»Widerstand darf nicht in Zwang ausarten«

In der Auseinandersetzung mit einem neu-autoritären Zeitgeist finden sich plötzlich auch die Linken und Liberalen dort, wo einst die Konservativen waren: außerhalb des zugelassenen Meinungsspektrums. Ein Offener Brief von über 150 Intellektuellen nimmt Stellung gegen die »Cancel-Culture«.

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Man sagt, was heute in Amerika in Mode ist, wird bald auch bei uns ankommen. Nun bleibt die Frage ob es sich wirklich nur um eine Mode handelt bei dem, was gerade in den Zeitungen, Verlagen und Universitäten der USA vor sich geht. Dass es sich tatsächlich um epochale Geschehnisse handelt, kann jedenfalls niemand mehr ausschließen. Epochal – das hieße, dass die heute angestoßenen Neuerungen nicht nur bleiben werden, sondern auch ein neues Zeitalter begründen, das einen anderen Charakter trägt als der Abschnitt zwischen Zweitem Weltkrieg und Heute.

Der »Brief über Gerechtigkeit und offene Debatte«, den über 150 Intellektuelle nun veröffentlicht haben und der in der Oktober-Ausgabe des Harper’s Magazine erscheinen soll, ist vielleicht ein Zeichen für eine solche Epochenwende. Erstmals sind es nicht einzelne vom Hof gejagte Konservative oder auch Liberale, sondern eine ganze Batterie von meist liberalen oder sogar linksgerichteten Intellektuellen, die eine Pathologie unseres Zeitalters nachzeichnen, unter ihnen die Schriftsteller Louis Begley, Jeffrey Eugenides, J. K. Rowling und Salman Rushdie, der linke Linguist Noam Chomsky, der Politologe Francis Fukuyama, nicht zu vergessen Garry Kasparow und Wynton Marsalis. Sogar CNN-Moderator Fareed Zakaria trägt den Brief mit, um nur die allerbekanntesten Namen zu nennen.

Am Ursprung des Briefs steht der Autor und Publizist Thomas Chatterton Williams, Sohn eines Schwarzen und einer Weißen, der in seinem Buch Self-Portrait in Black and White für die Ablegung der eindeutigen Rassenidentitäten plädierte. Williams, durchaus eine Stimme aus dem liberalen Establishment, hält zwar auch Donald Trumps »Illiberalismus« für eine Gefahr, so wie es auch im ersten Absatz des Briefes deutlich wird. Doch die »Korrektur von Trumps Übergriffen darf keine Überkorrektur werden, die die Grundsätze, an die wir glauben, unterdrückt«.

»Widerstand darf nicht in Zwang ausarten«

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Der Brief beginnt mit einer Reverenz an die aktuellen »Proteste für rassische und soziale Gerechtigkeit«, die sich mit Forderungen nach »Polizeireform« und dem Ruf nach mehr »Gleichheit und Inklusion« verbänden. Gerechtigkeit, Gleichheit, Inklusion – das sind Eckpfeiler eines sozialdemokratischen Denkens, wie wir es kennen. Merkwürdig nur, dass hier von »Reform« die Rede ist, wo die BLM-Demonstranten für die Abschaffung der Polizei plädieren.

Allerdings geht diese Bestandsaufnahme in Sachen »Gerechtigkeit« – so die Autoren des Briefs – mit »moralischen Einstellungen« und »politischen Bekenntnissen« einher, die eben das schwächen könnten, was man bisher als »offene Debatte« gepflegt hat. Das Ertragen von Unterschieden weiche damit einer gewollten »ideologischen Einförmigkeit«. Und gestärkt würden so die »Kräfte des Illiberalismus«, die man ohnehin weltweit auf dem Vormarsch sieht. Hier fällt auch der Name Donald Trump, der eine »echte Gefahr für die Demokratie« darstellen soll. Doch der »Widerstand« gegen ihn dürfe nicht selbst in »Dogma oder Zwang« ausarten. Ein intolerantes Meinungsklima kann nicht zur »demokratischen Inklusion« führen.

Die Forderung nach Inklusion und also besserer Repräsentation bestimmter Anliegen beziehen die Autoren übrigens vor allem auf die Bereiche von »höherer Ausbildung, Journalismus, Philanthropie und die Künste« – also auf ihren eigenen Wirkensbereich. Unterzeichnet haben den Brief vor allem Universitätsprofessoren, Journalisten und Schriftsteller.

Schreibende schränken ihre Freiheit ein – warum?

Im Detail kritisieren die Autoren eine wachsende »Intoleranz für andere Meinungen« und die Tendenz, auf komplexe politische Fragen mit »blindmachender moralischer Gewissheit« zu antworten. Schließlich beklagen sie eine »Welle der öffentlichen Beschämung und des Ostrazismus« – also der Exilierung bis dahin verdienter Mitglieder verschiedener Organisationen, wie man sie zuletzt bei einigen einflussreichen Journalisten gesehen hatte. Dagegen sei die »robuste, ja beißende Gegenrede« von allen Parteien zu ertragen. An die Stelle einer solchen Toleranz der Differenz treten aber, gemäß den Autoren, immer öfter eilfertige und strenge Strafen, mit denen man auf »wahrgenommene Überschreitungen in Sprache und Denken« reagiere. Die konkreten Beispiele öffnen noch einmal die Büchse der Pandora, die tatsächlich schon fast leergeräumt am Boden liegt: Herausgeber werden für umstrittene Meinungsstücke gefeuert, Bücher wegen angeblichen Mangels an »Authentizität« nicht herausgegeben, Journalisten dürfen nicht über bestimmte Themen schreiben, Professoren nicht bestimmte Autoren vor ihren Schülern zitieren. Ein Forscher sei sogar entlassen worden, weil er eine von Fachkollegen geprüfte (»peer-reviewed«) Arbeit verschickt habe.

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Die Folgen aller dieser Maßnahmen seien: Die Grenzen des Sagbaren werden enger, Autoren, Künstler und Journalisten vermeiden Risiken, indem sie sich in vorauseilendem Gehorsam zahmer ausdrücken, den angenommenen »Konsens« befolgen. Schon mangelndes Engagement für den »guten Zweck« kann da schon zu einer Einbuße an allgemeiner Akzeptanz führen. In diesen Worten erkennt man den sozialen Mechanismus des »virtue signalling« wieder.

Der Schlüsselsatz steht im dritten und letzten Absatz des Briefes: »Schlechte Ideen werden durch Offenlegung, Streit und Überzeugung besiegt, nicht indem man sie verschweigt oder wegwünscht.«

Als Autoren wissen alle Unterzeichnenden, dass es beim Schreiben Raum für Experimentieren, Risikobereitschaft und sogar Fehler geben müsse.

Meinungsunterschiede müssten möglich sein, ohne gleich berufliche Konsequenzen erwarten zu müssen. Im letzten Satz des Briefs verdichtet sich dieses Bekenntnis zur offenen Debatte zu einer Definition der schreibenden Profession: »Wenn wir nicht das verteidigen, von dem unsere Arbeit abhängt, sollten wir nicht erwarten, dass die Öffentlichkeit oder der Staat das für uns tut.«

Und die Arbeit der Schreibenden hängt offenbar in grundlegender Weise von der Freiheit ab. Wenn Autoren, Journalisten und Universitätslehrer dagegen ihre eigene Freiheit immer weiter einschränken, ob in vorauseilendem Gehorsam oder weil sie dem Druck von außen nachgeben, wird niemand das retten, was ihnen wichtig ist.

»Die Konsequenzen werde ich tragen müssen. Es tut mir sehr leid.«

Zustimmende Kommentatoren sind sich nicht sicher, ob sie den Inhalt des Briefs als eine Selbstverständlichkeit ansehen oder ihn als langersehntes Fanal gegen einen illiberalen Zeitgeist begrüßen sollen. Kontroverse Themen diskutieren, ohne dafür gefeuert zu werden? Das erscheint einigen in der heutigen Zeit schon als radikale Forderung. Wie die New York Times berichtet, wurden einige der Unterzeichner in den ›sozialen‹ Medien sogleich wegen ihrer Dünnhäutigkeit und »wegen ihres Privilegs« angegriffen. Doch das ist offenbar genau der Neusprech, den die Briefautoren anprangern.

Thomas Chatterton Williams erwiderte, dass der Brief eben nicht von einer Gruppe »alter weißer Leute« geschrieben worden sei. An ihm hätten um die 20 Autoren mitgewirkt, darunter Schwarze, Muslime, Juden, Alte und Junge, Rechte und Linke. Die in dem Brief vertretenen Werte seien weitverbreitet und würden von vielen geteilt. Die List der Unterzeichner reflektiere das – sogar einige Meinungsjournalisten der New York Times haben den Brief unterzeichnet.

J. K. Rowling tweetete: »Ich war sehr stolz, diesen Brief zu unterschreiben, der ein grundlegendes Prinzip einer liberalen Gesellschaft verteidigt: die offene Debatte und die Freiheit von Denken und Sprache. Gerade die Unterschrift von Rowling sorgt nun mit für den meisten Trubel, gilt sie doch inzwischen als eine der führenden »Anti-Trans-Stimmen«, was die Schriftstellerin wohl selbst verneinen würde.

Einige Unterzeichner haben ihre Unterschrift – folgend auf die öffentliche Kritik – auch schon wieder zurückgezogen und damit im Grunde den Anlass des Briefes bestätigt. Eine Unterzeichnerin, die Autorin Jennifer Finney Boylan, hatte den Brief für einen »wohlmeinenden, vielleicht etwas vagen Aufruf gegen Internet-Shaming« gehalten. Da Chomsky und andere unterschrieben, konnte sie es auch tun. Nun zog sie ihre Unterschrift zurück: »Die Konsequenzen werde ich tragen müssen. Es tut mir sehr leid.«

— Jennifer Finney Boylan ? (@JennyBoylan) July 7, 2020

Dagegen begrüßte Niall Ferguson den Brief ausdrücklich, an dem ihn nur der ostentativ tugendhafte erste Absatz mit dem negativen Verweis auf Trump stört. Ferguson fragt sich allerdings, warum diese Reaktion auf den neu-autoritären Zeitgeist nicht schon früher kam, als mit Vorliebe konservative Intellektuelle aus dem ›inneren Kreis‹ der Debatte ausgestoßen wurden. Als Beispiel nennt Ferguson die Kehrtwende der Brandeis-Universität in Sachen der Islam-Kritikerin Ayaan Hirsi Ali, die 2014 dann doch keine Ehrendoktorwürde erhalten sollte. Der Historiker Ian Buruma, bis 2018 einflussreicher Herausgeber der New York Review of Books, hatte Ali damals vorgeworfen, nur eine »in Europa verletzliche Minderheit« anzugreifen, nicht – wie einst Voltaire – eine allmächtige Kirche. Heute gehört Buruma zu den Unterzeichnern des Offenen Briefs.

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