Wie die DDR-CDU 1976 einen Regierungskritiker abkanzelte

Heute vor 45 Jahren verunglimpfte die DDR-Blockpartei "CDU" einen Pfarrer, der sich aus Protest gegen das SED-Regime selbst verbrannt hatte. Die damaligen Argumente des Abkanzelns scheinen heute wieder aktuell zu sein.

IMAGO / Dirk Sattler
Gedenktafel am Ort der Selbstverbrennung des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz an der Michaeliskirche in Zeitz.

Am 18. August 1976 hatte sich Pfarrer Oskar Brüsewitz auf dem Marktplatz der Stadt Zeitz im Süden von Sachsen-Anhalt verbrannt. Diese öffentliche Selbsttötung vor ca. 100 zufälligen Passanten und in Sichtweite der Räumlichkeiten seines kirchlichen Vorgesetzten war durch folgende Transparente eindeutig als politische Aktion gekennzeichnet: „Der Staat ist gegen die Kirche – darum sind wir gegen Staat und Kommunismus“. „Schützt unsere Jugend vor dem Kommunismus.“

Oskar Brüsewitz musste bei seiner eigenen Tochter erleben, dass sie kein Abitur machen durfte und nicht Medizin studieren konnte, obwohl sie einen Einser-Notendurchschnitt hatte. Als konfirmierte Tochter eines Pfarrer-Querdenkers durfte sie nur eine Ausbildung zur Krankenschwester machen. Brüsewitz warf den Christen und den Kirchen in der DDR vor, dass sie viel zu zurückhaltend und zu „doppelzüngig“ gegenüber dem Staat wären.

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Die DDR-Regierung versuchte den „Fall Brüsewitz“ mit aller Kraft zu verschweigen und klein zu halten. Als aber die Medien in Westdeutschland groß darüber berichteten, kam die DDR-CDU am 31.8.1976 aus der Deckung. Sie veröffentlichte einen langen Kommentar in ihrem CDU-Zentralorgan „Neue Zeit“ mit dem Titel: „SCHAMLOSE HETZE MIT MENSCHLICHEM VERSAGEN.“ Der Kommentar hat keine Autorenangabe, weil er wohl als repräsentatitv für die gesamte DDR-CDU dastehen sollte.

In diesem Kommentar finde ich fünf Hauptlinien der Gedankenführung:

Erstens: Der Regierungskritiker wird als moralisch minderwertig verurteilt
Mit diesem wohl diskussionswürdigsten Argument startet der Kommentar: „Die Tat des Pfarrers widerspricht zutiefst christlicher Ethik und ist nicht nur zu bedauern, sondern entschieden zu verurteilen.“ Durch die Selbsttötung habe sich der Pfarrer per se ins moralische Abseits gestellt und den christlichen Auftrag verraten, sich für das Leben einzusetzen.

Zweitens: Der Regierungskritiker stärke die falsche Seite
Oskar Brüsewitz habe mit seiner Tat der BRD in die Hände gespielt: „Offensichtlich haben die Erfolge der DDR einige Unverbesserliche im Westen in Panik versetzt, so daß sie sogar eine solch makabre Angelegenheit wie den Selbstmordversuch eines von Wahnvorstellungen Befallenen zur Hetze gegen unseren sozialistischen Staat und zum Ablenken von ihrer eigenen Krise ausnutzen.“

Drittens: Der Regierungskritiker sei menschlich minderwertig
An dieser Stellte geht das CDU-Blatt schamlos unter die Gürtellinie: „Ja, es ist wahrhaft mehr als ungewöhnlich, wenn Pfarrer Brösewitz seinen Acker pflügte, indem er an den Trabant Pflug und Egge hängte…. Gläubige seiner Kirchengemeinde erzählten davon, daß er… mit den Kindern der Gemeinde Droßdorf in Unterhosen Fußball spielte….Weder mit seiner kirchlichen noch mit seiner politischen Umwelt wußte Pfarrer Brüsewitz in ein normales Verhältnis zu kommen…. Der offenkundig von Wahnvorstellungen (!) heimgesuchte Mann floh… in einen spektakulären Tod.“

Gezielt werden wahre Begebenheiten zu verlogenen Gerüchten aufgebauscht: Brüsewitz hatte wirklich einmal Fußball mit Kindern gespielt und dabei sein Jacket und seine guten Schuhe und seine Socken ausgezogen. Daraus macht die CDU, er habe „in Unterhosen“ Fußball gespielt, was ja streng genommen noch nicht einmal falsch ist.

Zum anderen hatte Pfarrer Brüsewitz, der neben seiner theologischen auch eine handwerkliche Ausbildung hatte, in DDR-Ermangelung eines Traktors tatsächlich sein Feld mit dem Trabant geeggt. Durch die gelogene Hinzufügung „gepflügt“, wobei ein Trabant dabei sicherlich an seine Grenze gekommen wäre, wird diese praktische Meisterleistung von Brüsewitz ins Lächerliche gezogen.

Im ganzen Kommentar wird Oskar Brüsewitz mit niederträchtigen Etiketten ad personam in den Schmutz gezogen: „die Tragik eines Vereinsamten“, „eine individuelle Verwirrung“, „ein Gescheiterter“, „der von Wahnvorstellungen heimgesuchte Mann“, „das Scheitern eines einzelnen“, „Selbstmordversuch eines abnormal und krankhaft veranlagten Menschen“.

Damit lag die DDR-CDU ganz auf Stasi-Linie. Die Stasi versuchte in stundenlangen Verhören direkt nach der öffentlichen Selbstverbrennung von Pfarrer Brüsewitz von dessen Frau unter Schock und den beiden jugendlichen Kindern im Ausnahmezustand das Geständnis herauszuquetschen, dass Brüsewitz „nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte“ gewesen sei.

Viertens: Vermeintliche Autoritäten werden gegen den Regierungskritiker herangezogen
Neun mal werden im Kommentar hohe kirchliche Organe oder Gläubige zitiert, die die Gedankengänge des CDU-Kommentars untermauern: „‚Wir können der Tat unseres Bruders nicht zustimmen’, erklärte die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche…. ‚Wir meinen, daß unsere Aufgabe darin besteht, in unserer Gesellschaft mitzuarbeiten’.“

Fünftens: Die CDU betont die Erhabenheit der eigenen Sache, wodurch jede Kritik daran sich selber blamiere
„Und was die Bildung und Erziehung der Jugend anbetrifft, so wird das Bildungswesen der DDR weltweit hoch geachtet. In seinem Rahmen erwerben sich die Kinder von Protestanten, Katholiken und aus anderen religiösen Gemeinschaften hohe humanistische und fachliche Bildung, darunter auch die beiden Töchter des Pfarres Brüsewitz, dessen älteste Tochter an der Medizinischen Akademie in Erfurt lernt.“

Stephans Spitzen: 
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Und weil es so schön ist, wie pathetisch die CDU den Sozialismus in den Himmel lobt, die beiden Schlusssätze des Kommentars in voller Länge:
„Die gerechte, partizipatorische und verantwortbare Gesellschaft, die gegenwärtig in der weltweiten Ökumene diskutiert wird, ist in unserem Staat bereits Wirklichkeit. Er bietet allen Bürgern – unabhängig von ihrer Weltanschauung und Glaubensüberzeugung – die mannigfachsten Möglichkeiten zu umfassender Teilnahme und Teilhabe an der weiteren Gestaltung einer Gesellschaft, die sich dem Wohl des einzelnen Menschen wie dem Glück des ganzes Volkes zutiefst verpflichtet weiß.“

Mit dem Blick auf diesen Kommentar bin ich erschüttert, wie schnell und unkompliziert sich die West-CDU mit der sozialistischen Ost-CDU in den Jahren 1989/1990 vereinigen konnte.

Daneben ist für mich allerdings auch die politische Selbstverbrennung von Pfarrer Brüsewitz fragwürdig, da ich im politischen Widerstand Gewalt (auch gegen sich selber) ablehne und vielmehr auf die Macht des Wortes, auf die Vernetzung Gleichgesinnter, auf die wohldosierte Verweigerung der Mitarbeit und auf die Geduld bis hin zur Wende setze.

Nachdenklich macht mich, wie alle damaligen fünf Hauptlinien der Abkanzlung von Regierungskritikern im politischen Diskurs des Jahres 2021 mit staatlicher Unterstützung wieder groß in Mode sind. Vielleicht nicht immer ganz so plump wie damals in der DDR, aber dennoch mit der gleichen fünffachen Fertigmachung von Regierungskritikern.

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Kommentare ( 10 )

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Biskaborn
2 Jahre her

DDR Vokabular scheint groß in Mode, längst nicht nur die umbenannte Linke , sondern alle Politiker der Kartellparteien und vor allem die Links-Grün eifernden Medien haben die Aufsätze der SED, CDU, LDPD Genossen wieder hervorgeholt. Selbst normale Menschen hetzen wieder wie es zu DDR Zeiten gegen Abtrünnige üblich war, einfach widerlich die Entwicklung dieses Landes!

Johann Thiel
2 Jahre her

„Mit dem Blick auf diesen Kommentar bin ich erschüttert, wie schnell und unkompliziert sich die West-CDU mit der sozialistischen Ost-CDU in den Jahren 1989/1990 vereinigen konnte“

Gut einmal den Blick darauf zu lenken. Diese Vereinigung ging vor allem sehr lautlos vonstatten und hatte bei mir immer schon Befremden ausgelöst, zumal das Thema bis heute kaum diskutiert wird. Durchaus ein Hinweis auf die Veränderungen im Werteverständnis der CDU nach der Wende, schließlich hatte die Ost-CDU zu diesem Zeitpunkt 135.000 Mitglieder.

Thorsten
2 Jahre her
Antworten an  Johann Thiel

Die West-CDU brauchte eine „Vertriebsstruktur“ um sich politisch zu etablieren und die Wahlen zu gewinnen.
Zur Erinnerung: die Kohl-CDU hatte damals ihren Zenit überschritten. Der NATO-Doppelbeschluß trieb die Menchen nach links.

Johann Thiel
2 Jahre her
Antworten an  Thorsten

Einleuchtende Erklärung, da hat man halt nicht so genau hingesehen, und damals wollte die CDU schließlich noch Wahlen gewinnen.

Monika Medel
2 Jahre her

Der aufrechte Reinhard Steinlein schreibt dazu in „Die gottlosen Jahre“, Berlin 1993: „In schriller Weise wurde darauf aufmerksam gemacht, wo nach wie vor die Nöte vieler Christen in der DDR lagen. Sofort nahmen staatliche Stellen mit der Magdeburger Kirchenleitung Verbindung auf. Das gemeinsame Ziel lautete ´Schadensbegrenzung´; wie im Sommer 1992 bekannt wurde, war es auch in diesem Fall wieder Manfred Stolpe, damals Leiter des Kirchenbundsekretariats, auf dessen Geschick sich die staatlichen Stellen verließen. Die Kirchenleitung erklärte in einem Brief an die Gemeinden, sie könne diese Tat nicht billigen und müsse jeden Versuch zurückweisen, sie zur Propaganda gegen die DDR zu… Mehr

Georg J
2 Jahre her

„Vielleicht nicht immer ganz so plump wie damals in der DDR…“
Doch, ist heute genau so plump und genau so selbstgerecht. Wir sind wieder bei der „Entmenschlichung“ und offenen Ausgrenzung der Andersdenkenden angekommen. Merkel war eine gute Schülerin der DDR. Die Arroganz der Macht ist wieder längst zurück gekehrt in unseren Staat.

pcn
2 Jahre her

Danke für diese Mahnung an uns alle, die wir hier lesen und besonders an die, die diesen Fall Brüsewitz entweder nicht mehr in Erinnerung bringen oder von ihm nie etwas gehört haben.
Wie sich Geschichte, bzw. von Menschen gemachte Verhältnisse wiederholen, zeigt sich in diesem Beispiel.
Opportunisten und Hetzjagden auf Andersdenkende, Impfgegner, Kritiker des aktuell laufenden gesellschaftlichen Umbaus. bis hin zur Erziehung zu einem Untertanengeist ohne Hirn, zeigt diese Erinnerung.
Eine zutiefst menschenverachtende Begleitmusik einer CDU, die sich angeblich der christlich orientierten Mitmenschlichkeit verschrieben haben will.
Eine einzige Camouflage!

Tatsachenrechercher
2 Jahre her

Man kann nur hoffen, dass die Kinder dieses Helden zwölf Jahre später zu Ehren ihres Vaters dann die Möglichkeit wahrgenommen haben, ihre beruflichen Interessen auch mit einem akademischen Studium nachzuholen, nachdem sie frei waren dies zu tun.
Auf jeden Fall erinnert sich die Welt an Pfarrer Brüsewitz und nicht mher an die Kloakenfunktionäre dieser politisierten Religionssekte aus dem Asozialisten- und Mörderregime der DDR 1.0.

FerritKappe
2 Jahre her

Westpresse, das ist das was heute fehlt.
Selbst der DDR-Bürger war besser informiert als alle Tageschauer und Spiegelleser heute.

UB030790
2 Jahre her

Angela Merkel: „wir sollten doch alle mal wieder auf der Blockflöte spielen“.

Freudscher Versprecher.