The New Normal – Das Neue Normal

Öffentliche und veröffentlichte Meinung trennen sich bedrohlich voneinander. Das New Normal braucht aber eine offene Debatte. Die Eliten schotten sich ab - die Bürger weichen in die Anonymität der sozialen Medien aus.

Die Investment-Legende Bill Gross prognostizierte 2009 global ein langfristig sehr tiefes Zinsniveau als New Normal – für sein Geschäft eine beängstigende Perspektive. The New Normal lief 2012/2013 als amerikanische Comedy-Serie (in Deutschland bei ProSieben) über ein schwules Pärchen, das zusammen mit seiner Leihmutter ein Kind aufziehen will. Mit der Zeit bürgerte sich das „New Normal“ als Formel für einen Zustand ein, der sich vom bisherigen dramatisch – positiv oder negativ – unterscheidet. Wenige Wendungen nimmt der rheinische Kabarettist Konrad Beikircher so oft in den Mund wie „Normal, ne!“

Normal, ne!

Ian Davis schrieb 2009 für McKinsey über den Unterschied zwischen dem damaligen Abschwung und früheren Rezessionen: „We are experiencing not merely another turn of the business cycle, but a restructuring of the economic order.“ Sinngemäß: Dieses mal geht es nicht um einen anderen Wirtschaftszyklus, sondern um eine Neuordnung der Wirtschaft. Genauso verhält es sich heute mit der globalen Migration. Ihre Folgen führen zu Europas New Normal – am meisten zu Deutschlands New Normal. Das ist für manche ein Albtraum und für andere eine Verheißung – für die Mehrheit ein Fragezeichen. Der genannte rheinische Kabarettist erklärt gern, dass „Normal, ne!“ im Rheinland katholisch war und nicht evangelisch.Vielleicht rheinifizierte sich der Südtiroler Beikircher auch deshalb so leicht und nahtlos. Heute geht es um mehr als katholisch oder evangelisch.

Ian Davis schrieb 2009 auch: „For some organizations, near-term survival is the only agenda item. Others are peering through the fog of uncertainty, thinking about how to position themselves once the crisis has passed and things return to normal. The question is, ‚What will normal look like?‘ While no one can say how long the crisis will last, what we find on the other side will not look like the normal of recent years. The new normal will be shaped by a confluence of powerful forces—some arising directly from the financial crisis and some that were at work long before it began.“ Viele politische Defizite waren schon da, die große Zuwanderung bringt sie an den Tag.

Bildung, Wirtschaft und Soziales grundlegend reformieren
Agenda 2050: Blockade-Haltung aufgeben, aber wirklich

Damit haben wir es in unseren Breiten mit der ganzen Breite und Tiefe unserer Existenz zu tun, mit der Art, wie wir leben und leben wollen, mit dem was uns selbst noch erwartet und dem, wie die nach uns leben werden. Deutschland ist in vielerlei Hinsicht nicht mehr, was die Bonner Republik war, als ich in sie 1966 einwanderte. Als Steirer mit Deutsch als Muttersprache war das für mich ein kleiner Schritt, so klein, wie der von Conny Beikircher aus Südtirol, der ein Jahr vor mir am Rhein eingetroffen war. Die Große Koalition fand ich politisch indiskutabel, sie passte gut nach Bonn, das ich als rückständiges Kaff erlebte nach dem berühmten Spruch: Entweder es regnet oder die Glocken läuten oder die Bahnschranken sind zu.

Die alte Bundesrepublik hatte sich schon mächtig verändert, als die Mauer 1989 fiel. Wer in meiner Generation an die Wiedervereinigung glaubte, galt als Reaktionär. Da lebte ich nicht mehr in Bonn, sondern in Köln, gehörte aber trotzdem zu den Gegnern des Umzugs der Hauptstadt nach Berlin. Gesellschaftlich hat sich seit der späten Bonner Republik nicht mehr viel verändert: Der Osten ist in den Westen eingewandert worden. Die Oberfläche der Berliner Republik täuscht mehr Neues vor, als sie hat. Politisch hat die deutsche Vereinigung als Zeitverzögerer gewirkt. Ohne sie hätten CDU und FDP eine Bundestagwahl 1991 glatt verloren, die FDP wäre wohl nicht mehr im Bundestag gewesen. Parteipolitisch ist seitdem viel passiert, in den gesellschaftlichen Strukturen wenig. (Ja, der in Bonn begonnene Holzweg zum politischen Dauereingriff in Märkte statt kluger Ordnungspolitik wurde in Berlin fortgesetzt.)

In Berlin weniger Meinungsfreiheit als in Bonn

Die größte Veränderung zwischen der Bonner und der Berliner Republik registriere ich seit dem Wechsel von Kanzler Schröder zur Kanzlerin Merkel in Tempo und Ausmaß zunehmend bei einem der Heiligtümer der offenen Gesellschaft: der Meinungsfreiheit. Die Akteure der Bonner Republik in allen Parteien waren eine Männergesellschaft mit ein paar Alibifrauen. An ihren Stammtischen ging es bei Roten und Schwarzen nicht viel anders zu als in meiner steirischen Jugend. In den neuen Stammkneipen der überwiegend jungen Bonner Journalisten übertünchte das 68-er-Gehabe, dass es dort nicht viel anders war. Aber seinen Mund durfte man aufmachen, ohne dass man niedergemacht wurde. Legte man sich mit einem Knochenkonservativen an, kriegte man das unzimperliche Kontra. Selbst dem bekannten Spruch von politisch Rechts gegen Links, dann geht doch rüber (in die DDR: für später Geborene), folgten keine ernsthaften Maulkorb-Aktionen.

Das hat sich geändert. In der Berliner Republik haben geistige Blockwarte Konjunktur, ist viel zu vielen wichtiger, bei den „Richtigen“ zu sein, als eine eigene Meinung zu haben. Gefolgstreue wird höher bewertet als Eigenständigkeit. Dafür oder dagegen wird verlangt. An der Definition dessen, wofür oder wogegen du sein sollst, dürfen nur die Hohepriester mitwirken, keine einfachen Gläubigen oder gar Außenstehende, die sich noch nicht festgelegt haben. Die andere Seite hören zu wollen, gilt nicht als demokratisch, sondern begründet den Anfangsverdacht, zu den Falschen zu gehören.

Nein, meine Beobachtung beginnt nicht mit dem Internet. (Mein Jahrgang täuscht, ich war von Anfang an dabei.) Meine Wahrnehmung hat auch nicht mit den Sozialen Medien begonnen, sondern setzt bald nach dem Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin ein. Die Verdoppelung der Zahl der „Haupstadt-Journalisten“ – in Bonn gab es den Begriff nicht! – hat einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung von der öffentlichen zur veröffentlichten Meinung. Und die Käseglocke wird in Berlin immer sauerstoffärmer. Dagegen war die Käseglocke in Bonn ein Sieb.

Internet und soziale Medien bringen den Kreuzzug gegen die Meinungsfreiheit an den Tag. Den Kreuzzug führen alte Medien an. Zugleich bietet Cyberspace aber auch den Raum, wo jene, die sich nicht einschüchtern lassen, dieser Fehlentwicklung ihre freien Gedanken entgegensetzen können. Sie machen den alten Medien ihre Gatekeeper-Funktion, ihr Monopol auf Bewerten, Einordnen und Meinungmachen jeden Tag mehr streitig. Journalisten sind nicht dümmer als andere, sie wissen das – und trotzdem kämpfen viele gegen die Medien-Mutation an. Vielleicht ist nicht allen bewusst, dass Mutationen unumkehrbar sind.

Es begann wenige Tage nach der Suspendierung der Dublinregel. Seither nimmt die Zahl der Leser von Tichys Einblick besonders schnell zu, die ihren Kommentar nicht mehr posten, sondern an die Mailbox richten. Da der Traffic auf der Seite permanent steigt, nimmt die Zahl der Poster ebenfalls weiter zu – exponentiell mehr als die Mailer. Aber die Mailer schreiben auch oft, warum sie selbst anonym nicht posten. Sie wissen, dass jede IP ausfindig zu machen ist. In Posts erinnern viele Ossis sich gegenseitig an die Zeiten, als nur im vertrautesten Kreis offen gesprochen wurde.

Der Meinungsdruck steigt

Das empfinde ich heute noch bedrückender als vorgestern. Der Blick in Meinungsführer-Medien zeigt das gleiche Bild wie auf Facebook. Nach Angela Merkels Auftritt bei Anne Will versammelt sich die sendende und schreibende Zunft fast vollzählig hinter der Kanzlerin. Nur in den regionalen Medien bleibt Kritik sichtbar. Und selbst auf Facebook und Twitter registriere ich bei so manchem, den man dort schon länger sieht, denselben Schulterschluss. Als ich gestern schrieb, je mehr die große Krise zunimmt, desto mehr wird sich die Mehrheit an Merkel klammern, wusste ich noch nicht, wie schnell und breit das einsetzen würde.

Über veraltete Aktionsformen von Parteien und Medien wird schon lang geredet, geändert hat sich wenig. Dabei bietet die digitale Welt Aktionsformen in schier unbegrenzter Zahl. An diesem Sonntag wählen die Wiener einen neuen Bürgermeister und ihre Gemeinde-Politiker. Wie die klar gegen Einwanderung positionierte FPÖ dort abschneidet, wird ein Signal für ganz Europa. Dass in Deutschland erst nächstes Jahr gewählt wird, sollte die Parteien und vor allem die Kanzlerin nicht denken lassen, es wäre noch Zeit.

Bei Anne Will hat Angela Merkel die Frage nicht beantwortet, welches Deutschland nach der großen Zuwanderung steht. Als ich ganz verschiedene Teile der Vereinigten Staaten von Amerika kennenlernte und mit den Veränderungen in Europa und Deutschland verglich, gewann ich jenen Eindruck, der sich aktuell wieder verstärkt. Deutschland (und Österreich) sind der amerikanischste Teil Europas. Montesquieu sagte, in die Zukunft Europas könne man durch das Fenster Amerika sehen: ein kluger Mann. Wir leben hier wie dort in einem neuen Vormärz. Denn die Defizite vom Irak über Syrien, von Afrika südlich der Sahara bis Brüssel sind alle hausgemacht – made by the west. Also wird der Westen sie auch ausbaden. Und Deutschland mitten drin. Deshalb braucht es eine Perspektive, auf Sicht steuern ist lebensgefährlich, selbst wenn die Sonne noch scheint.

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