Zeitenwende in Belgien: Ausstieg aus der Kernenergie verschoben

Auch in Belgien läuft die Ausstiegsdebatte aus der Kernkraft seit mehr als 20 Jahren. Immer wieder wurde der bereits beschlossene Ausstieg verschoben. Und jetzt wieder: Zwei Kernkraftwerke sollen länger laufen als geplant.

IMAGO / Eibner
Kernkraftwerk Tihange in Belgien

Zehn Jahre länger als geplant sollen zwei Kernkraftwerke in Belgien laufen. Dies hat jetzt der belgische Premierminister Alexander De Croo nach weiteren Beratungen der Regierung bekannt gegeben. Vorgeschlagen hatte dies auch die Energieministerin von Belgien. Die ist grün.

Betroffen sind erst einmal die beiden Reaktorblöcke Doel 4 bei Antwerpen und Tihange 3 bei Lüttich, deren Laufzeit jetzt verlängert werden soll. Der Grund: Die belgische Regierung will das Land vor einem Energiemangel schützen. »Diese Verlängerung wird«, so De Croo, »die Unabhängigkeit unseres Landes von fossilen Brennstoffen in einem turbulenten geopolitischen Umfeld stärken.« In Belgien produzieren zwei Kernkraftwerke mit insgesamt sieben Reaktoren mehr als die Hälfte der Elektrizität.

Auch in Belgien läuft die Ausstiegsdebatte aus der Kernkraft seit mehr als 20 Jahren. 2003 wurde zwar ein grundsätzlicher Ausstieg beschlossen, jedoch immer wieder aufgrund der Kraft der Fakten nach hinten verschoben.

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Noch im Sommer des vergangenen Jahr wollte die grüne Energieministerin Tinne van der Straeten einen vollständigen Ausstieg aus der Kernkraft. Sie hatte erklärt, dass ein weiterer Betrieb von Tihange 2 nach 2023 nicht geplant sei. Sie vertrat übrigens, bevor sie Ministerin wurde, die Städteregion Aachen als Anwältin. Die klagte munter gegen den Reaktor Tihange 2 aus angeblichen Sicherheitsbedenken in Belgien.

Am vergangenen Mittwoch hatte van der Straeten einen neuen Plan vorgestellt, die Betriebsgenehmigungen um zehn Jahre zu verlängern. Ursprünglich hatten die belgischen Grünen ihre Beteiligung an De Croos Sieben-Parteien-Koalition davon abhängig gemacht, dass die Nutzung der Kernkraft in Belgien beendet werden muss, und die als kompetent geltende van der Straeten in die Regierung geschickt.

Gleichzeitig soll die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas sinken. Off-Shore-Windparks im Ärmelkanal sollen ausgeweitet werden. Die Mehrwertsteuer auf Solarzellen auf dem Dach wird gesenkt, und wer Fahrrad in Belgien fährt, soll weniger Steuern zahlen.

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Offenbar von der Kehrtwende überrascht wurde der französische Energiekonzern Engie. Der betreibt die Atomkraftwerke in Belgien. Die schaltet man nicht eben wie einen Laptop ein oder aus, Brennstäbe müssen weit voraus bestellt werden, jeder Schritt bedeutet einen Wust an Genehmigungen. Dazu gehören jahrelange Vorausmaßnahmen.

Das Unternehmen führte Sicherheitsbedenken wegen der kurzfristigen Entscheidung an. Insgesamt überstiegen „Unvorhersehbarkeit und Umfang“ dieser Entscheidung die normale Tätigkeit eines privaten Betreibers. Der Konzern fordere daher aktualisierte „angemessene Aufteilung der Risiken und Chancen“.

Jetzt soll laut De Croo mit Engie darüber verhandelt werden, wie die Kraftwerke weiterbetrieben werden sollen und was das kostet. Engie betont, man werde gemeinsam mit der belgischen Regierung »Machbarkeit und Umsetzungsbedingungen der in diesem Stadium in Betracht gezogenen Lösungen untersuchen«.

Zeitenwende also in Belgien: Dort wird die Kernkraft zur neuen Brückentechnologie. Erdgas gilt nicht mehr, seitdem Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine die gefährliche Abhängigkeit deutlich vor Augen geführt hat.

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Kommentare ( 22 )

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Endlich Frei
2 Jahre her

So sehr die Probleme der Kernkraft nicht zu leugnen sind, so sehr ist sie – angesichts des „Neins“ zu fossilen Energien – unentbehrlich, bis eine disruptive, völlig neue Art der Energieversorgung sicher gestellt wird. Die Kernfusion könnte diese Art der Technologie sei.

Waehler 21
2 Jahre her

In Deutschland undenkbar. Wir haben einen Wirtschaftsminister der gefühlt über das Wasser laufen kann und der sagt was richtig ist und falsch. Belgier sind eben dumm. Zugegeben ist diese Bewertung schlussgefolgert und das hat er nie so gesagt. Aber wer so etwas in Deutschland fordert ist dumm und ein Klimateufel obendrein. Also ein dummer Klimateufel. Deutschland hat ungefähr einen Anteil an dem CO2 Eintrag von >2%. Wenn wir also diese 2% nehmen und auf null reduzieren, ist das Heil nicht mehr fern und die Erde gerettet. Halleluja ! Ob diese 2 % aber ausreichen? In der Stringenz hatten wir das… Mehr

Waehler 21
2 Jahre her

Phrasen und unsubstantiierte Behauptungen, das ist das, was wir von diesen Leuten bekommen, die sich seit längeren Regierung nennen.
Nachprüfbare und nachvollziehbare Begründung? Fehlanzeige! Die Grünen Schaffen nicht nur die Atomkraft ab, Deutschland ab, nein auch die Demokratie. Denn in einer Demokratie rechtfertigt und vor allen Dingen belegt man seine Entscheidungen.
Ein Herr Altmaier,  der sich derart beim Strombedarf „verschätzt“ hat zu Beispiel. Das war keine einzelne Person die sich da verrechnet hat , sondern dieser „Rechenfehler“ war ein politischer Rechenfehler um den Ausstieg aus der Atomenergie zu rechtfertigen und sehr teure Tatsachen zu schaffen. Hammer !!!!!

Last edited 2 Jahre her by Waehler 21
Mausi
2 Jahre her

„Sicherheitsbedenken wegen der kurzfristigen Entscheidung“

Was im Klartext bedeutet, dass Internehmen Planungssicherheit benötigen, um Kosten auf sich zu nehmen.

Im übrigen, wie steht es denn nun wirklich mit der Machbarkeit, wenn die Atomkraftwerke mal eben so mit einer Laufzeitverlängerung beglückt wurden?

Denn Laufzeitverlüngerung bedeutet ja nicht, dass die Erlaubnis auch genutzt werden muss oder kann.

hoho
2 Jahre her

Sie glauben immer noch fest, dass Windräder eine Hilfe bei dem Stromversorgung sind.
Es ist genauso wie ich dachte – die Idioten entscheiden hin und her ohne Rücksicht darauf zu haben dass man solche Anlagen nicht einfach aus- und einschaltet, dass man sie auch nicht von heute auf Morgen bauen kann. Jetzt kriege ich echt Angst – am Ende sitzen wir alle in der Dunkelheit, ohne Versorgung und verstahlt noch dazu. Das ist doch toll.

Klaus Peter
2 Jahre her

Zwei Hinweise zum Beschluss der belgischen Regierung: Neben dem Zwang zur Vermeidung von Energieengpässen hat auch erheblicher politischer interner Druck innerhalb der Vivaldi-Koalition die Grünen zum Einlenken getrieben. Die liberale MR Walloniens hatte unverhohlen mit dem Ende der Regierung gedroht, übrigens im Widerspruch zu ihrem flämischen Pendant, die diesen allerdings im letzten Moment aufgeben hat. Die Verlängerung ist abhängig von der Bereitschaft des Betreibers Engie. Und von dem Preis, den Belgien bereit ist zu zahlen. Engie ist ein von der französischen EDF beherrschtes Unternehmen , das selbst kein grosses Interesse zeigt, den Betrieb fortzuführen, denn es schmälert erstens deren Gewinnerwartung,… Mehr

Holger Douglas
2 Jahre her
Antworten an  Klaus Peter

Vielen Dank für Ihre Ergänzung, ja die belgischen Verhältnisse in der Gewalt-Koalition sind schon sehr speziell …

Ruhrler
2 Jahre her

Und was meint unsere Umweltministerin dazu:
„Gerade in einer Krisenzeit wie dieser halte ich eine Laufzeitverlängerung aus Sicherheitsgründen für nicht vertretbar. Sie kann uns sogar verwundbarer machen.“
Merke: Ideologie schlägt Fakten, zumindest in Deutschland
https://ostbelgiendirekt.be/besorgnis-in-deutschland-atomausstieg-314412

Fritz Mueller
2 Jahre her

Habeck kriecht lieber nach Katar und bettelt um LNG, als dass er in Deutschland die KKW’s weiter betreiben lassen würde.
Nur, es gibt keine Anlandungsmöglichkeit von LNG in Deutschland. Als Trump den Aufbau von Flüssiggas Terminals in Deutschland gefordert hat, wurde er und sein „Fracking-Gas“ verschmäht. Genau von Denen, die jetzt LNG in großem Maßstab kaufen wollen.

Elki
2 Jahre her

Wenn man wie in Teilen Baden-Württembergs ohnehin nicht weit von den französischen AKW´s entlang des Rhein und auch andernorts in dem unmittelbaren Gefahrenbereich ausländischer AKW´s wohnt, abgesehen von ohnehin landesweit möglichen Folgen eines Unfalls, was in Gottes Namen ermächtigt eine Gruppe von Menschen, einem ganzen Land und seiner Bevölkerung die Grundlage zu entziehen.

GP
2 Jahre her

Als Belgier überrascht mich das nicht wirklich, hier tickt man anders als in Deutschland. Aus den 2 Reaktoren werden 4 bis 2025. Die Wallonischen Liberalen und die Flamische N-VA haben das schon gefordert (ich erspare ihnen die Erklärungen zur Belgischen Politik und deren Parteien, das versteht niemand….). Mehr war den Grünen aktuell nicht zuzumuten, da kommt aber noch was in Sachen Laufzeitverlangerung. Auch wenn die Aachener Grünen jetzt schon den Herkasper bekommen….