Die kulturell-defizitären Erklärungsansätze des Donald Tusk

Nach 100 Tagen im Amt hat der polnische Ministerpräsident Donald Tusk nur wenige der für diese Zeit angekündigten Vorhaben umgesetzt. Stattdessen macht die neue Regierung weiterhin durch spektakuläre Rechtsbrüche auf sich aufmerksam: Über fünfzig Botschafter und Diplomaten warten auf ihre Abberufungsbescheide. Zudem will Tusk rechtswidrig den Notenbankchef aus dem Sattel heben.

IMAGO

Üblicherweise haben neue Regierungen bei der Aufnahme der Amtsgeschäfte hundert Tage Schonfrist. Über das bisher Erreichte können sich Unterstützer und Gegner der neuen polnischen Regierung auf der Faktenebene einig werden, jedoch gewiss nicht in der Bewertung des gemeinsam Erkannten. Für die einen ist Ministerpräsident Donald Tusk ein starker Politiker, der es trotz seiner Wahlniederlage geschafft hat, eine Koalition zu bilden, die das Land von „antieuropäischen“ Politikfehlern befreit sowie auf einen zwar rechtlich umstrittenen, doch erfolgreichen linksliberalen Kurs geführt hat.

Den anderen erscheint Polen seit dem Amtsantritt Tusks am 13. Dezember als bestenfalls defizitäre Noch-Demokratie, als ein halbdiktatorisches Regime, was auch die konservative Opposition immer wieder zu bekräftigen pflegt. Und offenbar ist zwischen den Verfechtern dieser zwei Positionen keinerlei Vermittlung möglich. Wer hat denn nun recht? Man muss dem Leser nicht zwangsläufig politische Ansichten oder Deutungsvorlieben aufdrängen, um einige Tatsachen nebeneinanderzustellen, die sich in größere Zusammenhänge stellen lassen: Nachdem der staatliche Fernsehsender TVP mit der Hilfe befreundeter Türsteherdienste unter Regierungskontrolle gebracht, die Widerstandskraft der Justiz geschwächt und beinah ein Bürgerkrieg gegen die Landwirte entfesselt wurde, drängt sich durchaus die Vermutung auf, dass das politische System Polens nach ca. drei Monaten nur noch einen Bruchteil demokratischer Prinzipien erfüllt.

Hundert konkrete Maßnahmen

Was wurde denn aus den wichtigsten Wahlversprechen des polnischen Premiers? Im Wahlkampf kündigte Donald Tusk 100 konkrete Maßnahmen an, erfüllt wurde davon nur wenig. Die anfängliche Hochstimmung seiner Wähler könnte sich also bald verflüchtigen, zumal die von der konservativen Vorgängerregierung eingeführten und bei jungen Familien überaus beliebten Zuwendungen ihn an der Finanzierung der anderen großspurig angekündigten Wahlversprechen hindert. Unlängst hat Tusk zugegeben, dass er die Einführung eines Steuerfreibetrags bis 60.000 Złoty (15.000 Euro) auf das nächste Jahr (folglich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag) verschieben müsse. In einigen Tagen wird wegen die wegen hoher Inflationsraten ausgesetzte Mehrwertsteuer auf Lebensmittel wieder eingeführt.

Außerdem sägt Tusk am Ast, auf dem die meisten seiner Landsleute sitzen: Für viele polnische Bauern ist der frühere EU-Ratspräsident ein Interessensvertreter Brüssels. Die Landwirte geben sich mit der jüngst angekündigten Wiedereinführung der EU-Zölle für ukrainische Agrarprodukte nicht zufrieden. Sie fordern ein generelles Importverbot, weil ansonsten der Preisverfall bei heimischen Erzeugnissen nicht abebbe. Darüber hinaus protestieren nicht wenige von ihnen gegen den „Green Deal“ der EU, befürworten gar einen Austritt aus der Gemeinschaft. Zwar versuchen PO-treue Medienmogule mittels der von ihnen besessenen Zeitungen und Rundfunksendern diese Probleme effektvoll zu kaschieren, aber immer mehr Polen erkennen, dass hinter dieser Fassade ihr Land zwar noch keine Diktatur, doch längst auch keine Demokratie mehr ist. Dieser Eindruck verstärkt sich in unmittelbarer Nähe. Als die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) regierte, verliefen sämtliche Demonstrationen relativ friedlich ab. Nun werfen die aufgebrachten Bauern der neuen Regierung vor, durch ungerechtfertigte Eingriffe in die Demonstrationszüge ihre Möglichkeiten zur Artikulation von Protest einzuschränken. Bereits während seiner ersten Amtszeit zwischen 2007 und 2011 sah sich Tusk wiederholt dem Vorwurf ausgesetzt, polizeiliche Gewalt gegen bestimmte Interessensgruppen eingesetzt zu haben, wenn ihm die Argumente ausgingen.

Konflikt zwischen Tusk und Duda

Auch gegenwärtig schafft der erneut an die Macht gelangte Ministerpräsident rasch Tatsachen. Behilflich ist ihm dabei ein sehr hohes Tempo bei der Gesetzgebung. Politisch erwünschte Bestimmungen aus Gesetzen, die vom Warschauer Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt werden, macht die linksliberale parlamentarische Mehrheit durch spontan gefasste Beschlüsse einfach ihrerseits zum Teil des allgemeingültigen Rechts. Mit anderen Worten: Ein bisher unabhängiges Verfassungsorgan sieht sich fortan der Möglichkeit beraubt, der Regierung wirkungsvoll in den Weg zu treten. Um die Justiz lahmzulegen, griffen Tusks Minister gleichfalls zu den Tricks der Personalpolitik. Der neue Justizminister Adam Bodnar versucht, mit aller Gewalt PO-nahe Staatsanwälte ins Amt zu bringen, obschon Staatspräsident Andrzej Duda die Gültigkeit solcher Entscheidungen mehrmals angezweifelt hatte. Die ausgetauschten Juristen wehren sich ebenso gegen ihre Absetzung und kündigten rechtliche Schritte an.

Der latente Konflikt zwischen Tusk und Duda schwelt vor sich hin, auch wenn er bei gemeinsamen Auslandsbesuchen nicht wirklich auffällt. Mitte März sind beide nach Washington gereist, wo sie sich mit US-Präsident Joe Biden zu einem persönlichen Gespräch getroffen haben. Das Foto des Dreiergespanns im Weißen Haus sollte ein starkes Signal aussenden: Trotz innenpolitischer Rivalität ist eine enge Partnerschaft mit den USA im Bereich der Verteidigung in Polen überparteilicher Konsens. Allerdings dürfte Tusk geärgert haben, dass er in Washington nur die zweite Geige spielte. Auf dem Rückflug nach Warschau war daher kein Platz mehr für diplomatischen Zuckerguss. Der Premier und sein Außenminister Radek Sikorski leiteten prompt die Entlassung von mehr als 50 polnischen Botschaftern im Ausland ein und zogen bei der Gelegenheit die Unterstützung für einige Kandidaten der Vorgängerregierung zurück. Auch die Mühe jener Diplomaten, die Sikorski kniend zu überzeugen suchen, dass sie nie etwas mit der Partei PiS zu tun hatten (wenngleich sie faktisch von ihr nominiert wurden), ist offenbar vergeblich. Die Stühle wackeln allerorten.

Für Präsident Duda war dieser Schritt umso erstaunlicher, als er einige Stunden nach dem Ende der als überaus erfolgreich angesehenen gemeinsamen Washington-Reise verkündet wurde (Biden hatte Polen zuvor 96 Hubschrauber des Typs AH-64 Apache zum Verkauf angeboten). Das Verhalten der Regierung offenbare nicht nur „kulturelle Defizite“, sondern rücke das ganze Land in ein schlechtes Licht, meint der Kabinettschef des polnischen Präsidenten Marcin Mastalerek, der hinzufügt, dass nur der Staatschef über die Ernennung und Entlassung von Botschaftern entscheiden dürfe. Was Mastalerek indessen nicht erwähnt, ist die der Regierung zur Verfügung stehende Möglichkeit, Botschafter durch ständige Geschäftsträger (chargé dˈaffaires en pied) zu ersetzen, die dauerhaft diplomatische Vertretungen im Ausland leiten könnten. Darauf wird es wohl hinauslaufen, denn augenscheinlich ist Tusks Rachsucht stärker ausgeprägt als dessen Bereitschaft zur konstruktiven Zusammenarbeit mit dem ersten Mann im Staate.

Rückendeckung aus Brüssel

Kurios: Dieses unzivilisierte Verhalten findet in Brüssel teilweise großen Beifall. So kündigte die EU-Kommission im Februar die Freigabe von 137 Milliarden Euro an, die vorher ob des Justizstreites mit der PiS eingefroren wurden. In dem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, weshalb ein Wahlverlierer wie Tusk, dessen Bürgerplattform ohne die nötigen Bündnispartner (KO) kaum auf 20 Prozent käme, in der Europäischen Union euphorisch als „Retter der Demokratie“ gefeiert wird, während man beispielsweise Viktor Orbán als ihren „Zerstörer“ bloßzustellen pflegt. Und dies, obwohl der ungarische Premier in demokratischen Wahlen knapp 55 Prozent zu holen vermochte. „Tusk befolgt lediglich Empfehlungen aus Brüssel. Es ist traurig, aber dieser Mann hat keinerlei Ideen für sein Land. Stattdessen wird er unentwegt emotional und sucht nach Zielscheiben für seine Rachegelüste“, sagt der PiS-Abgeordnete Paweł Sałek.

Ob die EU Donald Tusk wirklich in allen Belangen unterstützen wird, bleibt allerdings offen. Derzeit ist der polnische Ministerpräsident vor allem damit beschäftigt, Bremsversuche des Verfassungsgerichts wirkungslos zu machen. In diesem Fall bekommt er von seinen Kumpels in Brüssel vollständige Rückendeckung. Der blindwütige Regierungschef setzt aber schon zu dem nächsten Schlag an: Er möchte den amtierenden Präsidenten der polnischen Nationalbank Adam Glapiński loswerden und durch einen PO-treuen „Experten“ ablösen, der Polen „erfolgreich“ in die Eurozone überführt. Die Frage, ob dieser Schritt sinnvoll wäre, diskutieren wir in einem anderen Text. Hier wollen wir nur darauf hinweisen, dass Tusk den nationalen Währungshüter nicht einfach so aus dem Sattel heben darf. Darüber hatte ihn EZB-Chefin Christine Lagarde bereits ausführlich unterrichtet. Tusks Abneigung gegen Glapiński ist jedoch offenkundig so groß, dass er auch in diesem Bereich gängige Regeln missachten und sämtliche Patronagemöglichkeiten nutzen wird, um den Notenbank-Chef zu entmachten. Nahtlos passen all diese Maßnahmen zum öffentlichen Eingeständnis des Premiers, er wolle Polen mit einem „Stahldrahtbesen“ reinigen. Dabei wird Günstlingswirtschaft zu einem gouvernementalen Herrschaftsinstrument. Pünktlich vor der anstehenden Kommunalwahl.

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Kommentare ( 38 )

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giesemann
1 Monat her

Offenbar gibt es große Überschüsse von landwirtschaftlichen Produkten in der EU. Damit das so ist, hat man ja die „EWG“, später EU gegründet nach dem 30jährigen Krieg 2.0 von 1914 bis 1945. In der Tat bekommt ein Bauer heute nicht mehr ein ganzes Schlafzimmer für einen Sack Kartoffeln. Politik mit der Hungerwaffe geht auch nicht mehr so gut, ein „Golodomor“ bleibt hoffentlich aus. Ist das gut oder schlecht? https://de.wikipedia.org/wiki/Holodomor

gmccar
1 Monat her
Antworten an  giesemann

Die selbstständigen Bauern sollen vernichtet werden, damit Leute wir Gates und Larry Fink die Flächen billig einkaufen können. In Folge haben dann und auch jetzt schon Gates, Bezos, Fink in der Hand, was man dem Pöbel noch an Nahrungsmitteln zur Verfügung stellen will. Sie besitzen bereits jetzt schon zusammen Flächen in der Größe der Ukraine (die dann noch dazu kommen soll). Im Rahmen des Great Reset kann dies durchaus ein gewollter Holodomor sein. Dann gibt es halt Insektenbrei zu Mittag.

Haba Orwell
1 Monat her
Antworten an  gmccar

> Sie besitzen bereits jetzt schon zusammen Flächen in der Größe der Ukraine (die dann noch dazu kommen soll).

Die ist zwar bereits weitgehend aufgekauft, doch jetzt müssten wir noch an die Ostfront, die gekauften Werte westlicher Oligarchen zu verteidigen. Sonst werden die vermutlich verlustig gehen.

Ist es nicht der größte Michel-Traum, für den Gates-Besitz am Dnepr zu sterben? In Polen aber laut einer Umfrage vom März für über 90% doch nicht – die wollen keine Truppen für Werte westlicher Oligarchen schicken.

eifelerjong
1 Monat her

Ich hoffe, die Polen sind „konsequenter“, wenn es um die „Aufarbeitung“ eines Regierungsprogrammes geht, dem offensichtlich alle Maßstäbe verloren gegangen sind und das am Brüsseler Gängelband hängt.

Giovanni
1 Monat her

Eine Reaktion auf das diktatorische Handeln der neuen polnischen Regierung bleibt in Brüssel aus. Brüssel arbeitet sich dagegen an Orban ab. Während Tusk sich Brüssel anbiedert, ist Orban gegenüber dem öko-sozialistischen Brüssel kritisch. Es wird allerhöchste Zeit, daß sich die Situation nach den EU-Wahlen ändert.

Berlindiesel
1 Monat her

Man kann manche Dinge auch anders lesen. Beginnen wir, weil man um das Thema ja kaum drumherum kommt, mit der Ukraine, die für Polen nochmal eine ganz andere Bedeutung hat als Deutschland, auch wenn der polnische Sozialstaat bisher für Deserteure und Kriegsflüchtlinge von dort keine Alternative zu Deutschland war. Andererseits gebietet es die politische Vernunft, anzuerkennen, dass die Ukraine längst ein informelles Mitglied der EU ist Die offizielle Mitgliedschaft dürfte auch in ein, zwei Jahren, wenn der Krieg ausgebrannt sein wird, Teil des Deals sein, der die Ukraine dazu bewegen wird, die Gebietsverluste an Russland hinzunehmen und den Krieg damit… Mehr

Haba Orwell
1 Monat her
Antworten an  Berlindiesel

> Beide Völker waren nach verspielter Größe 200 Jahre von den Russen unterjocht.

Diese „verspielte Größe“ bedeutet: 1612 wurde Polen-Litauen aus Moskau vertrieben, was in Russland bis heute als einer der wichtigsten Feiertage gefeiert wird. Irgendwann wird man in Polen verstehen, dass auch Polen und Litauen nicht unschuldig waren, wenn die Kraft dazu reichte. Daraus könnte längst fällige Versöhnung resultieren.

Marcel Seiler
1 Monat her

„Die Zölle auf Ukraine Produkte sind eh eine Mogelpackung, weil die Ukraine nichts aus eigener Tasche davon bezahlt, da pleite.“

Zölle werden üblicherweise vom Importeur, also vom Käufer der Ware bezahlt. In diesem Fall also nicht von der Ukraine, sondern von dem Käufer der ukrainischen Produkte. Und der ist natürlich nicht pleite.

c0benzl
1 Monat her

Tusk ist das Kuckucksei der EU. Offensichtlich ist er dazu installiert, die konservative PIS moeglichst zu zerschlagen. Dies koennte gelingen.

Die Polen werden den Masterplan erst zu spueren bekommen, wenn es zu spaet fuer eine Umkehr ist.

Ananda
1 Monat her

Bereits während seiner ersten Amtszeit zwischen 2007 und 2011 sah sich Tusk wiederholt dem Vorwurf ausgesetzt, polizeiliche Gewalt gegen bestimmte Interessensgruppen eingesetzt zu haben, wenn ihm die Argumente ausgingen.“
Was treibt Politiker an, trotz der besseren Argumente (besserer Weg) der Gegenseite, den eigenen Holzweg auch noch mit Gewalt durchzudrücken ? Der Nutzen des Landes kann es ja wohl kaum sein.
Die deutschen Politiker sind ebenfalls „Experten“ in diesem unverständlichen Verhalten. Dito „Günstlingswirtschaft“.
„Tusk“ ist ein klares Beispiel dafür was uns mit der Willkür EU erwartet.

Ben Clirsek
1 Monat her

Es sollte Deutschland egal sein, was seine Nachbarn innenpolitisch so treiben. Deren Land, deren Regierung. Wir haben unsere eigenen Probleme zu lösen.

Ernst K.
1 Monat her

Ich bin auf das Ergebnis der Kommunalwahlen gespannt.

Haba Orwell
1 Monat her

> Bereits während seiner ersten Amtszeit zwischen 2007 und 2011 sah sich Tusk wiederholt dem Vorwurf ausgesetzt, polizeiliche Gewalt gegen bestimmte Interessensgruppen eingesetzt zu haben, wenn ihm die Argumente ausgingen.

Peinlich, dass er sich dennoch zuletzt bei den Stimmen verbessern konnte – nur 12 Jahre später. Derartige Demenz war bisher eher denWählenden:innen zuzutrauen.