Prigoschin beendet Marsch auf Moskau und setzt sich nach Weißrussland ab

Spätestens seit auch Putin in seiner Rede selbst das Wort „Aufstand“ benutzt hat, ist klar: Innerhalb Russlands findet eine Auseinandersetzung statt, von der niemand sagen kann, wie sie ausgeht und welche Ausmaße sie annimmt. Auch das Schicksal von Prigoschin und seiner Truppe ist ungewiss.

IMAGO / ZUMA Wire
Wladimir Putin, Moskau, Russland, 24.06.2023
Aktualisierung 23.00 Uhr: Der Chef der Wagner-Truppen Prigoschin hat den Vormarsch seiner Streitkräfte auf Moskau offenbar abgebrochen (dts). „Da wir alle Verantwortung dafür tragen, dass auf keiner Seite russisches Blut vergossen wird, drehen unsere Kolonnen um und brechen in die entgegengesetzte Richtung zu den Feldlagern auf, wie es der Plan vorsieht“, sagte Prigoschin in einer Audiobotschaft, die über seinen eigenen Telegram-Kanal verbreitet wurde.

Nach Medienberichten hat der weißrussische Machthaber Lukaschenko zuvor zwischen Putin und Prigoschin vermittelt und dabei Sicherheitsgarantien für die Wagner-Truppen erhalten. „Derzeit liegt eine absolut profitable und akzeptable Option zur Lösung der Situation auf dem Tisch, mit Sicherheitsgarantien für die Wagner-PMC-Kämpfer“, wird der Pressedienst Lukaschenkos von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria zitiert.

Prigoschin ist wohl aus Rostow mit Ziel Minsk abgereist. Anschließend war wieder russische Polizei in den Straßen der Stadt zu sehen. Erstaunlich großzügig sind die Zugeständnisse des Kremls an die Wagner-Gruppe – sofern sie halten. Zwar blieb das große Blutvergießen aus, doch haben Prigoschins Söldner der russischen Armee Verluste zugefügt und offen revoltiert. Ob man da wirklich so einfach zur Tagesordnung übergehen wird? Und Prigoschin wiederum gibt sich mit ein paar Umbesetzungen im Verteidigungsapparat und der Absetzung des Verteidigungsministers zufrieden? Schwer zu glauben.

Einer unserer Kommentatoren bringt es auf den Punkt: „Nach allen Regeln der Logik ist Prigoschin jetzt ein toter Mann. Er hat glasklar bewiesen, dass er Putin in die Knie zwingen will und meint, Putin lässt es jetzt einfach dabei bewenden. Vertrauen wird Prigoschin nie mehr irgendjemand, weder Freund noch Feind – allein deshalb ist er erledigt.“ Die Vorstellung, dass Prigoschin über das Arsenal an Massenvernichtungsmitteln der früheren Sowjetunion verfügen könnte, war auch nicht gerade beruhigend.

Klar ist: Nichts ist klar nach so einer operettenhaften Lage. Russland ist tief gespalten, Putin angeschlagen, die Militärführung offenkundig uneins. Auch wenn aktuell ein heißer Bürgerkrieg vermieden wurde – es ist kein Zeichen von Führungsstärke. Nach unbestätigten Meldungen verhaften in Russland die Geheimdienste Familienmitglieder von Wagner-Offizieren und Söldnern. Umgekehrt war es unter Soldaten der russischen Verbände zu Verbrüderungsszenen mit Prigoschin gekommen. Es wurden viele Schwächen der russischen Militärs aufgedeckt; dass in Moskau die Verkehrsachsen mit Müllautos blockiert wurden, zeigt, dass offensichtlich keine militärischen Reserven mehr vorhanden sind.

Die gespaltene Politik Russlands

Im Putin-freundlichen Twitter-account @ZentraleV, den ich  schon mal nannte, ist ein Fünfteiler platziert, aus dem ich zitiere:

  • Was passiert hier gerade? Die Antwort ist ganz einfach: Ein Putsch, aka Staatsstreich, Russen kämpfen gegen Russen, aka Bürgerkrieg. Ich hatte gehofft, dass der Konflikt, der bereits seit Wochen schwelte, gelöscht werden kann.
  • Es war aber kein Konflikt, sondern der Prolog eines Putsches, ein Werben um Zustimmung in der russischen Bevölkerung. Und genau darum geht es: Prigoschin kann auch mit 50.000 Mann nicht das Land besetzen und seinen Willen aufzwingen. Die Russen müssen mitmachen.
  • Ohne Nachschub wird er sein Ziel nicht erreichen. Er wird den Putsch vorbereitet und Reserven angelegt haben, aber auch die werden aufgebraucht. Entscheidend sind die kommenden Stunden. Solidarisiert sich die russische Bevölkerung nicht, scheitert Prigoschins Putsch.

Der Pro-Ukraine-Twitter-account @BrennpunktUA will Zulauf für Prigoschin von russischer Seite ausmachen:

Zwischen diesen Polen finden sich unzählige Meldungen und Gerüchte, wie das jeder Beobachter von Anfang an wusste: Solche über eine Verlegung von Regierungsstellen aus Moskau nach Sankt Petersburg fehlen nicht, auch nicht Berichte über die Errichtung von Verteidigungsstellungen rund um Moskau, Militärbewegungen auf Moskaus Straßen, die Vorbereitung von Brückensprengungen südlich der Hauptstadt, und so weiter und so fort.

Der Ukrainer @Gerashchenko_en twittert, das Akhmat Bataillon (Kadyrow) mache sich dran, Prigoschin aus Rostow zu vertreiben:

— Anton Gerashchenko (@Gerashchenko_en) June 24, 2023

Was immer nun genau passiert, welche Meldungen stimmen und welche nicht – eines ist klar, spätestens seit Putin in seiner Rede selbst das Wort „Aufstand“ benutzte und diese Rede überhaupt gehalten hat: Innerhalb Russlands findet eine bewaffnete Auseinandersetzung statt, von der ich wie die meisten nicht sagen kann, wie sie ausgeht und welche Ausmaße sie annimmt.

Alexander Etkind, Professor an der CEU in Wien, schreibt die Wiener Tageszeitung Die Presse, sehe kein schnelles Ende des Konflikts, sondern meine, der Einmarsch Prigoschins in Russland bedeute Bürgerkrieg, er nenne das „Deföderalisierung“, „Zerfall der Russischen Föderation, die Befreiung seiner konstituierenden Teile von einer Moskauer Herrschaft sowie die Entstehung einer neuen rechtlichen und politischen Struktur im nördlichen Eurasien“. Der prominente Historiker habe sich in der Vergangenheit intensiv mit der russischen Kolonialgeschichte beschäftigt und erst vor wenigen Wochen die Monografie “Russia Against Modernity“ über den Kampf des Putin’schen Regimes gegen das Zeitgenössische vorgelegt.

Ob „Deföderalisierung“ nicht zumindest der zeitlichen Entwicklung weit voraus eilt, lasse ich dahingestellt. Dass „Deföderalisierung“ von „Reichen“ aller Art der Weg in eine bessere Ordnung wäre, habe ich auf TE schon oft geschrieben.

Etkind sieht aktuell zwei Möglichkeiten für Prigoschin und Verbündete: Angriff auf Moskau oder Machtbasis im Süden – entweder einen sehr riskanten Angriff auf Moskau oder eine weniger riskante Variante, in einigen Regionen im Süden Russlands seine Macht zu konservieren. Letzteres würde Prozesse am Kaukasus starten, zur Abspaltung Tschetscheniens führen und einen Dominoeffekt auslösen.

Ob Etkind die Kräftekonstellation in Russland richtig einschätzt – einschätzen kann –, weiß ich nicht. Dass er es tut und damit Überlegungen und Perspektiven aufgreift, die andere auch schon recht ähnlich schilderten, ist ebenso ein Datum wie die Tatsache, dass die Frage, wie es mit Putin und in Russland weitergeht, seit heute in einem anderen Licht erscheint als für viele gestern noch. Was das für den Ukraine-Krieg bedeuten wird, schließt sich als Frage an. Weshalb die Regierung in Kiew zu den Vorgängen in Russland öffentlich nichts sagt, beantwortete Christian Wehrschütz in einer Sondersendung des ORF heute frühmittags, als ARD und ZDF wie üblich noch schliefen: Das Positive für die Ukraine wäre, dass der Konflikt zwischen zwei Parteien stattfände, die sonst gegen die und in der Ukraine kämpften, da sei es nur klug, sich einfach schweigend rauszuhalten. In den Abendstunden begannen einzelne  Ukraine-Offizielle, die Chancen der Lage für eigene militärische Operationen öffentlich auszutasten.

Bei aller Vorsicht gegen alle Nachrichten aus und in welche Richtung auch immer, eines kann ich leider ohne jeden Zweifel vorhersagen: Eine Eskalation unkalkulierbaren Ausmaßes steht uns erst noch bevor – und eine Entwicklung, auf die zwei keinerlei Einfluss haben werden: die deutsche Regierung und die EU-Kommission.

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