DER SPIEGEL Nr. 7 – „Die Sprache der Sterne“

Nach dem Propaganda- Titel der letzten Woche versucht der SPIEGEL wieder den Weg zurück zum recherchierten Journalismus. Es gelingt sogar über weite Strecken. Aber nicht ganz.

Wer ist der SPIEGEL und wenn ja wieviele? Diese Woche ist Tichys Einblick durcheinandergeraten. Es gibt einen Schweiz-Titel und eine Regional-Ausgabe für Nordrhein-Westfalen. Um ein Haar, und wir hätten die Besprechung einer Ausgabe von vor einigen Wochen auf die Seite gehoben. Nun ja, so unaktuell erschien sie gar nicht … So reizvoll Regionalausgaben sind – sie tragen auch zur Verwirrung bei. Die klare Marke, auch durch die separate Online-Ausgabe, verschwimmt mit immer mehr Sonderausgaben. Das zeigt sich mit dem Schweizer Titel, aber dazu unten mehr.

Lauschangriff

Der SPIEGEL greift in dieser Woche nach den Sternen. Und das tut gut. Marco Evers und Johann Grolle erklären in „Kosmischer Lauschangriff“ wie die Erkenntnis Albert Einsteins, dass es im All Gravitationswellen gebe, man sie wohl aber kaum je werde beweisen können, jetzt nachgewiesen ist. Die Titelgeschichte über die erstmals gelungenen Messung von Gravitationswellen im All, ausgelöst durch den Zusammenprall zweier schwarzer Löcher vor etwa 1,3 Milliarden Jahren, erinnert an Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“, in dem der Autor die Umstände beschreibt, unter denen bekannte Entdecker und Forscher wichtige wissenschaftliche Durchbrüche erzielten. Der Spiegel vermittelt dem Leser den Eindruck, dem Forscher Marco Drago am Albert-Einstein-Institut in Hannover beim spannenden Geschehen über die Schulter zu schauen und Zeuge des sensationellen wissenschaftlichen Durchbruchs zu sein, der Nobelpreis-verdächtig ist.

Lesenswert ist auch der zweite Schwerpunkt im Heft zur Syrienkrise. Der Beitrag „Von allen verlassen“ beschreibt mit eindringlichen Worten das Grauen von Aleppo, das Leiden und den Exodus der Zivilbevölkerung, die Rolle Moskaus und die der USA, die Interessenverflechtungen im Nahen Osten. Als Ergänzung dazu ist die Lektüre des Interviews mit dem syrischen Lyriker Adonis empfohlen. Der in Paris lebende Ali Ahmad Said Esber, so sein bürgerlicher Name, vertritt seit langem die These, nur die Trennung von Staat und Religion könne die Konflikte in der arabischen Welt lösen.

Die Lügenpresse-Debatte

Das Schwinden der Glaubwürdigkeit der etablierten Medien beschäftigt die SPIEGEL-Redaktion schon eine ganze Weile. Für den Beitrag „Die Vertrauensfrage“ sprachen Markus Brauck, Georg Diez, Alexander Kühn, Martin U. Müller, Ann-Kathrin Nezik und Vanessa Steinmetz mit erbosten Leserbriefschreibern und mit Journalisten, die persönlich diffamiert und angepöbelt werden. Ein Resümee: Die Akademisierung im Journalismus habe dazu geführt, dass die Distanz der Journalisten zu den Alltagsproblemen allmählich zum Problem werde. Dem kann abgeholfen werden: Ausschwärmen und mit den Leuten an den Stammtischen oder mit den Kunden im Discounter reden. Jeder hat irgendwo Verwandte, die kämpfen müssen, um wenigstens knapp über die Runden kommen, bei denen der Druck wächst und damit die Wut.

Aber eines fehlt: Das Gespräch mit Opfern des SPIEGEL, die von dem zur Sau geschrieben wurden. So bleibt das Ganze etwas wehleidig: Arme Journalisten beklagen sich über ihre Kritiker, dabei sind sie so gerne selber die härtesten und oft genug unfairsten Kritiker. Stark im Austeilen, schwach im Einstecken – dieser Widerspruch muß erst noch formuliert werden.

Gerne gelesen habe ich die Meinungsbeiträge, Kolumnen und Essays in der aktuellen Ausgabe. Geistreich ist der Leitartikel „Sprache des Notstands“ von Jan Fleischhauer. Es ist eine in diesem Magazin selten differenzierte Beurteilung von Horst Seehofer, sonst nur als Beelzebub im Spiegel möglich. Und eine Überlegung zur aktuellen Radikalisierung der politischen Debatte – wobei diese durch das Regierungshandeln ausgelöst ist, und nicht durch die Kritiker. Und Markus Feldenkirchen bietet kurzweiligen Tiefgang in „SPD ohne Duzen“. Nachdenklich gemacht hat mich der Essay „Berührungsfurcht“ von Stefan Berg über sein Bedürfnis nach Grenzen. Auslöser war eine Zufallsbegegnung auf einer Bahnreise mit einer betenden Muslimin.

Ignorant finde ich, dass die Klage des Bundes der Versicherten gegen den Versicherer Ergo auf die Auszahlung der Bewertungsreserven nur kurz erwähnt wird. Angeblich hätten alle Versicherer insgesamt 75 Milliarden Euro gebunkert. Was bedeutet das für Versicherte? So etwas nicht zu erläutern, ist ärgerlich und leserfeindlich.

Martin Doerry verweist in „Margit, das Monster“ auf das Buch „Und was hat das mit mir zu tun?“ von Sacha Batthyany. In dem Buch geht es um die Familie des Schweizer Journalisten. Im Zentrum steht eine Begebenheit aus dem Jahr 1945. Damals sollen bei einem rauschenden Fest seiner Großtante im österreichischen Schloss Rechnitz zur Unterhaltung der Gäste 200 jüdische Zwangsarbeiter von etwa 15 Gästen, vor allem SS-Angehörigen und anderen Nazis – zur Unterhaltung der Gäste getötet worden sein. Ich lerne daraus, dass es immer noch Steigerungen von Grauen und Grausamkeit gibt, die ich bisher nicht für möglich hielt.

Mitleid mit dem Ur-Weibchen

Zum Schluss: Seien wir mitfühlend mit einem einsamen Uhuweibchen, das im niederländischen Purmerend Menschen attackierte. Das Tier wollte nichts Böses: Es suchte die Zweisamkeit. Lesen Sie „Nachtschwärmer“ von Ralf Hoppe.

Nachdem der SPIEGEL vergangene Woche mit dem Petry-Titel zur Propaganda-Show verkommen war zeigt er jetzt wieder recherchierte Stories. Gute Besserung. Hoffen wir auf eine Wende, nicht nur Pause im Geifern.

Wie der SPIEGEL aber weiterhin mit seinen Gegnern umgeht, wenn sie nur „rechts“ sind im Jargon der Hamburger, offenbart die Regionalausgabe für die Schweiz. Hier zeigt sich: Die vorher angestoßene Selbstkritik reicht noch nicht bis in die Schweizer Redaktion.

Hier werden alte Augstein-Rechnungen mit dem früheren Welt-Chefredakteur Köppel beglichen. Daran sieht man: Noch ist die Heilung vom reflexhaften Propaganda-Journalismus nicht gelungen.

Es stellt sich eben die Frage: Wer bin ich, und wenn ja: Wieviele?

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