Griechische Grenzschützer berichten von neuen „Push-Forwards“ der Türkei: Hunderte Migranten lagern am Evros

Griechische Grenzpolizisten berichten von brutalen „Push-Forwards“ durch türkische Jandarma-Einheiten. Das bestätigt auch Frontex. Die EU-Grenzschutzagentur und mit ihr der griechische Grenzschutz stehen im Kreuzfeuer mehrerer EU-Organe und linker Parteien.

IMAGO/NurPhoto

Es sind Bilder, die Besorgnis erregen und auf eine sich verschärfende Lage hindeuten: Direkt hinter der griechisch-türkischen Grenze am Evros haben große Gruppen von Migranten ihr Lager aufgeschlagen. Das zeigt ein Video, das auf der Regional-Website e-evros.gr veröffentlicht wurde. „Eine große Migrantenkarawane“ befinde sich „wenige Meter vor dem Grenzübergang Kipoi“, schreibt das Online-Nachrichtenportal. Schon seit einigen Wochen wurde die Ankunft der syrischen „Karawane des Lichts“ an der Grenze bei Edirne (Adrianopel) erwartet. Die genaue Anzahl der anwesenden Migranten ist aber unklar. Die Personen auf den Videos werden auf 150 bis 200 Personen geschätzt.

Alles spricht dafür, dass die Menschen nicht allein so nah an die griechische Grenze herankamen. Griechische Behörden sind der Auffassung, dass die türkischen Kräfte täglich bis zu tausend Migranten an den Evros bringen können, die dort in verlassenen Häusern, Scheunen oder gar ausgemusterten Ställen untergebracht werden. Um der Medienwirksamkeit willen sind auch zahlreiche Kinder mit dabei.

Die türkische Seite zeigt, dass sie ihre Strategie hier flexibel anpassen kann. Nicht mehr der Angriff gewaltbereiter junger Männer am Grenzzaun wie im Frühjahr 2020 wird dieser Tage inszeniert. Stattdessen werden schutzsuchende Familien und Kinder regelrecht präsentiert, um so die griechische Seite unter erhöhten Druck zu setzen. Veröffentlicht wurden aber auch Videos, die prügelnde türkische Jandarma im Umgang mit Migranten zeigen.

Schon vor einiger Zeit hat der griechische Fernsehsender Open TV die mutmaßlichen Taktiken der türkischen Gendarmen offengelegt. In einem Video sieht man ein Militärfahrzeug, aus dem eine Menschentraube geladen wird. Angeblich spielt sich das Video in unmittelbarer Nähe des Grenzflusses Evros ab.

Die Journalisten erklären, dass die türkischen Gendarmen die Migranten gewöhnlich bis aufs Hemd ausrauben. In einem Fall könnten sie noch weiter gegangen sein. Vor wenigen Tagen wurden 92 Migranten – nach den Bildern zu urteilen sämtlich junge Männer – von griechischen Grenzpolizisten am Evros aufgegriffen. Das Besondere: Sie waren nach Angaben der Behörden vollkommen unbekleidet, wiesen teils Spuren von Misshandlungen auf und waren angeblich von der türkischen Gendarmerie erst der Kleidung beraubt, dann in den Grenzfluss getrieben worden. „Die Frontex-Beamten berichteten, dass die Migranten nackt und einige von ihnen mit sichtbaren Verletzungen aufgefunden wurden“, sagte die Sprecherin der EU-Grenzschutzagentur Paulina Bakula.

Notis Mitarakis: Haben Inländer keine Menschenrechte?

Letztlich wurden die Männer ins griechische Erstaufnahmezentrum Fylakio gebracht, wie Migrationsminister Notis Mitarakis im Staatsfernsehen ERT sagte. Bürgerschutzminister Takis Theodorikakos beschuldigte die Türkei, die illegale Migration zu instrumentalisieren. Angeblich hatte man die Migranten, so berichteten diese dem Vernehmen nach selbst, in großen Militärfahrzeugen an den Grenzfluss transportiert.

Griechische Grenzschützer zählten in diesem Jahr bereits mehr 150.000 illegale Migranten, die versuchten, in den Schengen-Raum einzudringen. In einer aufgeheizten Fernsehdiskussion mit einer jungen Syriza-Politikerin fragte Mitarakis: „Haben denn die Griechen in diesem Land keine Menschenrechte?“ Der Minister erinnerte auch an die Zeit unter der Regierung des linksradikalen Syriza, als im Sommer 2015 tausende Migranten am Tag nach Griechenland strömten und sich am Ende im griechisch-nordmazedonischen Grenzort Idomeni ansammelten.

Die Türkei beschuldigte wiederum Griechenland, den Vorfall inszeniert zu haben. Nun sollen die Männer das normale Asylverfahren durchlaufen. Wer es nicht besteht, dem drohe die Abschiebung. Die Frage bleibt allerdings, ob solche Abschiebungen überhaupt durchführbar sind und wenn ja, in welche Länder. Die letzte konkrete Abschiebung, die auf der Seite des Asyl- und Migrationsministeriums dokumentiert ist, ist ein Flug von 19 Migranten nach Bangladesch im vergangenen Dezember. Für den August werden in offiziellen Statistiken 238 Abschiebungen berichtet, daneben rund 450 freiwillige Rückkehren in Länder außerhalb der EU. 35 Migranten wurden im Rahmen der Dublin-Regeln in andere EU-Staaten gebracht.

Dem stehen 1.963 neu aufgegriffene Migranten gegenüber. Im Vorjahresmonat waren es noch 1.230, eine Steigerung um über 60 Prozent. An der rund 200 Kilometer langen Evros-Grenze wird aber noch immer knapp die Hälfte aller illegalen Migranten aufgegriffen, der Rest auf den verschiedenen Inseln. Der stabile Grenzzaun soll erweitert werden. Er deckt derzeit nur einen Bruchteil des Grenzverlaufs ab. Die EU-Kommission sieht sich außerstande, dazu beizutragen.

Das „politische Spiel derer, die Frontex nicht mögen“

Derweil kritisierten konservative Abgeordnete im EU-Parlament die nicht erfolgte Entlastung der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Dabei geht es noch immer um Vorwürfe gegen den zurückgetretenen Agenturchef Fabrice Leggieri und verschiedene Vorfälle aus dem Jahr 2020. Der niederländische Christdemokrat Jeroen Lenaers sagte: „Die Verweigerung der Entlastung von Frontex ist ein politisches Spiel, das von denjenigen gespielt wird, die Frontex nicht mögen, die allergisch auf Grenzschutz reagieren, weil sie glauben, dass Europa allen Menschen, die hierher kommen wollen, den roten Teppich ausrollen sollte.“ Der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis reagierte mit uneingeschränkter Zustimmung.

Der nun veröffentlichte Bericht der EU-Anti-Betrugsbehörde OLAF (im Original nachzulesen hier) beschreibt ein angespanntes Klima in der Grenzschutzagentur zwischen den aktiven Beamten und der Grundrechtsbeauftragten (Fundamental Rights Officer, FRO). In internen WhatsApp-Nachrichten sprachen Frontex-Beamte von einer „Diktatur der FRO“, verglichen diese gar mit einem „Terror der Roten Khmer in der Agentur“. Schon im Januar 2018 wurde beschlossen, den Grundrechtsbeamten nicht mehr Zugang zu allen Dokumenten zu gewähren. Außerdem soll die Frontex-Leitung Berichte abgeschwächt haben, um dem griechischen Grenzschutz nicht in die Parade zu fahren. Auf dem Spiel stehe „die Möglichkeit für Mitgliedstaaten, [das Grenzüberwachungssystem] EUROSUR als verlässliches Sicherheitstool zu nutzen“.

In einer eigenen Pressemitteilung hebt der Frontex-Vorstand nun hervor, dass es sich dabei um Praktiken aus der Vergangenheit handle. Inzwischen werde vermehrt darauf geachtet, Grundrechtsverletzungen weiterzuleiten, auch in Abstimmung mit den neuen Grundrechtsbeamten. Auch Griechenland habe im Spätsommer 2022 einen Aktionsplan für einen „strukturierten Dialog“ mit Frontex und speziell mit den Grundrechtsbeamten eingebracht, um Fehler aus der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Das scheint die neue Kompromisslinie zwischen Athen und Brüssel zu sein: Die Fehler wurden in der Vergangenheit gemacht, sie sind nicht Teil der Gegenwart.

Linksgrüne Abgeordnete auf Evros-Mission

Mitte September war eine Delegation Frontex-kritischer EU-Parlamentarier – darunter die Niederländerin Tineke Strik (GroenLinks) – am Evros zu Besuch, um sich mit der lokalen Frontex-Delegation zu treffen. Das Ergebnis, wie es die Deutsche Welle zusammenfasste: Frontex agierte in Griechenland stets nur nach Anleitung durch den griechischen Grenzschutz, was nicht wirklich eine Überraschung ist. Denn Frontex ist keine allumfassende Beobachter-Organisation, kein „Aufpasser“ für nationale Grenzpolizisten, sondern assistiert diesen lediglich. Tineke Strik reichte das nicht, sie forderte von den Mitgliedstaaten „volle Kooperation bei Untersuchungen und vollständigen Zugang zu den Gebieten“, in denen Grenzschutz stattfindet.

Das käme einer vollständigen Vergemeinschaftung des Außengrenzschutzes gleich. Damit hätten freilich auch EU-Parlamentarier und Kommission leichteres Spiel, um die eigene Agenda durchzusetzen. Teil der EU-Parlamentsdelegation war auch der deutsche Abgeordnete Erik Marquardt (Bündnis ’90/Die Grünen), der seit langem ein Leben zwischen Aktivismus und Politik führt und ausgerechnet auf der griechischen Ägäisinsel Lesbos durch ‚Vermittlungsversuche‘ als NGO-Aktivist auffiel.

Man sieht: Frontex dürfte so bald nicht aufgelöst werden. Aber sicher ist, dass einige die Agentur gerne unter ihre Kontrolle bringen würden, um so stärker als bisher in die Grenzschutzpolitik der Mitgliedstaaten hineinzuregieren.

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