Was waren das doch noch für solide Zeiten, in denen der legendäre Börsenguru André Kostolany (1906–1999) das Auf und Ab an den Börsen noch mit den Händen erklären konnte:
Wenn die Hände ruhig und kräftig sind, dann steigen die Kurse. Wenn immer mehr Hände vor Zukunftsangst zittern, werfen sie früher oder später die Aktien auf den Markt, und die Kurse sinken. Damals glaubte man auch noch daran, dass wegen der Feinfühligkeit der beteiligten Händler und Hände die Börsen zwar kräftig übertreiben, aber die Richtung der Wirtschaft im Grunde doch richtig vorwegnehmen. Heute würde man das “Schwarmintelligenz” nennen. Aber wie gesagt, das war einmal. Heute werden denen, die Aktien halten, diese von den neuen Investmentbanken aus den Händen geschlagen, die selbst im Zweifelsfall gar keine Aktien besitzen. Das Börsengeschehen wird mehr denn je von derivativen Produkten bestimmt, mit denen sich trefflich handeln lässt, auch wenn man selbst keine einzige Aktie besitzt. Damit können Kursstürze entstehen, ohne dass sich in der wirtschaftlichen Realität irgendetwas verändert hat. Algo-Trading, also der Handel durch Computer in Nanosekunden ohne weiteres menschliches Zutun, verstärkt solche virtuellen Trends und sorgt für sehr reale Wertvernichtung bei den Aktionären – und geht der Deal nach hinten, gegen die Investmentbanken los, muss der Staat sie retten, und wir zahlen als Steuerzahler.
Privatanleger, die Aktien für die eigene Altersvorsorge halten und nicht nur für Sekundenbruchteile, kehren dem Geschehen den Rücken; damit nimmt die Zahl der Profis zu, die am Hin und Her verdienen und ihrerseits Getriebene der kurzfristigen Performance-Normen sind. Diese Strukturveränderung der Märkte erklärt einen Teil des heutigen Börsengeschehens: Der Kursverlust der vergangenen Wochen ist sehr viel heftiger ausgefallen, als dies die harten Zahlen der wirtschaftlichen Realität rechtfertigen.
Es stimmt schon, dass der steile Anstieg, den Unternehmensgewinne und Kurse seit dem Schreckensjahr 2009 erfahren haben, sich abflacht – auch abflachen muss. Im Großen und Ganzen ist die deutsche Wirtschaft nach dem scharfen Absturz zu Jahresbeginn 2009 und dem ebenso steilen Anstieg im darauffolgenden Jahr wieder da, wo sie vor der Finanzkrise gestanden hat. Kein Wunder, dass nach dem Aufhol-Boom die Wachstumsraten flacher werden und wieder auf den gemächlicheren, langfristigen Wachstumspfad einschwenken.
Eine Katastrophe ist das aber nicht. Viele Unternehmen haben die Zeit genutzt, um ihre Eigenkapitalbasis zu stärken und sich so vor der fragilen Finanzakrobatik abzusichern; Siemens hat gar eine eigene Bank gegründet, um sich vor den Auswüchsen des Casino-Business zu schützen. Die langfristigen Wachstumstrends, auf die die Unternehmen setzen, sind intakt – das gilt für Infrastrukturausrüstung, Chemie, Maschinenbau ebenso wie für Konsumgüter. Auch die Nachfrage in den großen Wachstumsmärkten der Zukunft nimmt weiter zu; die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe im globalen Maßstab ist der neu entstehende wirtschaftliche Mittelstand in Asien und Südamerika. Aus diesen und vielen anderen Gründen ist die WirtschaftsWoche optimistischer als viele andere, was die Zukunft für Unternehmen, Beschäftigte und Anleger in Deutschland betrifft. Das größte wirtschaftliche Risiko stellt derzeit die Politik dar, worauf auch Bosch-Chef Franz Fehrenbach verwiesen hat, noch ehe etwa der Bundespräsident und andere das Versagen der Euro-Politik thematisierten. Nur sehr zögerlich setzt sich die Erkenntnis durch, dass es die Staaten selbst durch ihre kurzsichtige Verschuldungspolitik sind, die den Euro-Schlamassel verursacht haben und sich jetzt damit schwertun, die Währung auf ein solides Fundament zu stellen. So versorgt die Politik die labilen Börsen täglich mit neuem Stoff für Psycho-Trading und Irrsinnsgeschäfte.
(Erschienen auf Wiwo.de am 03.09.2011)
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