Sozialdemokraten in Wien und Berlin – demokratisch oder autoritär

Auch wenn es noch nicht viele merken: Wir stehen vor einer Zeitenwende der politischen Kultur. Einmal mehr geht es um die Freunde der Offenen Gesellschaft gegen ihre Feinde, die es quer durch die politische Gesäßgeographie gibt.

© Zick,Jochen-Pool/Getty Images)
Faymann ging - Omen für Merkel?

Man muss Österreich nicht gleich mit Karl Kraus „Versuchstation für den Weltuntergang“ nennen, aber als Politlabor für Deutschland und Europa lohnt sich der Blick in die K.u.K-Republik durchaus.

Mit dem smarten Manager Christian Kern als neue Nr. 1 kauft die SPÖ Zeit, nicht mehr, nicht weniger. Wer hält die Uhr für die SPD an? Sigmar Gabriel nicht. Martin Schulz wirkte als Abstiegsbeschleuniger. Olaf Scholz könnte Zeitgewinn bedeuten. Doch sein Einsatz kommt wohl – wenn – nach der verlorenen Bundestagswahl.

Über Kern sagte Sophie Karmasin 2012: „Das wäre das Beste, das Österreich passieren könnte.“ Karmasin ist für die ÖVP Familienministerin, damals war sie noch Meinungsforscherin. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Entscheidung für Kern kein Ergebnis des parteiüblichen Findungsprozesses ist, sondern aus der Not geboren. Kern ist zwar nicht ohne roten Stallgeruch, aber den hat er in der realen Welt der Wirtschaft längst verloren und wird ihn nicht wieder annehmen. Wann die echten Parteipflanzen an ihm rummäkeln, ist nur eine Zeitfrage.

Wo wäre ein Mann oder eine Frau aus der wirklichen Welt des Erwerbslebens für die Spitze der SPD? Und wo sind solche, die gezeigt haben, dass sie außerhalb des Laien-Beamten-Biotops Parteien insgesamt, welche in allen eingeschlafenen Parteien die überfällige Sanierung durchführen würden?

Aber vielleicht ist das kleine Österreich auch in dieser Frage ein Labor für Deutschland. Deshalb erst ein Blick auf Christian Kern. Und dann einer auf den künftigen Umgang der SPÖ mit der FPÖ und die wahrscheinlichen Folgen der Bundespräsidentenwahl in Wien weit darüber hinaus.

Kein roter Manager

Kurze Zeit Wirtschaftsjournalist, Pressesprecher beim Beamten-Staatssekretär im Kanzleramt, Stabschef des SPÖ-Fraktionsvorsitzenden, nebenher Diplomarbeit in Kommunikationswissenschaften, beim Energieversorger Verbund in 10 Jahren bis in den Vorstand, 2010 zur ÖBB an die Spitze: Kern sanierte die marode Staatsbahn, zuletzt stellte er sein Krisenmanagement unter Beweis beim professionell unbürokratischen Transport tausender Flüchtlinge. Aufgewachsen im Wiener Arbeiterbezirk Simmering, Vater Elektroinstallateur, Mutter Sekretärin, ein deutlich gehobenes Milieu der guten, alten Sozialdemokratie, die es kaum noch gibt – ebenso wenig wie die tatsächlich proletarische, in der ich groß wurde.

Ex-ORF-Chef Gerhard Zeiler (Tele5, RTL II und RTL, heute Präsident von Turner Broadcasting System International) der ebenfalls als Faymann-Nachfolger infrage kam, versichert Kern seiner Unterstützung. Die beiden sind wohl die letzten, die aus einer Zeit herüberragen, in der die SPÖ (und die Sozialdemokratie überall) ihren steilen Abstieg noch nicht begonnen hatte.

Den Trend umkehren kann Kern nicht. Aber die Talfahrt bremsen, vielleicht sogar aufhalten, das ist ihm zuzutrauen. Für die nächsten zehn Jahre, in denen die österreichische Parteien- und Politik-Landschaft ebenso grundlegend auf den Kopf gestellt werden wird wie die deutsche und europäische, ist ein kühler Manager-Kopf sicher besser geeignet als der Funktionärstyp, der in den geschützten Werkstätten aller Parteibürokratien siedelt.

Identitätskrise aller sozialdemokratischer Parteien

Der Kern der Frage für Kern und alle sozialdemokratischen Parteien ist: wer sind wir? Ihre Vorstellungen vom Sozialstaat, vor allem der gesetzlichen Regelung von Arbeit, Alter, Gesundheit und Bildung hatten die Arbeiterparteien spätestens in den 1970ern im Wesentlichen durchgesetzt. Seitdem wird adjustiert und verwaltet. Ein neues Projekt haben die sozialdemokratischen Parteien nicht (die anderen, die sich nicht so nennen, auch nicht, aber das wird eine neue Geschichte). Gleichzeitig ist an die Stelle der Arbeiterklasse eine breite Mittelschicht (sie schrumpft nicht, sondern nivelliert sich) getreten, die sich – je wohlhabender desto mehr – bei den grünen Schwarzen und schwarzen Grünen besser aufgehoben fühlt.

Wie bei der Linkspartei die Traditionswähler im Osten biologisch weniger werden, ist das bei der SPD im Westen der Fall – in Österreich widerfährt das der SPÖ bundesweit. In Österreichs westlichen Bundesländern Tirol und Vorarlberg rangiert die SPÖ unter 15 und 10 Prozent. Bei den weniger gewordenen Arbeitern hat die FPÖ die SPÖ als Arbeiterpartei abgelöst. Das Gleiche zeichnet sich in Deutschland bei der Abwanderung der Unterschicht und unteren Mittelschicht zur AfD ab. Wie bei der FPÖ sind Angehörige der mittleren Mittelschicht auch bei der AfD mehr unter den Aktivisten zu finden als in größeren Wähleranteilen (Das systematische Schrumpfen des Arbeitersektors in Industrie 4.0 auf eine sehr kleine Minderheit stellt Parteien, die ihren Aufstieg dem Protest gegen das Establishment verdanken, vor ganz neue Fragen – aber das dauert noch und ist ganz eine eigene Geschichte).

Szenario Parteienreihenfolge: FPÖ, ÖVP und SPÖ

Der Unterschied zwischen Österreich und Deutschland liegt vor allem darin, dass die ÖVP nie so konservativ war wie CDU und CSU und die Grünen in Österreich keinen Fundi-Flügel von Gewicht besaßen. ÖVP und SPÖ waren sich in vielen sozialen Fragen immer schon viel näher als SPD und Union. Das erleichtert eine Entwicklung, die schon bei den nächsten Nationalratswahlen zum Ergebnis haben kann, dass FPÖ, ÖVP und SPÖ in dieser Reihenfolge ins Ziel einlaufen: FPÖ über und ÖVP unter 30, SPÖ um die 20.

Wer solche Feinde hat, braucht keine Freunde
Österreich: Die Gegner des Kandidaten Hofer vereinen sich als Unterstützer
Der große Unterschied zwischen FPÖ und AfD (und europäischen Verwandten) ist, die FPÖ gibt es seit Beginn der Zweiten Republik. Unter Jörg Haider war sie in die Bundesregierung eingezogen (Nationalsratswahl 1999: SPÖ 33,2%, ÖVP 26,9%, FPÖ 26,9%, Grüne 7,4%). Sein Anspruch, den schwarz-roten Proporz zu beenden, ist zu einer Beteiligung der FPÖ an der Posten-Verteilung geschrumpft. Eine schwache FPÖ-Periode folgte auch deshalb, führte zu Spaltungen und kulminierte in Haiders dramatischem Abgang. Doch schon 2008 wuchs die FPÖ wieder. 2013 sahen die Zahlen so aus: SPÖ 26,82%, ÖVP 23,99%, FPÖ 20,51%, Grüne 12,42%.

Im Burgenland regiert Rot-Blau und in Oberösterreich Schwarz-Blau. Ob sich SPÖ und ÖVP nach der Nationalratswahl 2017 (oder noch 2016) noch einmal zusammentun oder eine von beiden mit der FPÖ koaliert, ist offen. Doch die Periode der Ablehnung von Koalitionen mit der FPÖ ist vorbei. Der Gedanke, dass sich die deutsche und europäische Koalitions-Landkarte entsprechend verändert, ist naheliegend. Was das für die EU, die nationalen Politiken, eigentlich für alles bedeutet, schließt kaum etwas aus. Anything goes bekommt eine ganz neue Bedeutung.

Österreichs Bundespräsident hat Weimarer Kompetenzen

Noch ist nicht entscheiden, wer Österreichs Bundespräsident wird. Schaue ich mir  an, dass der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer mit Blick auf seine Chancen keine Fehler im Schlussrennen macht, der unabhängige Grünen-Kandidat Alexander Van der Bellen aber dem Druck nachgibt, Hofer als „rechtspopulistisch“ anzugreifen, registriere ich, dass Hofers Chancen zunehmen.

In Deutschland ist nicht bekannt, dass der Bundespräsident in Österreich auf einer völlig anderen Verfassungsgrundlage steht. Das hat bisher keine Rolle gespielt, weil alle Amtsinhaber in Wien so zurückhaltend agiert haben wie die in Bonn und Berlin. Die Erste Republik Österreich nahm unter dem Einfluss der ÖVP die Weimarer Verfassung zum Vorbild und stattete den Bundespräsidenten im damaligen Zeitgeist der Sehnsucht nach starken Führern mit großen Vollmachten aus, in der NZZ knapp zusammgefasst: „Neben der Ernennung der Regierung kann er diese auch jederzeit entlassen, auf Vorschlag der Regierung den Nationalrat auflösen, er vertritt die Republik völkerrechtlich, ist Oberbefehlshaber des Bundesheers und kann unter aussergewöhnlichen Verhältnissen Notverordnungen erlassen.“ Österreichs Sozialisten hätten es lieber gesehen, wenn der Nationalratspräsident gleichzeitig Staatsoberhaupt geworden wäre. Für ihre Zustimmung zum Bundespräsidenten verlangten und bekamen sie die Direktwahl.

Tatsache ist, der neue gewählte Bundespräsident könnte sich weigern, den Kanzler zu bestellen, den eine erneute große Koalition benennt, und stattdessen theoretisch jeden Österreicher mit der Bildung einer Regierung beauftragen. Niemand weiß, ob Hofer das täte. Legal wäre es. Dass der nächste Bundespräsident, wer es auch wird, bei wichtigen Fragen, die eine Regierung nicht ernsthaft anpackt, tätig werden muss, ist nach diesem Wahlkampf unausweichlich. Als erstes müsste er den Kanzler oder das ganze Kabinett oder einzelne Minister zu sich rufen, ihnen ins Gewissen reden und Vorschläge mit Fristen verlangen. Selbstverständlich kann das in unserer real existierenden Massenmedien-Welt nur mit breiter Berichterstattung einhergehen. Welche Ansteckungswirkungen das weit über Österreich hinaus haben wird, eröffnet tatsächlichen und eingebildeten Experten ein weites Feld.

Zeitenwende der politischen Kultur

Stellen wir uns vor, was das für Deutschland bedeutet: Das Verlangen nach einem direkt gewählten Bundespräsidenten mit deutlich mehr, wenn auch nicht so weit reichenden Kompetenzen wie in Österreich hat in Deutschland große Chancen auf Durchsetzbarkeit. Das Hoffen und Vertrauen auf den einen oder die eine, die es schon richtet, ist in deutschen Landen trotz Hitler mehr verankert, als vielen bewusst ist – und quer durch die komplette politische Gesäßgeographie!

Im europäischen Konzert heißt das, der Trend zu weniger Macht für Parlamente und mehr für präsidiale bis autoritäre Führungslösungen nimmt zu (andere Kontinente lassen grüßen). Zähle ich eins und eins zusammen, ist es höchste Zeit für eine große Bewegung hin zu viel radikaler Dezentralität: Vor allem in den kleinen und mittleren Einheiten mit viel Volksentscheiden und echter Selbstverwaltung und in größeren parlamentarisch bringt Freiheit durch Demokratie. Auch wenn es noch nicht viele merken: Wir stehen vor einer Zeitenwende der politischen Kultur. Einmal mehr geht es um die Freunde der Offenen Gesellschaft gegen ihre Feinde, die es quer durch die politische Gesäßgeographie gibt.

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