Nuklearrisiko Börse

An der Börse ist Science-Fiction längst Realität: Der unheimliche Krieg Computer gegen Computer. Wo bleibt da noch Raum für Anleger?

 Nein, eigentlich gibt es nur wenig Neues an der Börse: “Wer in diesem Spiel gewinnen will, muss Geld und Geduld haben, da die Kurse so wenig beständig und die Gerüchte so wenig begründet sind”, schrieb der spanisch-niederländische Schriftsteller Joseph de la Vega schon 1688 über die Amsterdamer Börse mit dem wunderbaren Titel “Confusión de Confusiones”, die “Verwirrung der Verwirrungen”.

Bezeichnend, dass der Philosoph Konrad Paul Liessmann dieses alte Werk zum Ausgangspunkt seiner ganz neuen Überlegungen zu “An den Grenzen des Risikos” nimmt. Die Börse als Nussschale, in der Menschen in ihrer prallen Unverstelltheit agieren, angetrieben von Gier, Habsucht, Spielsucht, wenig Größe und viel Gemeinheit – das hat immer schon Spekulanten wie Schriftsteller, Abenteurer und Erfinder angezogen. Paul Julius Reuter ließ Kursdaten von Berlin nach Paris streckenweise von Brieftauben fliegen, begründete damit seine Nachrichtenagentur und machte Arbitragehändler reich. Alexandre Dumas’ geheimnisvoller “Graf von Monte Christo” rächt sich für Jahre des Eingesperrtseins und der verlorenen Liebe dadurch, dass er eine politische Nachricht manipuliert – sein Feind, ein Bankier, geht darüber pleite. Billig einsteigen, Kurse hochschreiben, aussteigen, wenn die Gierigen teuer kaufen, und ihnen dann den Skalp über die Ohren ziehen, das nennt man Scalping; übrigens eine Spezialität fragwürdiger Börsenjournale.

Auf den ersten Blick bietet der moderne “Hochfrequenzhandel”, bei dem der schnellste Computer den um tausendstel Sekunden langsameren Computer ausmanövriert, grundsätzlich wenig Neues – es sind die alten Mechanismen, nur eben viel schneller. Seine Befürworter argumentieren, dass Kommunikation, Realtime via Facebook oder E-Mail zum Alltag gehören; Smartphones mit der Rechnerleistung, die einst für eine Apollo-Mission erstmals zur Verfügung stand, haben sich längst vernetzt und tauschen eigenständig unsere Informationen aus. Da mache es keinen Sinn, an der Börse die Fluggeschwindigkeit der Taube zum Maß aller Dinge zu machen.

Und doch ist etwas Neues hinzugekommen, wie unser Report über den Hochfrequenzhandel beschreibt: Wir sind dabei, die Grenzen des Risikos zu überschreiten. Die These von der Risikogesellschaft, mit der der Soziologe Ulrich Beck bekannt wurde, lautet, dass komplexe Großtechnologien wie die Atomtechnik nicht mehr kontrollierbare Risiken darstellen. Der Risikofall wird zur globalen Katastrophe, deren weitreichende Schäden in keinem rationalen Verhältnis zu dem Nutzen stehen.

Es könnte sein, dass der Hochfrequenzhandel ähnlich gigantische Risiken produziert, denen wenig oder kaum Nutzen gegenübersteht. Bitter ist dies für den kleineren Aktionär, der besonders auf Fairness und Transparenz angewiesen ist. Die Börse wie auch die Unternehmen brauchen diesen Typus, der nicht jede verpatzte Quartalsmeldung als Weltuntergang interpretiert für ihre langfristige Finanzierung. Nun zeigt aber unser Report, wie diese Anleger von den Hochfrequenzalgorithmen in einen Pferch getrieben und dort von den Maschinen bis aufs Blut geschoren werden wie die Schafe; skalpiert eben, im Bruchteil von Bruchteilssekunden.

Die neuen Akteure sind diesmal nicht Banken, es sind oft Mathematiker und Physiker. Wirtschaft reduziert sich für sie auf ein abstraktes Zahlenmuster; der wirtschaftliche Erfolg ist die Formulierung einer Rechenvorschrift zur Ausbeutung des Musters. Die Regulierung und Aufsicht tritt ihrerseits in den Kampf der Algorithmen ein. Sie wird hinterherhinken; wohl wahr. Aber es muss versucht werden. Dabei hilft die Finanzmarkttransaktionssteuer, diese eierlegende Wollmilchsau der Finanzpolitik, nicht. So trifft man alle Börsengeschäfte statt nur jene, die durch Simulation und Ausspähen wie “Pinging, Sniping und Spoofing” den Schaden anrichten.

Literaturempfehlung:
Konrad Paul Liessmann
Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft. Paul Zsolnay Verlag Wien 2012

Erschienen auf Wiwo.de am 25.08.2012)

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