Israels Demokratie in Gefahr: Nach Krisen wurde es immer besser

Es gibt Grund zur Sorge, aber Israel wird aus seiner Midlife-Krise gestärkt hervorgehen. Denn 9,7 Millionen Israeli kennen den Wert ihres Landes. Drei Generationen haben zu viele Opfer gebracht. Israel ist aus Krisen stets siegreich hervorgegangen. Es sah immer ganz schlimm aus und es wurde hinterher immer besser.

IMAGO / ZUMA Wire
Regierungskritische Demonstration in Tel Aviv am 04.02.2023

Ja, es stimmt, Israels Demokratie ist in Gefahr. Aber in Israel ist seit 75 Jahren alles in Gefahr, sogar das Leben jedes Einzelnen. Bei Juden ist seit 3000 Jahren Gefahr Bestandteil des Daseins. Israel hat schon Schlimmeres überstanden als Benyamin Netanyahu, Itamar Ben Gvir und Aryeh Deri, drei von mehreren Komplizen, die Hand anlegen wollen an Israels Zukunft – und zwar sofort. Es gibt Grund zur Sorge, aber Israel wird aus seiner Midlife-Krise gestärkt hervorgehen. Denn 9,7 Millionen Israeli kennen den Wert ihres Landes. Drei Generationen haben zu viele Opfer gebracht. Israel ist aus Krisen stets siegreich hervorgegangen. Es sah immer ganz schlimm aus und es wurde hinterher immer besser.

Netanyahu greift nach mehr Macht
Israel im Machtkampf zwischen neuer Regierung und Gerichten
Das israelische Rechtssystem hat einen Ministerpräsidenten, einen Staatspräsidenten und mehrere Minister bereits hinter Gitter geschickt und aus ihren Ämtern gejagt. Das ist eine Schande, aber ein unübersehbares Zeichen dafür, dass das Rechtssystem funktioniert. In Israel sitzen auch führende Politiker auf der Anklagebank, weil der Staatsanwalt den Staat schützt und verteidigt. In Deutschland genießen Ex-Politiker, die politische Schuld auf sich geladen haben, den Ruhestand mit einer fetten Pension und zeigen nicht einmal Reue. Die israelischen Massenmedien in Wort, Bild und Ton sind hellwach, prangern unermüdlich Missstände an. In Deutschland wird mit den Wölfen geheult und werden die Kassen geplündert. Aktuell stürmen in Israel Hunderttausende aus allen Schichten und Berufen den fünften Samstag in Folge auf die Straße und artikulieren ihren Protest und ihre Wut. In Deutschland wird gerade die Sprache gegendert, ein Synonym für Zerstörung der Kommunikation.

Diejenigen, die den Balken im eigenen Auge nicht sehen, deuten mit spitzen Fingern auf den Splitter im Auge des Anderen. Der Andere ist ein gern gesehener Gast am Pranger. Das hat Tradition. Einige haben auch Spaß daran.

Die aktuelle Auseinandersetzung ist so neu nicht. Regierungen streiten mit und um das Rechtssystem in vielen Ländern, auch in Deutschland. Israel hat im Gegensatz zu Deutschland keine Verfassung. Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon ist: Die Staatsgründer hatten schlicht keine Zeit. David Ben Gurion hatte die Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948 gerade zu Ende gelesen, da griffen sechs arabische Staaten zu den Waffen. Es herrschte Krieg.

England hat auch keine Verfassung, dafür aber eine Tradition. Die fehlt in Israel. Dafür ist der Staat zu jung. Also versuchen Richter gegen Politiker und umgekehrt das letzte Wort zu haben, wenn es um Gesetze und Verordnungen geht. Gewählte Politiker berufen sich auf das Volk. Richter und Staatsanwälte verteidigen qua Ausbildung und Amtsethos die Gewaltenteilung in einer Demokratie, die in Israel auch auf der Thora, der jüdischen Bibel, dem Alten Testament fußt. Alles wie gehabt.

Zum 6. Mal als Ministerpräsident gewählt
Israel: Netanyahus Erfolg ist eine große Bürde
Aber am 1. November wählte das Volk Ultra-Rechte und Orthodoxe, die sich eines angeschlagenen Netanyahus bedienen und umgekehrt, erstmals an die Macht. Dort tummeln sich jetzt Figuren, die einen verengten Kanalblick haben. Die Ultraorthodoxen haben geistig das Ghetto noch nicht ganz verlassen und die Ultra-Rechten träumen von einem jüdischen Israel ohne Respekt vor Minderheiten.

Israel ist aber mehrheitlich ein moderner High-Tech-Staat mit einer funktionierenden Infrastruktur und einer vom Wachstum bestimmten Wirtschaft, die soziale Spannungen weitgehend im Griff hat. Energie und Trinkwasser sind langfristig gesichert. Einmalig im Nahen Osten. Erschaffen und nachhaltig entwickelt durch ein ausgebildetes und gebildetes Volk mit einer jahrtausende-alten Erfahrung. Zusammengefasst in dem sarkastischen Spruch: Sie haben versucht uns umzubringen, wir haben sie alle überlebt, lasst uns essen, trinken und singen. Dafür gibt es zurzeit keinen Anlass. Es geht ums Ganze.

Wenn die Regierung mit der Gerichtsbarkeit im Clinch liegt, ist das ein gesunder Spannungszustand. Das Höchste Gericht in Israel hat seit Mitte der 90er Jahre die Macht, Gesetze zu verhindern. Die Macht kam nicht vom Volk, sondern von einem Juristen, Aharon Barak, der das so festlegte. Damals störte es nicht besonders, Politik und Gesellschaft konnten damit leben. 30 Jahre später kommen messianisch denkende Politiker ans Ruder, die alle Macht besitzen und nutzen wollen. Und zwar sofort. Das gilt es zu verhindern, deshalb gehen jetzt Hunderttausende auf die Straße. Die seit 30 Jahren andauernde fast unumschränkte Macht der obersten Juristen wird die aktuelle Auseinandersetzung auch nicht überleben.

Im 75. Jahr eine geschriebene Verfassung
Präsident Isaac Herzog versucht, einen Mittelweg zu finden. Den es wohl gibt, auch und besonders mit Netanyahu. Er redet radikal, handelt aber umsichtig. Seine Anhänger wollten ihn in den letzten Jahren mehrfach in einen umfassenden Krieg mit Hamas hetzen. Er widerstand. Barack Obama wollte ihn zu einer Zwei-Staaten-Lösung drängen, er verweigerte sich. Die jetzige Herausforderung könnte dazu führen, dass sich Israel im 75. Jahr seiner Existenz eine geschriebene Verfassung gibt, die von allen respektiert wird.

Es zeichnet sich aber auch eine weitere Alternative ab. In Netanyahus Likud-Partei brodelt es. Einige Abgeordnete wollen den Gesetzesvorschlägen der rechts-messianischen Koalition ihre Stimme verweigern. Die Gründe sind vielseitig, nicht selten egoistisch. Das könnte der Anfang vom Ende Netanyahus sein, der sich im 74. Lebens- und 13. Amtsjahr befindet. Ohne „Bibi“ sind rechts von der Mitte, wo Israels Mehrheit liegt, andere Koalitionen möglich. Ziel: eine Regierung der nationalen Einheit. Das ist es, was Israel braucht.

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Kommentare ( 4 )

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Thomas Holzer
1 Jahr her

Die „Linken“ und ihre Politik haben die Demokratie in Israel und Israel per se mehr gefährdet als Netanjahu in all seinen Jahren als Premierminister. Am Israel Chai ??????

ChrK
1 Jahr her

Die Ultraorthodoxen haben geistig das Ghetto noch nicht ganz verlassen und die Ultra-Rechten träumen von einem jüdischen Israel ohne Respekt vor Minderheiten.

Nur gut, daß es hier um Israel geht, und Herr Godelberg das geschrieben hat. ;)Ich denke allerdings auch, daß Israel und seine Menschen diese „Krise“ überstehen werden. Dieses Nicht-Klein-zu-Kriegende ist, was mich an den Juden und ihrer Geschichte am allermeisten fasziniert. Eigentlich müßte das als leuchtendes Vorbild genommen werden…

November Man
1 Jahr her

9,7 Millionen Israeli kennen den Wert ihres Landes, deshalb haben sie auch rechtsradikale Parteien gewählt und an die Regierung gebracht. Wo bleibt hier der Kampf der linksextremen deutschen Parteien und ihren Vasallen gegen Rechts? Nichts, sie schweigen, Duckmäusern und versuchen die Wahrheit durch Zensur zu löschen.  

ChrK
1 Jahr her
Antworten an  November Man

Es gibt dieses entsetzlichen Bonmot, daß die Deutschen den Juden den Holocaust nie verzeihen werden. Unterbewußt bzw. unbewußt mag das eine Erklärung für das deutsche Duckmäusertum, Zensur, Kritik an Israel sein…