Niall Ferguson und die Totalitarismen

Dass die Gleichsetzung von Faschismus eines Mussolini mit dem Nationalsozialismus eine Verharmlosung des NS-Staats bedeutet, ist nur wenigen bewusst und ermöglicht, dass nicht nur in Deutschland der Begriff Faschismus statt Nationalsozialismus weithin unbeanstandet durchgeht.

© Johannes Eisele/AFP/Getty Images)
Workers lift a statue of Karl Marx off its base in Berlin

Mit einem Zitat von Hannah Arendt als Antwort schloss Teil 1 zum NZZ-Interview mit Niall Ferguson von René Scheu auf die Frage nach Asymmetrie in der öffentlichen Wahrnehmung von Hitler und Stalin, die sich Ende der 1980er Jahre durchsetzte:

„Wer – wie Hannah Arendt in ihrem Buch über die Ursprünge totalitärer Herrschaft – auf strukturelle Parallelen der beiden Totalitarismen hinwies, wurde fortan nicht mehr gehört oder schlechtgemacht. Damit war der moralische Sieg der Sozialisten und Sozialdemokraten über die Liberalen und Konservativen besiegelt.”

Wie aktuell diese Tatsache ist, lief mir vorgestern abend zufällig über den Bildschirm, als ich in eine Dokumentation geriet. Der Film schlug einen großen historischen Bogen, der auch kurz den zweiten Weltkrieg einschloss. Das hier Einschlägige: Stalins simultane Okkupation Ostpolens zu Hitlers Eroberungsfeldzug in Westpolen kam nicht vor. Der Nichtsangriffspakt der zwei Diktatoren wurde nicht erwähnt.

Eine Frage von René Scheu lautete:

„Die diskursive Gleichung «Kolonialist = Rassist = Faschist = Nazi» ist fast schon zu einer Art Gemeinplatz geworden, während Stalinismus und Maoismus in diesem Zusammenhang kaum je genannt werden. Sie sind selbst Historiker – worauf führen Sie diese Asymmetrie in der Argumentation zurück?”

Ferguson erwähnt, dass er zur Zeit des sogenannten Historikerstreits 1986 und 1987 Student war und sagt: „Das war zweifellos ein entscheidender Moment, in dem sich eine Art Dogma verfestigte, das weit über Deutschland hinausreichte.” Seine eigene Position in diesem Historikerstreit: „Stalinismus und Nationalsozialismus lassen sich nicht vergleichen.”

Teil 1: Intellectual Dark Web
Niall Ferguson gegen den Konformismus
Ferguson formuliert in seinem Interview mit der NZZ nicht, könnte es aber wohl, was ich und andere im Rückblick meinen: Ernst Nolte machte es mit seiner Verkürzung des Hitlerismus auf eine Folge des Stalinismus – des Faschismus genannten Nationalsozialismus als Antimarxismus – Jürgen Habermas leicht, alle Betrachtungen von Schnittmengen zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus als revisionistisch abzutun und für praktisch unzulässig unter Demokraten zu erklären.

In Rainer Zitelmanns Buch: „Hitler, Selbstverständnis eines Revolutionärs”, 2017 in 5., erweiterter Neuauflage erschienen – finden sich zusätzlich zu seiner 30 Jahre alten Dissertation weiterführende Aufsätze, vor allem aber zahlreiche protokollierte Monologe und Tischreden von Hitler in geschlossenen Zirkeln. Spätestens sie entziehen dem Bild der Habermas-Gemeinde den Boden, das Ferguson so fasst: „Der Konservativismus ist die Vorstufe des Nationalsozialismus, der seinerseits nichts mit dem Sozialismus zu tun hat, den er dennoch im Namen trägt …”.

Zitelmann stimme ich zu, wenn er schreibt (Seite 526), der Nationalsozialismus sollte „nicht primär als Antimarxismus interpretiert werden. Er war vielmehr eine alternative, konkurrierende revolutionäre Bewegung, die nicht die Vernichtung des Marxismus zum Hauptziel hatte, sondern ihn vielmehr vernichten musste, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen der Nähe zu ihm.”

Vom „Konservativismus als Vorstufe des Nationalsozialismus” ist nur ein Schritt zur irreführenden antifaschistischen Formel vom Faschismus als Folge des Kapitalismus. Dass die Gleichsetzung des Faschismus eines Mussolini mit dem Nationalsozialismus eine Verharmlosung des NS-Staats bedeutet, ist nur wenigen bewusst und ermöglicht, dass nicht nur in Deutschland der Begriff Faschismus statt Nationalsozialismus weithin unbeanstandet durchgeht. Wem diese Wortwahl im Streit der Ideologien nutzt, liegt auf der Hand: Das Wort Faschismus enthält den Wortteil Sozialismus nicht.

Warum Habermas‘ Deutung sich durchsetzte, erklärt Ferguson auf diese Weise :

„Weil in den 1980er Jahren in der Akademie bereits eine sozialdemokratische Mehrheit den Ton angab, besonders in der deutschen Historikerzunft. Ernst Nolte und Michael Stürmer unterlagen gegen Jürgen Habermas, Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka und all die anderen aufstrebenden Historiker. Diese Entwicklung war nur konsequent, denn denken Sie daran: Hitler hatte den Zweiten Weltkrieg verloren, und Stalin hatte ihn gewonnen. Die Sowjetunion war am Ende auf der Siegerseite, die während und nach dem Krieg nach einer positiveren Sicht verlangte. Uns allen wurde der Holocaust in Schulen und Medien eher nähergebracht als Stalins Verbrechen.”

Wie gesagt, Stalins Angriffskrieg auf Polen und sein Nichtangriffspakt mit Hitler kamen im oben erwähnten Dokumentationsteil über den zweiten Weltkrieg einfach nicht vor.

Ferguson ergänzt:

„Es gibt kaum Seminare, die sich mit dem Bösen am Sozialismus und Kommunismus auseinandersetzen – das gibt es in Stanford nicht, ebenso wenig in Oxford und wohl auch nicht in Zürich. Die Verbrechen der Sozialisten werden heruntergespielt, die Verbrechen der Faschisten hingegen dienen dauernd als universelle Vergleichsgrössen, wenn in neueren Geschichtsbüchern etwa von Genoziden der Kolonialherren die Rede ist.”

Damit knüpft das Interview Scheu mit Ferguson bei der Schilderung des Historikers im vorderen Teil an, worum es heute an den Hochschulen (geisteswissenschaftlichen Fakultäten) geht:

„Die Palette reicht von Identity-Politics über Intersektionalität – womit die Überschneidung verschiedener Formen der Diskriminierung gemeint ist – bis hin zu Gender und African-American Studies. Dabei gibt es einen gemeinsamen Nenner: Es galt und gilt, den Kanon der toten weissen Männer zu dekonstruieren.”

Der unterdrückende weiße Mann, schuld an allem Bösen in dieser Welt, das sei doch ein Klischee, wirft Scheu ein, und Ferguson entgegnet staubtrocken:

„Klar. Aber der Topos hat sich in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten – jedenfalls der angelsächsischen Welt – durchgesetzt.”

Und nicht nur dort, erlaube ich mir anzufügen.

Den Teil 2 schließe ich mit dem Hinweis, dass Teil 3 damit beginnt, ob Ferguson sich selbst als Konservativen versteht. Seine Antwort lautet:

„Meine linken akademischen Kollegen haben es sich zur Angewohnheit gemacht, mir dieses Prädikat anzuhängen. Und gemessen an ihnen bin ich zweifellos konservativ. Aber ich fürchte, ich bin kein Konservativer im eigentlichen Sinne. Vielmehr bin ich ein klassischer Liberaler, ein Kind der schottischen Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts.”

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Kommentare ( 38 )

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38 Comments
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Sharkeen
4 Jahre her

Danke, dass auf den Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Faschismus hingewiesen wird. Bis heute gibt es keine unbestrittene Definition von Faschismus. Klar ist, dass unter Hitler eine Jüdin nie Karriere machen konnte. Margherita Sarfatti war Kunstmanagerin, Mussolini’s Geliebte, Faschist und Jüdin. Extremer (bigotter?) sind die Japaner: haben Sie jemals vom Shanghaier Ghetto gehört? JAPAN gewährte unzähligen Juden Asyl in Shanghai. Sie erhielten Transfervisum um nach Shanghai zu gelangen. Japaner sind und waren nie Antisemiten. Gerade die Rolle Japans (und Italiens) wird gerne missachtet, denn so grausam die Japaner mit den Chinesen auch waren (Nanjing!), mit Nationalsozialismus hatte dies wenig gemein. https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/polish-jewish-refugees-in-the-shanghai-ghetto-19411945… Mehr

joachim.dengler
4 Jahre her

Lieber Herr Goergen, dieser wichtige Beitrag von Prof Ferguson verdient es, als zusammenhängender Aufsatz zu erscheinen, vielleicht auch als Interview oder Vortrag mit Untertiteln. Die einzelnen Zitate, so gut wie sie sind, werden ihm und seiner wichtigen Botschaft nicht ganz gerecht.

Keineangstvorniemand
4 Jahre her

Bolschewismus und Nationalsozialismus kommen beide von der Lebensreform. Zwischen Bolschewismus und Lebensreform gibt es Überschneidungen, ebenso zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus. Insofern als der Konservatismus wirtschaftlich ein korporativer Sozialismus der Zünfte und Genossenschaften war. Und der Marxismus ein industrieller Aufguß der Gesellenherrlichkeit.

Nicholas van Rijn
4 Jahre her

Der Konflikt zwischen radikal links und radikal rechts dient doch letztlich nur dem Machterhalt der staatlichen „Eliten“. Der echte Konflikt sollte entlang Individuum gegen Kollektivismus laufen, da sind sich die Kollektivisten links und rechts aber dann rasch einig, dass das ganz böse ist, wenn man Menschen zu Selbstverantwortung leitet. Aber es tut sich was, immer mehr durchschauen dieses „Spiel um Macht“. Identitätspolitik ist eine Sackgasse, die stets zu Katastrophen führt.

Wittgenstein
4 Jahre her

Lieber Herr Goergen, es gibt schon Historiker, die sich mit dem Entstehen und dem Wesen des ML, Sozialismus, Kommunismus oder Stalinismus ernsthaft befasst haben und die Dimension des Schreckens für die Menschen klar beschrieben haben. So beschreibt beispielsweise Orlando Figes in „Die Tragödie eines Volkes“ Die „Epoche Der Russischen Revolution 1891 Bis 1924“ und Simon Sebag Montefiore zeichnet in seiner Biographie „Stalin“ die Mechanismen der Schreckensherrschaft mit den „Säuberungen“ nach, die Millionen Menschen das Leben gekostet haben (in diesem Sinne ein wirklich grausames Buch). Auch ein linker Historiker wie Eric Hobsbawm, dessen die Weltgeschichte nachzeichnenden Bücher ich mit grossem Vergnügen… Mehr

Fritz Goergen
4 Jahre her
Antworten an  Wittgenstein

Ja, es gibt auch noch mehr solcher Ausnahmen.

Dr. Michael Kubina
4 Jahre her

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich in 50 Jahren niemand mehr für diese Details interessieren wird (also Kommunismus/Nationalsozialismus/ Faschismus = rechts oder links). Eine jahrhundertealte Elite dankte ab, soziale Verwerfungen, Christentum verlor Bindungskraft, Aufteilung der Welt, Technikgläubigkeit etc. Ein Machtvakuum wollte gefüllt werden und wurde gefüllt, ob die es füllenden links oder rechts waren, wird niemanden interessieren. „Totalitarismus“ wird einfach als eine (!) neue, „zeitgemäße“ Herrschaftsform gesehen werden. So war es eben. „Demokratie“ im Sinne von parlamentrisch-repräsentativ wird jeden Glanz verloren haben, und irgendetwas neues die Menschen ordnen. Wenn ich mich schon vom Posten des reinen Beobachters heute entferne,… Mehr

Fritz Goergen
4 Jahre her
Antworten an  Dr. Michael Kubina

Freiheit gegen Unfreiheit bleibt, in welcher Gestalt auch immer.

Fritz Goergen
4 Jahre her

Faschismus ist eine Herrschaftsform, so wie Populismus eine Kommunikationsform ist. Aus beiden hat die Zeitgeschichte politische Richtungen gemacht.

KoelnerJeck
4 Jahre her

„Konservativismus als Vorstufe des Nationalsozialismus“

Dazu müßte man erstmal klären, was Konservatismus überhaupt ist. Es geht um Inhalte. Was Konsveratismus überhaupt dar? Was sind seine Ideen? Der Wohlfahrtsstaat ist von den Konsverativen eingeführt worden und er ist natürlich eine Form des Sozialismus.

„Sozialismus ist eine ansteckende geistige Krankheit. Betroffene Menschen erkennt man daran, dass sie ein Zwangssystem etablieren wollen, jenes gleichsetzen mit Gerechtigkeit an sich und von da an jedem aggressiv begegnen, der sich nicht unterwerfen und dem roten Orchester zuklatschen will.“ Roland Baader

Dieter Kief
4 Jahre her
Antworten an  KoelnerJeck

Der Roland Baader ist ein unglaublicher Aussenseiter. Ich komme aus dem Nachbardorf von Kirrlach. Manchmal in Kirrlach im zentralen Café, gibt es heute noch kleine Hinweise auf Baader – auf einen Vortrag oder eine Arbeitsgruppe oder so. Eine unglaubliche Figur. Da sollte mal einer was drüber machen. **

Andrea Dickerson
4 Jahre her

Es war nicht Nolte, der es Habermas leicht machte, sondern das mediale, politische und zeitgeistliche Klima damals. Der nationale Sozialismus war eine Reaktion auf den internationalen. Heute ist es nicht anders.

Dieter Kief
4 Jahre her
Antworten an  Andrea Dickerson

Ja, Nolte hatte es schwer, nicht zuletzt, weil noch zuviele alte Nazis lebten und wirkten – zum Teil in furchteinflössender Weise. Das musste erst erledigt werden – oder sich erledigen. Aber das ist nun der Fall,und insofern ist das Timing der NZZ genial! Dieses Interview wird einmal als Zäsur wahrgenommen werden,würde ich ’n‘ Hunnie drauf wetten. Und TE/Fritz Goergen hat’s gecheckt – toll. Ich hab’s – in aller bescheidenheit – auch sofort gecheckt und ausposaunt, kann ich sagen, aber auch Hadmut Danisch zu meinem großen Erstaunen, weil er doch die Geisteswissenschaftler hasst war bald zur Stelle. Die FAZ ist abgedriftet,… Mehr

Edu
4 Jahre her

„Der unterdrückende weiße Mann, schuld an allem Bösen in dieser Welt,“ was hat dieser böse weiße Mann alles verbrochen, er saß von Muslimen bedrängt und isoliert von der übrigen Welt auf seiner nassen und kalten eurasischen Halbinsel und erkannte die alte Antike wieder, schuf die Renaissance und die Aufklärung, segelte in Nußschalen rund um die Welt und durchbrach das muslimische Handelsmonopol und die Jahrhunderte dauernde Isolierung. Er erfand die Dampfmaschine und ersann unter anderem das Flugzeug – der fliegende Teppich erwies sich wie das fliegende Pferd als unbrauchbar. Er startete mit der industriellen Revolution einen Entwicklungsschritt, den man nur noch… Mehr

Jasmin
4 Jahre her
Antworten an  Edu

Edu
… und heute sitzt der Mann jammernd in der Ecke, und lässt sich von irgendwelchen durchgeknallten Megären einquatschen, dass er böse ist und am Elend der Welt schuldig sei. Manchmal langt es noch zu einem gemeinsamen „Frauen sind blöd, wählen falsch usw.“
Tja, offenbar muss frau dem Mann nur oft genug erzählen, dass er böse/blöde/ egoistisch/ rücksichtslos oder was auch immer ist, und er fällt in Schockstarre und ins Jammern. Sorry, aber Selbstmitleid ersetzt keine Gegenwehr. Andere können mit einem nur machen, was man selbst zulässt!