützt. Diese Impfung gibt Ihnen ja keinerlei Sicherheit. Sie können Menschen auch trotz Impfung schaden und töten. Insofern ist IHR Stempel genau so wertlos wie der Gefälschte.

Last edited 2 Jahre her by AnSi
Physis
2 Jahre her
Antworten an  Mikmi

Wissen Sie, mittlerweile habe ich gar nicht mehr das starke Verlangen, mein Vergnügen mit solchen Leuten wie Ihnen zu teilen.
Und da Geimpften nunmal nicht auf der Stirn geschrieben steht, dass sie nichts gegen nicht Geimpfte haben, fällt es mir eher leicht, nur noch notwendige Kontakte zu pflegen.

Mikmi
2 Jahre her
Antworten an  Physis

Perfekt, so mache ich es auch.
Nur ich halte nicht den Mund, wenn einer/eine im Supermarkt mir an den Hintern klebt, nur weil sie/er es eilig hat.

Rob Roy
2 Jahre her

Karneval in Köln … erst haben die Jecken ganz großmäulig Ungeimpften draußen haben wollen … und jetzt kommen die Gesundheitsämter dort mit den Nachverfolgung der Infizierten nicht mehr hinterher. Genau mein Humor.
Für die Kölner Superspreader-Party kann man nicht die Unimpften verantwortlich machen. Überhaupt wird sich das Infektionsgeschehen auch immer weiter bei den Geimpften ausbreiten. Denn mit den Auffrischungsimpfungen kommt man ja nicht hinterher.
Dann hört auch endlich dieser populistische Schwachsinn von der „Pandemie der Ungeimpften“ auf.

Last edited 2 Jahre her by Rob Roy
holuschi
2 Jahre her

Wie schön für die Politiker und deren Getreuen in „Wissenschaft“ und Medien, dass es noch ein paar Ungeimpfte gibt, denen man das Versagen des „Impfstoffs“ und sämtlicher Maßnamen in die Schuhe schieben kann. Und die Gepieksten werden belohnt und dürfen sich endlich mal so richtig dikriminierungstechnisch austoben, Was macht man nur, wenn alle endlich zwangsgeimpft sind, die Impfplicht für alle wird schon diskutiert und kommen und auch von der Mehrheit begrüßt werden. Das zutiefst erschreckende ist, live ansehen zu müssen, wie dünn der Mantel der Zivilisation ist.