Die Brüsseler EU-Granden predigen Moral und verdrängen die Realitäten. Italiens Intellektuelle zerlegen die EU-Illusion live im Fernsehen. Orsini und Travaglio diagnostizieren schonungslos, dass die EU Russland isolieren wollte und jetzt selbst zusehends isoliert ist.
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Diskussionen im italienischen Fernsehen, selbst bei den Programmen der Staatssender, beinhalten oft ein bisschen Tragikkomödie. Humoreskes folgt auf politisch staatstragende Melodramatik, und umgekehrt. Aber so ist es eben, wenn man links und rechts der nicht mehr vorhandenen Mitte streitet. Immerhin, in Italien sind die Talkrunden etwas ausgewogener, was die Gäste betrifft, dafür fliegen verbal aber auch öfter die Fetzen.
Ob Professor Alessandro Orsini oder Matteo Salvini, der Vize-Premier (Lega), oder auch Italiens populärer Journalist Marco Travaglio (Herausgeber des Il Fatto Quotidiano), jeder möchte Frieden, den Wohlstand wiederherstellen, Putin auf keinen Fall herausfordern, und schon gar nicht die Ukraine bis zur Selbstaufgabe unterstützen – erst Recht nicht, seit Präsident Selenskyj selbst vom Korruptionsstrudel mitgerissen zu werden droht.
Die Diagnose von Marco Travaglio und Professor Orsini kommt vielleicht etwas spät, aber sie sitzt, adressiert an Brüssel: Die EU wollte Russland isolieren – und findet sich nun selbst auf der geopolitischen Isolierstation wieder. Alessandro Orsini bringt es in seinem Artikel für die Tageszeitung, Il Fatto Quotidiano, auf den Punkt:
Es sei die alte „eterogenesi dei fini“, wie Wilhelm Wundt (wer kennt ihn schon? 1920 verstorben), der deutsche Begründer der Kulturpsychologie und Psychophysik, und Kenner der Emotionen, sie nannte. „Man zieht los“, um ein hehres Ziel zu erreichen – und landet, dank Nebenwirkungen und Selbsttäuschungen, genau dort, wo man nie hinwollte. Der Westen, so die schonungslose wie ehrliche Analyse, wollte Geschlossenheit, Stärke, Abschreckung. Herausgekommen ist eine Union, die durch den Pulverdampf ihrer eigenen Wunschvorstellungen herumstolpert.
Alessandro Orsini verweist auf Robert Michels, den deutsch-italienischen Soziologen, dieser hätte seine helle Freude daran: Ein Projekt, das einst als Friedens- und Freiheitsarchitektur gebaut wurde, mutiert zur schwerfälligen Bürokratie, die ihre Prinzipien zugunsten neuer Opportunitäten opfert. Kein Verrat aus Bosheit, sondern aus Selbstüberschätzung.
Und dann kommt sogleich auch Marco Travaglio ins Spiel, beide Analytiker spielen sich seit Monaten den Ball zu, ja, sie tunneln die Politiker und Medien auf EU-Linie (auch Premierminister Giorgia Meloni hält der Ukraine noch die Treue, während Matteo Salvini eher Russland als Kooperationspartner sieht).
Travaglio also, jener scharfzüngige Topjournalist, der in Italiens politischem Panoptikum seit Jahren die Rolle des uneitlen Hofnarren übernimmt, der den Mächtigen die Maske vom Gesicht reißt. In „Otto e mezzo“ auf La7 liefert er regelmäßig das Spektakel, das Italiens Abendfernsehen so unnachahmlich macht. Wenn Lilli Gruber als glühende Europäistin versucht, ihm das Mikro zu zügeln, knurrt er nur: „Lilli, wenn du mich einlädst, musst du mich auch meine Meinung äußern lassen.“ Und wenn sie zurückschießt, sie vertrete eben „die europäische Linie“, kommt Travaglios trockener Konter: „Ich bin auch pro Europa – aber gegen diese EU.“
Besser lässt sich die Stimmung vieler Europäer nicht zusammenfassen.
Marco Travaglio bringt Vergleiche, und in dieses Setting, mal als Kommentar im Fatto Quotidiano, sowie auch im Fernsehen, platziert Travaglio dann die Analyse von Cesare Maria Ragaglini – früher Diplomat für D’Alema, Amato, Berlusconi, Botschafter in Moskau, ansonsten kein Leichtgewicht. Seine Aussagen, so Travaglio, hätten in einem politisch „geordneten“ Europa Alarmstufe Dunkelrot ausgelöst.
Travaglio zitiert Ex-Diplomat Ragaglini, „keine gerechten Kriege, keinen gerechten Frieden“. Und zur Ukraine? „Ein Opfer europäischer Illusionen. Europa in totaler Abhängigkeit von den USA. Ohne Diplomatie. Der Konflikt wäre 2014 vermeidbar gewesen.“
Das sitzt. Und Marco Travaglio lächelt bei Lilli Gruber süffisant, für viele arrogant, aber vielsagend in die Kamera, und klärt auf. Das sei auch der Grund, warum Washington – „ob mit oder ohne Trump“ – zunehmend auf Europa herabschaue, wie auf einen gutmütigen aber überforderten Onkel, der ständig Ratschläge gibt, aber nie die Rechnung bezahlt. Das Dilemma der EU, so Travaglio habe bereits weit vor Trump begonnen.
Auch Ragaglini hatte seine Meinung, nennt die europäischen Akteure, die „Volenterosi“, die Freiwilligen der moralischen Großgeste, schlicht „velleitär“: groß im Anspruch, null im Ergebnis. Die Ukraine sollte der Prüfstein europäischer Stärke werden – und wurde zum Altar, auf dem man geopolitischen Hochmut opferte.
Jetzt liegt auf dem Tisch nur noch ein Plan: der zwischen Trump und Putin vorbereitete, jener „Realismus“, den man in Brüssel so verabscheut wie ein schlecht temperiertes Soufflé, vergleicht Travaglio. Ein Kompromissfrieden, der niemandem schmeckt, aber der einzige ist, der die Wirklichkeit nicht ignoriert.
Die EU, einst moralisch überhöht, steht ohne Plan, ohne Hebel und ohne Waffen da – und beschränkt sich darauf, das Narrativ der „unumstößlichen Prinzipien“ zu pflegen, während am Rand des Schlachtfelds der Wind schon neue Zelte aufbläst.
Der Rest ist Gewöhnung: Wer die Realität nicht mag, erklärt sie zur russischen oder trumpistischen „Kriegshybris“. Die ewig gleichen Litaneien von Sicherheitslücken, Propaganda, Desinformation – man möchte meinen, halb Europa wartet nur darauf, endlich wieder jemanden zu verbieten.
Doch Travaglio – kein Putinversteher, aber unbequemer Chronist – bringt es auf den italienischen Punkt: Die Ukraine wurde zur „vittima sacrificale“, zum rituellen Opfer, weil eine EU, die sich für Weltmacht hält, nicht einmal in ihrem eigenen Hinterhof Ordnung schafft.
Und man frage sich: Wer isolierte hier eigentlich wen?

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Diese ganze Show ist nur noch widerlich.