Von der fortschreitenden Sakralisierung der Staatsgesellschaft

Mit Unterstützung des Staatsoberhauptes grölen die neuen Hohepriester zum Kampf gegen alles, was nicht links ist.

Getty Images

Der Mensch ist ein Wesen, das auch oder gerade inmitten eines selbstgewählten metaphysischen Vakuums des Religiösen, zumindest des quasi-religiös Rituellen bedarf. Deshalb erleben wir alljährlich – auch auf Kirchentagen – ein Patchwork an Religionsversatzstücken und einen bunten Synkretismus/ Eklektizismus, der alle Gegensätze vereint: Astrologie, Kosmologie, Reinkarnation, Zen Buddhismus, Esoterik, magische und okkulte Praktiken. Dazu den Genderismus! Für wieder andere – oder auch dieselben – ist die Klimakatastrophe oder der Antifaschismus oder die Anti-Atomkraft-Bewegung zur Religion geworden.

Interessant ist übrigens, dass – wie Albert Camus 1957 festgestellt hat – der Ort solcher ideologischer Konformität eine Linke ist, die die „schlechte“ Welt des Schöpfers ummontieren möchte in die gute Welt. Dazu braucht der Mensch offenbar Religionen. Auch wenn es sich laut Émile Durkheim hier um „Religionen ohne Religion“ handelt. Religion light eben! Raymond Aron hat dies in seinem Hauptwerk „Opium für Intellektuelle“ (1955) deutlich gemacht. Kommunismus etwa ist für ihn „säkulare Religion“. (Der Buchtitel „Opium für Intellektuelle übrigens wurde bewusst in Anlehnung an Marx’ „Religion als Opium des Volkes“ gewählt.) Für den großen Ausleuchter der Tiefen der menschlichen Seele, Sigmund Freud, war Religion ohnehin nichts anderes als eine universelle, ritualisierte Zwangsneurose.

1989 hatte Francis Fukuyama das Ende der Geschichte angesagt, und er meinte, dass jetzt die liberale Ordnung gesiegt habe, weil sich alle (quasireligiösen) Ideologien erschöpft hätten. Fukuyama lag und liegt falsch. Richtig liegt Joachim Fest: „Die vom Sozialismus gebundenen Bedürfnisse nach einem Glauben und einer Daseinsbotschaft sind mit dessen Ende ziellos geworden und werden nicht lange damit warten, neue Uniformen anzulegen und unter neuen Fahnen zu neuen Phantasiereichen aufzubrechen.“

50 Jahre Umerziehung
Die Linke und ihre Utopien - eine ideologiekritische Auseinandersetzung ist überfällig
Neue Phantasiereiche, ein neuer naiver Futurismus? Man lese in diesem Zusammenhang Karl Poppers monumentales Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ – Band II, das 14. Kapitel: „Die orakelnde Philosophie und der Aufstand gegen die Vernunft“. Darin beklagt Popper einen „moralischen Futurismus“, einen „orakelnden Irrationalismus“, mit dem Gefühle und Leidenschaften über Denken und Erfahrung dominierten. Hermann Lübbe würde sagen: Moralismus ist überhaupt der Versuch, Wissenschaft und Empirie durch Moralisieren unschädlich zu machen. Rational ist das nicht: Es ist dies der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, der Stimmung über das Denken, des Bedarfs an Wohlbefinden über die Erkenntnis. Es ist dies im Endeffekt Realitäts- und Wissenschaftsfeindlichkeit.

Religionssoziologisch muten viele der heutigen, von den staatstragenden Medien orchestrierten Debatten an wie der Ausdruck eines unstillbaren Devotionsbedürfnisses im Dienste einer guten und gerechten Welt. Der große Wiener Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek aber wusste zu gut, auf was der Anspruch totaler irdischer Gerechtigkeit hinausläuft: Für ihn ist „Gerechtigkeit“ das Trojanische Pferd des Totalitarismus.

Jedenfalls ist es schon eigenartig: Das Religiöse – Ausnahme: Islam – wird mehr und mehr säkularisiert, die Kirchen mausern sich zu politisierenden Moralagenturen, die Zahl der Kirchenbesucher sinkt und sinkt, die Zahl der Kirchenaustritte steigt und steigt. Und dann dies: Das Alltägliche, Profane, Politische bzw. das, was man dafür hält, wird mehr und mehr sakralisiert.

„Zivilgesellschaft“ ist zum zivilreligiösen Narrativ geworden. Keiner weiß zwar, was Zivilgesellschaft eigentlich ist. Hauptsache freilich ist, es kommt links daher und reklamiert für sich, „Mitte“ zu sein. Und Hauptsache, es hat einen sakralen, schier heiligen Touch.

Politisch gewolltes Staatsversagen
Steinmeier: Bundespräsident setzt in Chemnitz auf Konfrontation
Rituale einer universellen Zwangsneurose? Sigmund Freud würde sich bestätigt fühlen, wenn er allein die Vorgänge in und um Chemnitz analysierte bzw. auf seine „Couch“ legte. Denn zur Zeit wird mal wieder ritualisiert „Gesicht gezeigt“; und ständig werden „Zeichen gesetzt“. Man verliert den Überblick. Es fehlen als Steigerung nur noch die Lichterketten. Aber damit ist man ja ein paar Mal ins Leere gelaufen. Zum Beispiel damals, als es keine Neonazis, sondern Araber waren, die im Jahr 2000 einen Brandanschlag auf eine Synagoge in Düsseldorf inszenierten.

Schier klammheimlich willkommen ist all den Gutmenschen nun eben „Chemnitz“. Und so grölen die neuen Hohepriestern nun erneut gegen alles an, was nicht links ist: die Grönemeyers, die „Toten Hosen“, „Kraftclub“ (so könnte übrigens auch eine rechtsradikale Band heißen), die „Fischfilets“ von der „Feinen Sahne“. Zum „Konzert“ der drei genannten Gruppen strömten – vermutlich aus der ganzen zivilgesellschaftlichen Republik – am 3. September rund 50.000 Gutmenschen, „Christen“, Linke, Gewerkschaftler und Co. nach Chemnitz. Kirchentage bringen auch nicht mehr Leute an einem Tag auf die Beine. Wobei thematisch zwischen so manchen Kirchentagen und solchen Konzerten nur noch geringe graduelle Unterschiede bestehen.

Die Methode ist einfach und simpel: Man projiziert Apokalypsen an die Wand, so wie es jeder Sektengründer auch macht. „Antifa“ ist wieder mal die alleinige Staatsräson. Die neuen „Euangelien“ (von griech. „eu“ = gut; also die frohen Botschaften) lauten: „Nie wieder!“ und „Willkommenskultur!“. Wie im Neuen Testament: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“ (Matthäus 11,28). Und damit das widerspruchslos bleibt, wird mit apokalyptischen Dysangelien gearbeitet (von griech. „dys“ = Gegenteil von „eu“): „Achtung, Deutschland rückt bedenklich nach rechts!“

Wie weit ist von dort noch zu einem „Gottesstaat“?

Unterstützung
oder

Kommentare ( 143 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

143 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Kasper
5 Jahre her

Prima Herr Kraus,
Ihre Bildung ist beeindruckend. Ich freue mich, wie Sie die Lage aus der übergeordneten Perspekive beurteilen.
Tja, der arme, dumme Mensch. Immer Spielball seiner eigenen Unwissenheit und Bequemlichkeit. Was solls werden… Unsere Kultur ist eine unehrliche … Ist der Mensch/die Gesellschaft denn stark genug um ehrlich zu sein?
Mfg

R.J.
5 Jahre her

Vielleicht sollte man noch eine dritte Affinität des linken Denkens zur Religion, speziell der christlichen, erwähnen, und das ist die Fixierung auf „Schuld“. Wenn immer etwas geschieht, vor allem etwas, das nicht ins Weltbild passt, wird gleich die Frage nach der Schuld aufgeworfen, die monoton und voraussagbar so beantwortet wird, dass die westliche Kultur die wesentliche oder alleinige Schuld trägt (d.h. natürlich konkret die anderen, denn man selbst ist ja durch Erkenntnis bereits gereinigt und veredelt). Die Fokussierung auf die Schuld dient dann dazu, die (unangenehmen) Tatsachen zum Verschwinden zu bringen oder ins Gegenteil zu verkehren (z.B. Terror als „ohnmächtiger… Mehr

Rene Braeunig
5 Jahre her

Danke für diesen Text. Das Gefühl des Sakralen, des Religiösen ist genau die passende Beschreibung für viele Talkshowmonologe. Für die Neulinge gilt, zuerst den politischen Mainstream zu erneuern. Dann bleibt noch etwas Zeit für einen Satz mit Inhalt. Das Narrativ von links, gut, modern, friedlich, weltoffen darf bestenfalls der Migrant der zweiten Generation brechen. Der irrationale modernistische Positivismus hat hier seine einzige offene Flanke. Ansonsten gilt: Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nur dann richtig, wenn die eigenen religiösen Ansichten bestätigt werden, Bildung hat sich an den Zielen der religiösen Vorstellungen zu orientieren. Wissenschaften, die für den irrationalen Positivismus regelmäßig problematische Ergebnisse produzieren,… Mehr

Berny
5 Jahre her

Unerreicht unser kleiner Akif.
Sein Synonym für Campino: „Staatspunk“

Ruud
5 Jahre her

Eine angebliche „Willkommanskulltur“, immer neue „Demokratie – Projekte“, Konzert gegen „Hass“, auf denen jedes zweite Wort *********** ist: Wem dies alles etwas komisch vorkommt, dem empfehle ich einmal den Youtube – Kanal des dunkelhäutigen „Lifestylers“ (ja, er nennt sich halt nun mal so) Nana Demana, der dort eine Diskussionsreihe „Multikulti trifft Nationalismus“ seit glaube ich zwei Jahren betreibt. Hochinteressant, aber ich muss gleich warnen: Einige lieb gewonnene Denkmuster werden dort brutal zerstört, und man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was sehr schön in diesen Diskussion zweier (vorgeblicher) extremer Gegenpole herauskommt ist der sehr respektvolle, sachliche Umgang der beiden… Mehr

Hugo Waldmann
5 Jahre her

Danke, Herr Kraus. Der Artikel beschreibt treffend die heutige Gemengelage und die Folgen. Viele bezeichnen sich heute als liberal und merken nicht mal, dass sie im Herzen moralisierende Sozialisten sind. Auch ich dachte, dass nach 1989 der ideologische Sozialismus tot ist. Aber was sagt der Sozialist, nachdem sein Staatsexperiment zum x-ten Mal gescheitert ist: „Beim nächsten Mal klappt’s.“ Aus meiner Sicht fehlt es in Deutschland an mangelnden Wissen über Demokratie, Recht und Freiheit. Der historische Hintergrund fehlt vielen, da in der linken Indoktrination die Geschichte um 1933 beginnt. Viel wichtiger wäre der Weg zum Paulsparlament 1848, d.h. die amerikanische Unabhängigkeitserklärung,… Mehr

Kasper
5 Jahre her
Antworten an  Hugo Waldmann

In der Oberstufe haben wir zu meiner Zeit 3 Jahre Nationalsozialismus durchgenommen. Die Kinder heute müssen das ebenfalls über sich ergehen lassen. Das hat schon nichts mehr mit Aufbau von Wissen zu tun, sondern mit Indoktrination.

Mirabelle
5 Jahre her
Antworten an  Hugo Waldmann

War das die Paulskirche in Frankfurt 1848?

Sonny
5 Jahre her

Sehr geehrter Herr Kraus, ich stimme mit Ihrer Analyse überein, ebenso mit der von Sigmund Freud. Aber ein Artikel, selbst in Ansätzen wider die Religion, da gibt´s hier wie anderswo ziemlich auf die Fresse. Denn das Wesen der Religion ist, dass sie beansprucht, keine Beweise zu benötigen. Der Glaube rechtfertigt alles. Und genauso verhalten sich die selbsternannten Wächter und Gutmenschen: Fakten und Realitäten interessieren nicht.
Ihr Glaube rechtfertigt jedenweden Blödsinn.

Chloepfts
5 Jahre her

Die Religio, soetwas wie eine Bindung zum Geistigen liegt ja in jedem Menschen als mehr oder weniger bewußtes Bedürfnis. Substituieren ist also geradezu ein Muß. Dazu gabs Religionen, die allesamt ihren Reiz verloren haben, bei denen, die dies erkannt haben. Die Substitution muß jetzt jeder in sich leisten. Das mißfällt natürlich vielen, vor allem Legionen von Institutionen sind darüber mehr als betrübt. Denn wer mag es nicht, wenn man als Leitbulle vor einer Herde Verwirrter steht. Darum belieben diese „Bullen“ auch sehr gerne zu verwirren. Das alte Spiel – und die Linke lehnt das selbstbestimmte Individuum mit Interesse am Geistigen… Mehr

Walter Knoch
5 Jahre her

Die neue Botschaft „Gegen Hass und Gewalt“, vom Bundespräsidenten und SPD-Funktionär Frank-Walter Steinmeier gesponserte, vor 65000 abfeiernden Besuchern von der Gruppe K.I.Z in Chemnitz in die Mikrophone gedröhnt: Ich ramm die Messerklinge in die Journalistenfresse Trete deiner Frau in den Bauch, fresse die Fehlgeburt Ich fick sie grün und blau, wie mein kunterbuntes Haus Nich alles was man oben reinsteckt kommt unten wieder raus Tret so lange auf dein Kopf bis vier und drei acht machen Die Missgeburt vom Jugendamt wird sich eine Kugel fangen In der Schule hatte ich eine eins im Tiere quäl’n Nach meinem Uppercut kannst du… Mehr

Yato
5 Jahre her
Antworten an  Walter Knoch

Die HipHop Band K.I.Z, die in Chemnitz dabei war, hat unfassbar menschenverachtende Texte voller Hass gespielt, gefördert vom Bundespräsidenten. Der Song: „Ein Affe und ein Pferd“ hat folgende Textzeile: „…Eva Herman sieht mich, denkt sich: „Was’n Deutscher!“ Und ich gebe ihr von hinten, wie ein Staffelläufer Ich fick sie grün und blau, wie mein Kunterbuntes Haus Nich alles was man oben reinsteckt kommt unten wieder raus…“ https://www.songtexte.com/songtext/kiz/ein-affe-und-ein-pferd-4b553b8e.html Laut der Schlagzeile von Merkur.de wurde der Song „Ein Affe und ein Pferd“ in Chemnitz sogar (vor den angeblich 65 000 Leuten) gespielt: „Chemnitz-Konzert Auftritt mit umstrittenen Zeilen sorgt für Kontroverse – und… Mehr

Wilhelm Cuno
5 Jahre her

Immer locker bleiben. Das ist vermutlich vermutlich der letzte Bundespräsident, den die SPD in diesem Jahrhundert stellen darf. Natürlich wird er noch mal gewählt, aber dann setzen sich die gesunkenen Wahlergebnisse der SPD durch. Die Probleme nehmen solche Ausmaße an, dass der lächerliche Nachwuchs wie Kevin Kühnert und die Überalterung von Ortsvereinen und Wählern das ihre tun. Dazu noch ein paar hundert Einzelfälle im Bereich Migration und das linke Lager ist weg vom Fenster. Außer, ein neues Trio aus Wehner, Brandt und Schmidt entsteht, aber die würden heute wie Herr Sarrazin gleich ein Parteiausschlussverfahren bekommen, weil sie so altmodische Dinge… Mehr

Hugo Waldmann
5 Jahre her
Antworten an  Wilhelm Cuno

Damit wird es nicht besser. An die Stelle der SPD rücken die Grüne, die eine „interessante“ Melange bilden. Das stellt der Artikel gut dar.

Mozartin
5 Jahre her
Antworten an  Wilhelm Cuno

Bedauerlicherweise für mich könnten Sie damit durchaus nicht ganz falsch liegen.

siri
5 Jahre her
Antworten an  Mozartin

Sehr geehrte/r Frau/Herr Mozartin: ich glaube, Sie müssen sich so langsam von der SPD, die Sie wohl zeitlebens geschätzt haben, verabschieden. SPD ist nicht mehr SPD.