Was der Rücktritt der ungarischen Präsidentin für Orbán bedeutet

Als Folge eines Skandals um eine Begnadigung ist Ungarns Staatspräsidentin Katalin Novák zurückgetreten. Die Affaire ist wohl dem Wahlkampf zu verdanken – aber kann die Opposition von Orbáns Schlappe profitieren?

IMAGO / CTK Photo

Ungarns oft totgesagte freie Medien haben zum zweiten Mal unter der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán einen Staatspräsidenten zu Fall gebracht. Im Jahr 2012 musste der damalige Staatschef Pál Schmitt zurücktreten, nachdem das Orbán-kritische Wochenmagazin HVG aufdeckte, dass er Teile seiner Doktorarbeit abgeschrieben hatte. Und am 10. Februar trat Staatspräsidentin Katalin Novák zurück, nachdem das teilweise aus NGO-Zuwendungen finanzierte, scharf regierungskritische Nachrichtenportal 444.hu am 2. Februar berichtete, Novák habe im vergangenen Jahr einen Mann begnadigt, der wegen Beihilfe zur Pädofilie verurteilt worden war. Der Fall liegt fast ein Jahr zurück. Dass die Sache erst jetzt publik wurde, mag daran liegen, dass Wahlkampf herrscht – da mag jemand die brisante Information zwar schon länger besessen, aber erst jetzt abgeschossen haben.

Die auflagenstärkste Boulevardzeitung Blikk, die zugleich auch das größte Nachrichtenportal des Landes ist (im Besitz des Schweizerischen Ringier-Verlages) titelte daraufhin: „Frau Präsidentin, ziehen sie die Begnadigung zurück!” Freilich geht das juristisch gar nicht. Die Oppositionsparteien und die mit ihnen sympathisierenden Medien forderten Nováks Rücktritt, der dann auch wenig später folgte.

Der so umstritten begnadigte Mann war der stellvertretende Direktor eines Waisenhauses, der sich zwar selbst nicht an Minderjährgen verging, aber seinen Chef zu decken versuchte, als gegen diesen Pädofilie-Vorwürfe laut wurden. Für diese Beihilfe wurde er zu mehr als drei Jahren Haft verurteilt.

Nicht nur Frau Novák trat zurück. Zeitgleich verkündete die damalige Justizministerin Judit Varga, die die Begnadigung damals eingereicht und mit unterschrieben hatte, ihren Rückzug aus der Politik. Eigentlich hatte sie bei den anstehenden Wahlen zum Europaparlament die Liste der ungarischen Regierungspartei Fidesz anführen sollen. Beide Frauen waren von Fidesz über Jahre hinweg mit viel Sorgfalt als weibliche Hoffnungsträger aufgebaut worden. Beide traten sehr wirksam auch in westlichen Medien auf, und besonders Novák wurde von Opposition und Medien weit weniger kritisiert als Orbán. Sie galt als Archtektin der ungarischen Familienpolitik und wurde dafür im In- und Ausland respektiert. Der Regierungschef hat somit im politischen Poker für die nächste Zukunft zwei seiner besten Trumpfkarten verloren.

Das sagt eigentlich schon alles über den Ernst der Lage: In wenigen Monaten stehen EU- und Kommunalwahlen an. Als „professionelle Schadensbegrenzung” bezeichnete der unabhängige Analyst Gábor Török die Reaktion der Regierungspartei: Ministerpräsident Viktor Orbán erklärte kurzerhand „es gibt keine Gnade für Pädofilie”, und sagte ausdrücklich, Frau Novák trage die „politische Verantwortung” dafür, dass sie mit ihrer Entscheidung die „politische Gemeinschaft (der Fidesz-Wähler) in eine „unwürdige Lage” gebracht habe. Er kündigte eine Verfassungsänderung an, damit verurteilte Strafttäter, deren Opfer Kinder waren, künftig nicht mehr begnadigt werden können.

Danach traten Novák und Varga zurück. Er zeugt von der Autoritität des Regierungschefs, dass das alles so schnell ging, und ohne Machtkampf. Alle Beteiligten spielten diszipliniert ihre Rollen. Posthum – denn Novák und Varga sind jetzt politisch tot – wurden sie von Fidesz-Politikern und regierungsnahen Medien zu edlen Figuren erklärt, die ihrer Verantwortung gerecht wurden.

Was das alles für die Wahlen bedeutet, muss man abwarten. Ein Faktor ist, dass die Opposition nach wie vo extrem unbeliebt und zersplittert ist. Viele Ungarn waren von der merkwürdigen Begnadigung entsetzt, von dem politischen Spektakel auch (zumindest ist das der Eindruck dieses Autors nach vielen Gesprächen mit gewöhnlichen Ungarn in Budapest), aber das bedeutet noch lange nicht, dass nun massenhaft Fidesz-Wähler zur Oppositon überlaufen werden. In den jüngsten Umfragen (vor dem Skandal) lag Fidesz bei 51 Prozent der Wählersympathien bei „sicheren Wählern”, also Bürger, die sagen dass sie zur Wahl gehen werden, und auch wissen, für wen sie stimmen wollen.

Dennoch: so einen politischen Nackenschlag hat Fidesz vor einer Wahl noch nicht kassieren müssen. Zuletzt hielten es viele Beobachter für denkbar, dass die Opposition bei den Kommunalwahlen ihre Hochburg Budapest verlieren könnte, da die Fahrrad-zentrierte Verkehrspolitik des „grünen” Oberbürgermeisters Gergely Karácsony vielen Autofahrern auf die Nerven geht. Durch den Skandal könnte er aber seinen Chancen wieder verbessern. Weniger düster sieht es vielleicht bei den EU-Wahlen aus. Die abstoßende Wirkung, die die Strafpolitik der EU gegenüber Ungarn auf viele konservative Wähler hat, dürfte allein schon für einen Fidesz-Erfolg reichen.

Die Opposition wird nun versuchen, die These zu verbreiten, die ominöse Begnadigung sei auch von Orbán abgenickt worden, denn angesichts des politischen Risikos müsse er davon gewusst haben. Bislang nimmt Frau Novák alle Schuld auf sich. Eine dauerhafte Begrenzung des politischen Schadens wird (auch) davon abhängen, dass sie diese Rolle weiter spielt – und dass es keine weiteren Enthüllungen zu dem Fall gibt.

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Kommentare ( 14 )

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Mausi
10 Monate her

Vielleicht hilft es den Ungarn bei ihrer Entscheidung, wenn sie sich Polen ansehen. Ich hoffe, Herr Orban findet eine Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen.

Last edited 10 Monate her by Mausi
Tin
10 Monate her

Eine EU-Honigpfalle gegen Orban. Diese EU ist durch und durch korrupt und menschenfeindlich eingestellt. Ein Handlanger megareicher US-globalimperialistischer Eugeniker.

Nibelung
10 Monate her

Die ganzen Heinis von oben, in Politik und Wirtschaft muß man halt persönlich kennen um zu wissen, daß sie nichts außergewöhnliches darstellen und sie mit den gleichen Mängeln behaftet sind wie viele andere auch und wer die noch für voll nimmt, hat es leider nie erlebt wie sie ticken und deshalb sind sie von einem unerklärlichen Nimbus umgeben, der keinesfalls gerechtfertigt ist, von Ausnahmen abgesehen, die was können und sich dessen auch bewußt sind und nicht prahlen müssen.

H. Priess
10 Monate her

Nachtrag zu meinem Beitrag. Ich schrieb eigentlich, daß der Täter zweidrittel seiner Haftstrafe verbüßt hatte und mit elektronischer Fußfesseln zu Hause war. Diese Reintegrationsmaßnahme hätte nach neun Monaten sowieso endgültig zur Freilassung geführt. Hinzufügen möchte ich, daß er „nur“ wegen Nötigung und Bestechung angeklagt war. Ich konnte den Artikel im Net nicht mehr finden hatte ihn aber Glücklicherweise abgespeichert. Budapester Zeitung 07.02.2024
Ich finde diese Hintergrundinfomationen sind wichtig um die Tragweite der Rücktritte zu erklären.

H. Priess
10 Monate her

Ich wunderte mich darüber, daß das den Rücktritt zweier hochrangiger Ministerinnen zur Folge hatte. Bei uns wäre ein Sturm der Begeisterung über die Begnadigung durch die Meien gegangen. Andere Länder, andere Sitten. Im August fahre ich wieder nach Budapest dieses mal zum Nationalfeiertag. Ich liebe die Stadt, ich liebe die Ungarn und einfach mal spät Abends ohne Angst in einer Stadt unterwegs zu sein werde ich genießen. Kann ich nur jedem empfehle

Last edited 10 Monate her by H. Priess
Dominik R
10 Monate her

Zwei sehr kluge und attraktive Frauen verlassen die ungarische Bühne. Sie haben einen satten Fehler zu verantworten. Der Schaden ist groß für die Partei Fidesz. Ob nun Orbán andere Frauen mit diesem Talent aus dem Hut zaubern kann, bleibt abzuwarten. Ich sehe da keine. Die linksgrüne Opposition reibt sich die Hände. Gruß aus Budapest.

Mausi
10 Monate her
Antworten an  Dominik R

Es ist immer wieder erstaunlich, wie gut es gelingt, konservative Politiker aus dem Verkehr zu ziehen.

ketzerlehrling
10 Monate her

Orban wird es nicht gleich zu Fall bringen, aber es kratzt ihn an. Die Opposition ist in Ungarn genauso aktiv und die linksgrün Verstrahlten auf dem Sprung wie bei uns. Allerdings haben die, in dem Falle die Präsidentin und die Justizministerin, soviel Anstand, um zurückzutreten und den Schaden, soweit möglich, für die Regierungspartei zu begrenzen. Wäre hierzulande nicht üblich, da die Regierungsparteien, in welcher Koalition und Teicks auch immer, vermutlich Regierungsparteien bleiben, glauben sie zumindest.

Krauti
10 Monate her

Man könnte meinen, da bringt jemand von außen Unruhe in ein Land, dessen Regierungschef Orban bei den EU-Oberen sehr unbeliebt ist.

P. Pauquet
10 Monate her

Ein journalistischer Beitrag in Art und Weise, wie er nicht besser sein kann, so wie es in den „guten alten Zeiten“ üblich war. Das fällt unabhängig vom Thema auf.

Mir persönlich waren diese Ereignisse in Ungarn unbekannt. Erstaunlich ist aber, dass trotz Taktirerei zurückgetreten wird. … Ist ja hier im Land völlig unbekannt geworden. Unfassbar, dass das tatsächlich geht. Wer hätte das gedacht?

Der böse Orban.

Agrophysiker
10 Monate her

Natürlich dürften die Vorwürfe eigentlich Orban im Visier gehabt haben. Dabei gehe ich stark davon aus, dass die Begnadigung von Orban nicht gewünscht oder gar initiiert wurde. Eigentlich stellt sich die Frage, von wem die Initiative für die Begnadigung ausging. Denn typischerweise geht die Initiative dafür meist nicht vom Staatschef aus (außer bei persönlichen Beziehungen!). Insofern ist das auch für Orban eine Gelegenheit, den Staatsapparat von Pädofiliefreunden zu reinigen! Diesbezüglich ein Negativbeispiel sind da die USA. Da wurde der Folksänger Peter Yarrow, der wegen sexuellen Handlungen mit einer 14-Jährigen verurteilt worden war, von Carter am Ende seiner Präsidentschaft begnadigt. Zuvor… Mehr