Ganztagsschule ist Entschulung von Schule und Verschulung von Freizeit

Wieder mal eine Bertelsmann-Studie – aber als Staatsbürger sollte man etwas gegen eine weitere Verstaatlichung, gegen ein weiteres „Outsourcing“ der Erziehung haben. Nein, Deutschland darf kein totaler Erziehungsstaat sein.

© Getty Images

Irgendetwas musste nicht gestimmt haben mit der Bertelsmann Stiftung. Ganze drei Wochen hat Deutschlands oberste Statistik- und Polit-Gouvernante doch tatsächlich keine „Studie“ unters Volk gebracht. Aber nun darf man beruhigt sein. Bertelsmann ist wieder da, diesmal mit einer „Studie“ zur Ganztagsschule. Getreu ihrem missionarischen Eifer, eine andere Republik herbeischreiben zu wollen, macht die „Stiftung“ erneut auf Bildung, diesmal auf „Ganztagsschule“.

Der Grundtenor der Bertelsmänner und ihres Hofschreibers, des linken Erziehungswissenschaftlers Klaus Klemm, ist einmal mehr: Deutschland fällt zurück, wenn es nicht mehr Ganztagsschulen kriegt. Bereits im Vorwort der „Studie“ mit dem Titel „Gute Ganztagsschule für alle“ heißt es: „Wenn wir unsere Ambition als Bildungsrepublik ernst nehmen und allen Kindern und Jugendlichen ganztägiges Lernen mit Blick auf eine größere Leistungsfähigkeit und Chancengerechtigkeit des Schulsystems ermöglichen wollen, dann braucht es eine neue Offensive für gute Ganztagsschulen in Deutschland.“ Alles für alle – allein darüber ließe sich in Zeiten einer Ersatzreligion des Egalitarismus trefflich streiten. Siehe Ehe für alle, (adoptierte) Kinder für alle, Abitur für alle …

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Aber zurück zur „Studie“: Auf fast 60 Seiten Zahlensalat lesen wir so gigantische Erkenntnisse wie die folgenden: „In Bayern besuchten im Schuljahr 2015/2016 16 Prozent aller Schüler Ganztagsschulen, in Hamburg dagegen 91,5 Prozent.“ Der deutsche Durchschnitt soll übrigens 39,3 Prozent sein. Aber was sagt das schon über die Qualität und den Anspruch eines Schulsystems? Nichts! Es gibt keinerlei Zusammenhang zwischen Bildungsqualität und Ganztagsschulquote. Nullkommanix Korrelation! Siehe Hamburg, das in Sachen Bildung nie zu den Spitzenreitern gehörte, und Bayern, das immer zu den Spitzenreitern gehört! Es gibt auch keinerlei Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Prosperität und Ganztagsrate, sonst könnte Bayern wirtschaftlich nicht bundesdeutscher Spitzenreiter sein.

Also geht es wohl doch um Ideologie – um einen Umbau der Gesellschaft und um eine totale Verstaatlichung von Erziehung. Ja, totale (!) Verstaatlichung von Erziehung, denn Bertelsmann will die Ganztagsschule „für alle“. Dumm nur, dass das nicht alle Eltern wollen. Der Bedarf an Ganztagsschule ist schlicht und einfach gesättigt. Es gibt Millionen von Eltern, die keine Ganztagsschule brauchen und wollen. Zwar tauchen immer wieder „Befragungen“ auf, denen zufolge 70 Prozent der Eltern mehr Ganztagsschulen wünschen, aber nur 28 Prozent angaben, ihr Kind mit Sicherheit in eine solche einschulen zu wollen.

Man hätte außerdem spätestens den Pisa-Studien entnehmen können, dass Ganztagsschule nicht mit besserer Schulleistung einhergeht. Schließlich gibt es international Länder, die Ganztagsschulländer sind, mit guten und mit schlechten Pisa-Rangplätzen. Eine Korrelation mit guten Schulleistungen wäre innerdeutsch etwa nur erkennbar, wenn Bayern mit seinem geringen Ganztagsschulanteil bei Pisa weit hinten und Berlin, Brandenburg oder Hamburg bei Pisa weit oben lägen.

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Im übrigen gab es anspruchsvolle Studien zur Ganztagsschule, deren Ergebnisse aber politisch weniger opportun waren. Studien waren das, auf die Bertelsmänner gar nicht erst eingehen. Nehmen wir die Studie „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG), erstellt vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), dem Deutschen Jugendinstitut (DJU), dem Institut für Schulentwicklungsforschung der Universität Dortmund (IFS) und der Universität Gießen. Zwischen 2005 und 2010 waren rund 300 Ganztagsschulen untersucht worden. Das Hauptergebnis der Studie lautet: Ganztagsschüler verbessern ihr Sozialverhalten, aber nicht ihre Leistungen. Wörtlich: „Unmittelbare Effekte auf die Entwicklung ihrer fachlichen Kompetenzen zeigten sich jedoch nicht.“ Bezeichnend ist zudem folgender Satz aus der Studie: „Auch für Jugendliche aus niedrigeren sozialen Schichten oder mit Migrationshintergrund lässt sich über vier Jahre hinweg kein Effekt der reinen Ganztagsschulteilnahme auf ihre Schulleistungen nachweisen – es liegt in dieser Hinsicht also kein kompensatorischer Effekt für bildungsbenachteiligte Schülergruppen vor.“ Selbst die Freude der Schüler am Besuch der Schule, so die Studie, ist mit der Ganztagsschule nicht gestiegen. Es blieb als vages Ergebnis nur, dass der Ganztagsbetrieb angeblich die soziale Entwicklung gefördert habe. Letzteres meinte man eruiert zu haben mit negativen Antworten der Schüler etwa auf folgende Fragen: „Ich habe … bei Klassenarbeiten erheblich gemogelt … den Unterricht erheblich gestört … einen Lehrer oder eine Lehrerin geärgert oder provoziert …“

Ja, selbst die Aussagen über angebliche Gewinne an sozialem Lernen müssen relativiert werden. Kerstin Rabenstein, Professorin an der Universität Göttingen, beobachtete, dass die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern in Ganztagsschulen anfälliger für Konflikte sind. Frau Rabenstein sagte das anlässlich einer Anhörung im Hessischen Landtag am 24. Juli 2015. Eingeladen war sie übrigens als Expertin der Fraktion „Die Linke“. Wörtlich: „In diesen informalisierten Umgangsweisen gibt es auch die etwas größer werdende Gefahr für Entgleisungen in den Sozialbeziehungen, dass, umgangssprachlich gesprochen, übergriffiges Handeln leichter zunehmen kann.“ Die Odenwaldschule lässt grüßen.

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Aber bedarf es eigentlich irgendwelcher Studien? Sagt nicht der gesunde Menschenverstand, dass Ganztagsschule gar nicht die große Lösung aller Schul- und Erziehungsprobleme sein kann? Der Journalist Rainer Stadler (Buchtitel „Vater Mutter Staat – Das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung. Wie Politik und Wirtschaft die Familien zerstören) stellt zu Recht fest: „Aus kühl kalkulierten ökonomischen Gründen“ würden Politik und Wirtschaft Kinderbetreuung und Ganztagsschule propagieren. Wer sich dem entgegenstelle, der werde in die Ecke derjenigen gedrängt, die etwas gegen Emanzipation und Förderung hätten.

„Schule total“ qua Ganztagsbetreuung schränkt jedenfalls das Spektrum kindlicher Erfahrungen ein. Nur Schule oder gar Schule total – das wäre eine drastische Verarmung der Entwicklungschancen unserer Kinder. Und als Staatsbürger sollte man etwas gegen eine weitere Verstaatlichung, gegen ein weiteres „Outsourcing“ der Erziehung haben. Nein, Deutschland darf kein totaler Erziehungsstaat sein.


Josef Kraus war Oberstudiendirektor, Präsident des deutschen Lehrerverbands, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und als „Titan der Bildungspolitik“ bezeichnet. Er hat Bestseller zu Bildungsthemen verfasst und sein jüngstes Werk Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt erhalten Sie in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop.

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Kommentare ( 27 )

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27 Comments
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Karl Renz
6 Jahre her

Mir waren die Lehrer und die Schule zuwider, und ich war am Nachmittag oft in der Bibliothek um zu stöbern und mir Bücher auszuleihen die mich interessierten. So war die Hälfte des Tages doch noch für Bildung gerettet.

Heiner Hummel
6 Jahre her

Es gibt kein intensiveres Lernen als das im sog. stillen Kämmerlein (ohne Begleitmusik btw). Die Zeit dafür wird durch die Ganztagesschule gestohlen. Der nächste zu befürchtende Schritt: Ein guter Nachmittagsunterricht muß her – Hausaufgaben braucht es nicht mehr. So lernt der Schüler zwar das verständnisvolle Zuhören, selber Machen aber wird er nie erlernen.

Kulturpessimistin
6 Jahre her

Für manche Kinder wäre eine Ganztagesschule die Hölle, für andere ein Gewinn. Die Wahlfreiheit muss gewährleistet! Wir sollten uns auf keinen Fall von der Pseudowissenschaftlichkeit sog. Studien von NGOs, hier Bertelsmannstiftung, beeindrucken lassen. Studien, bei denen man den Eindruck hat, dass schon vorneherein feststeht, was rauskommen soll und „nicht sein kann, was nicht sein darf“ – machen einfach nur manipulative Politik.

Hubert Paluch
6 Jahre her

Überall funktioniert es in den USA auch nicht mehr. Dort retten sich bürgerliche Eltern über eine exklusive Wohnadresse vor zuviel „Buntheit“. Das Problem ist die Heterogenität. US-amerikanische Eltern ziehen Schulen vor, in denen die meisten Kinder so ähnlich aussehen wie ihr eigenes.

Hubert Paluch
6 Jahre her

Eine Lösung auf kommunaler Ebene wäre die intensive Förderung von Schulen in freier Trägerschaft. Leider wird es Neugründern derzeit noch sehr schwer gemacht. Die AfD sollte sich dieses Themas auf Landesebene und in den Kommunen verstärkt annehmen, wird allerdings starken Gegenwind von den Egalitätsfanatikern bekommen.

Hubert Paluch
6 Jahre her

Danke Herr Kraus, dass sie immer und immer wieder die pseudowissenschaftlichen „Studien“ der Bertelsmänner fachgerecht zerlegen. Als Berater einer Ratsfraktion durfte ich kürzlich die Geschäftsführerin eines Vereins befragen, der Ganztagsbetreuung an Grundschulen organisiert. Sie ist gelernte Erzieherin und Mutter von drei Kindern. Ihr Kommentar zur „verpflichtenden Ganztagsschule“: „Es sind für die Kleinen verdammt lange Tage und nicht jedes Kind verträgt das gut.“ Bei einem Besuch in einer Ganztagsgrundschule war ich verstört über den Lärmpegel im Gebäude und die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten für die ABC-Schützen am Nachmittag. Ich entsinne mich an meine eigenen drei Kinder, die sich nach dem Schulvormittag und Mittagessen… Mehr

Kreisel
6 Jahre her

Wir haben:
ein STAATLICHES Bildungswesen, ein STAATLICHES Gesundheitswesen, ein STAATLICHES Rentensystem, ein STAATLICHES Geldmonopol mit einer STAATLICHEN EZB und STAATLICH manipulierten Zinsen, ein STAATLICHES Justizsystem, STAATLICH manipulierte Agrarmärkte, eine STAATLICH kontrollierte Energiewirtschaft („Energiewende“ etc.) und zudem STAATLICH kontrollierte Medien. Angesichts dieser erdrückenden Fakten im Zusammenhang mit unserer Gesellschaft noch von KAPITALISMUS oder Marktwirtschaft zu reden, zeugt – mit Verlaub – von einem ungeheuren Realitätsverlust.

Hubert Paluch
6 Jahre her
Antworten an  Kreisel

Stimmt. Wir leben in einer Marktwirtschaft, die an eine Staatswirtschaft angedockt ist.

Kreisel
6 Jahre her
Antworten an  Hubert Paluch

Mit einem Wort: Sozialismus mit Planwirtschaft, wobei das wirtschaftliche Risiko ein bis zur Unkenntlichkeit gestutzter Restmarkt trägt. Für mich faszinierend, wie wenig Kapitalismus ausreicht, diesen gigantischen verschwenderischen und destruktiven Schurkenstaat zu finanzieren, noch!

Eichhörnchen
6 Jahre her

Manche Eltern brauchen eine Ganztagsschule, weil sie spät von der Arbeit nach Hause kommen oder in Schichten arbeiten und keine Oma verfügbar ist, sich deshalb niemand um das Kind kümmern kann.

Auch für Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern könnte eine gute Ganztagsschule hilfreich sein. Dann könnte ich mir u. U. sogar eine gesetzliche Verpflichtung, das Kind in die Ganztagsschule zu schicken, vorstellen.

Dann müßte man aber die Qualität der Betreuung am Nachmittag erheblich verbessern (z. B. Hausaufgabenbetreuung, Nachhilfe, Sportgemeinschaften, Arbeitsgemeinschaften). Außerdem dürften keinerlei Kosten entstehen.

Letztlich sollte die Entscheidung darüber aber in der Regel den Eltern überlassen werden.

limes
6 Jahre her

Gleichschaltung ist gar kein rechtes Prinzip: Die Nazis waren National-Sozialisten!

limes
6 Jahre her

Auch, aber nicht nur »Aus kühl kalkulierten ökonomischen Gründen« propagieren Politik und Wirtschaft Kinderbetreuung und Ganztagsschule. Es geht vor allem um die »Lufthoheit über Kinderbetten«, so die unverblümte Formulierung von Ex-SPD-Generalsekretär Olaf Scholz. Ein Bericht der »Welt am Sonntag« vom 10.11.2002 beschreibt die »kulturrevolutionären« Pläne der Genossen am Beispiel der SPD-Politikerin Renate Schmidt: »Ihr Ziel ist ein Staat, der den Großteil der Kindererziehung übernimmt. Ihre Devise: „Wir müssen lernen, was Liebe ist. Da kann der Staat helfen.« Ein Schelm, wer an das »Ministerium für Liebe« aus Orwells dystopischen Roman 1984 denkt … Nein, Renate Schmidt war damals nicht Leiterin des… Mehr

Hubert Paluch
6 Jahre her
Antworten an  limes

Der Gipfel dieser Massnahmen zur Erschaffung des „neuen Menschen“ war die Wochen-KITA der DDR. Kleinstkinder Montag um 7.00 Uhr abwerfen und Freitag abends für ein kurzes Wochenende einsammeln. Dänische Kinderpsychologen sehen schon im normalen Ganztagsbetrieb ein Drittel der Kleinen gefährdet.