Wie ein DDR-Paragraph neu auflebt und Bärbel Bas die Demokratie verächtlich macht

Der Verfassungsschutz entdeckt eine neue Demokratiebedrohung: die „Verächtlichmachung“ von Politikern. Damit holt der Geheimdienst einen alten DDR-Strafrechtsbegriff aus dem Keller. Politiker sollen vor Kritik geschützt, die Bürger delegitimiert werden.

IMAGO / Christian Spicker
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD)

In dem neuesten Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz findet sich eine bisher noch viel zu wenig beachtete Passage, die sich aus zweierlei Gründen von früheren Texten des Inlandsgeheimdienstes unterscheidet. Erstens wegen des Inhalts; es geht darin ausdrücklich weder um extremistische Bestrebungen oder Spionageabwehr, also das, was das Amt früher normalerweise beobachtet und bekämpft hatte. Zweitens wegen der Sprache. Die wiederum stammt aus noch älteren Zeiten. Außerdem noch aus einem anderen deutschen Staat.

In dem Abschnitt aus dem Bericht geht es um die sogenannte Delegitimierung des Staates: „Diese Form der Delegitimierung“, so der Verfassungsschutz, „erfolgt meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen. Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden.“

Abgesehen davon, dass die ständige Agitation gegen Staatsvertreter einmal das Anliegen eines breiten Bündnisses von linken Parteien, Organisationen, Künstlern und sonstigen Aufrufunterzeichnern von Albers bis Zwerenz war, solange die Repräsentanten noch Strauß und Kohl hießen – mit einer solchen Agitation oder Unzufriedenheitsäußerung müssen die meisten Regierungen seit Ende des Absolutismus auskommen.

Bis vor kurzem galt auch der Grundsatz, dass das Amt dem Amtsträger Würde verleiht, nicht umgekehrt. Gibt jemand Anlass zu Kritik, auch wenn sie fundamental, ätzend und ungerecht ausfällt, dann erschüttert das demnach noch lange nicht die Institutionen. Selbst dann nicht, wenn sich ein Politiker öffentlich als würdeloser Hanswurst und Abgreifer aufführt wie der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann, leidet noch nicht dauerhaft das Amt. Die Person, die ihm nachfolgt, kann sich möglicherweise wieder so betragen, dass sich die Frankfurter nicht schämen müssen.

Kurzum, Repräsentanten und Repräsentantinnen des Staates in den Grenzen der Gesetze mit Ablehnung, Hohn, Spott und Verachtung zu begegnen und geradezu zu überkübeln, ist das gute Recht jedes Bürgers, zumindest in der Demokratie als solcher, um einmal die Verfassungsschutzformulierung zu verwenden. In früheren Zeiten benutzten die Unzufriedenen mitunter noch Verachtungsverstärker wie faule Eier und matschige Tomaten. Die Repräsentanten allerlei Geschlechter sollten froh darüber sein, dass viel Unmut heute in digitale Kanäle fließt, statt ausgerechnet diesen Umstand zu beklagen.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Es gibt kein Grundrecht eines Politikers auf Achtung. Legitimieren muss sich jeder Mandatsträger im Amt von Tag zu Tag. Fällt die Zustimmung des Publikums nicht so aus, wie er sich das wünscht, liegt das nicht immer, aber ziemlich oft an seiner Amtsführung. Jedenfalls existierten diese Grundsätze einmal, und das sogar in Monarchien. Falls sich der Verfassungsschutzpräsident noch nicht zu sehr erschüttert und beeinträchtigt fühlt, kann er gern nachlesen, mit wie viel Hohn und Spott Kaiser Wilhelm II. überzogen wurde, durch ständige Agitation insbesondere der Sozialdemokratie, in Witzen, Karikaturen, unschmeichelhaften Berichten vom Hof und in einer verächtlich machenden und gleichzeitig damals außerordentlich populären Streitschrift, übrigens, ohne dass Höflinge – also die Zivilgesellschaft von damals – einen Boykott gegen den Autor organisiert hätten. Auch der Geheimdienst entdeckte darin keine Erschütterung des Staates. Bis gerade eben gehörte also das Risiko des Ingrundundbodenkritisiertwerdens zum Politiker – wie der Buhruf zum Künstlerleben.

In einem anderen deutschen Staat vor gut drei Jahrzehnten hielten das die Repräsentanten genau umgekehrt, und damit ähnlich wie Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang heute. Damals betrachteten Amtsträger ganz selbstverständlich jede Kritik an sich als Erschütterung des Systems insgesamt, das sie unentwegt und noch nicht einmal zu Unrecht in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigt sahen. Auch damals gehörte Anetta Kahane übrigens zu den Abwehrkräften, allerdings ohne Stiftung im Rücken, weshalb sie ihre Berichte noch selbst schreiben musste.

Das führt uns zur Sprache des Verfassungsschutzberichtes. Dort kommt nämlich ein Begriff vor, den ältere Ostdeutsche nicht erst im Verfassungsschutzbericht von 2021 nachlesen müssen, nämlich Verächtlichmachung.

In Paragraph 220 des DDR-Strafgesetzbuchs hieß es: „§ 220 Staatsverleumdung. (1) Wer in der Öffentlichkeit 
1. die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen;
 2. einen Bürger wegen seiner staatlichen oder gesellschaftlichen Tätigkeit, wegen seiner Zugehörigkeit zu einem staatlichen oder gesellschaftlichen Organ oder einer gesellschaftlichen Organisation
 verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.“

In seiner verschärften Fassung vom 28. Juni 1979 kamen noch Schriften, Gegenstände und Symbole dazu, mit denen jemand die öffentliche Ordnung hätte stören können. Unter Strafe standen auch „Äußerungen faschistischen, rassistischen, militaristischen oder revanchistischen Charakters“, wobei die Begriffe sehr, sehr weit nach Gutdünken der Repräsentanten ausgelegt wurden:

„(1) Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer Schriften, Gegenstände oder Symbole, die geeignet sind, die staatliche oder öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen, das sozialistische Zusammenleben zu stören oder die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verächtlich zu machen, verbreitet oder in sonstiger Weise anderen zugänglich macht.
(3) Ebenso wird bestraft; wer in der Öffentlichkeit Äußerungen faschistischen, rassistischen, militaristischen oder revanchistischen Charakters kundtut, oder Symbole dieses Charakters verwendet, verbreitet oder anbringt.
(4) Wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik die Tat nach Absatz 1 oder 3 im Ausland begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, Verurteilung auf Bewährung oder mit Geldstrafe bestraft.“

Es handelte sich also um lupenreines Gesinnungsstrafrecht, das sogar bei nichtöffentlichen Äußerungen angewendet wurde. Das zeigt ein schönes Zeitdokument von 1988 – der Haftbefehl gegen eine Frau aus Rostock nach Paragraph 220, die damals sechs anonyme Briefe an Repräsentanten und Repräsentantinnen verschickte, in denen sie die hetzerische Behauptung aufstelte, „daß nicht die Möglichkeit besteht, die Meinung frei zu äußern“.

Ein DDR-Funktionär hätte damals einem Westjournalisten gesagt, jeder könnte in der DDR seine Meinung frei heraussagen, er müsse eben nur mit den Folgen zurechtkommen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz verwendet in seinem Bericht eben nicht nur den DDR-Strafrechtsbegriff der Verächtlichmachung, sondern auch den Geist, der darin steckt: Der Bürger schuldet dem Mandatsträger Achtung, nicht umgekehrt. Er darf ihn nicht verächtlich machen, auch wenn er sich noch so verachtenswert verhält, und jede abfällige Bemerkung über einen Funktionär trifft immer das System als Ganzes. Die herrschende Kaste witterte in der DDR auch deshalb an allen Ecken Delegitimierung, weil sie wusste, dass es mit ihrer Legitimation ziemlich schlecht stand.

Wo beginnt die Verächtlichmachung von Repräsentanten- und tantinnen eigentlich: bei einem Witz, einer Satire, einer sachlich zutreffenden Bezeichnung wie Hanswurst, Versager, Trottel oder, jetzt wird es wirklich grob, Berliner Senatsmitglied? Verächtlichmachung stellt zwar noch nicht wieder einen Straftatbestand dar, aber neuerdings einen Verfassungsschutzfall. Nachdem sich Politiker mehr und mehr der Aufgabe widmen, Bürger zu erziehen, und auch Qualitätsmedien Kritik am Bürger als ihr Hauptbetätigungsfeld betrachten, zieht der Geheimdienst konsequent nach, indem er sich mit dem Bürger beschäftigt. Und zwar mit dem Bürger als solchen.

Er soll also erstens nicht verachten. Zweitens – und der Punkt zählt fast noch mehr – liegt es an ihm, wenn das Vertrauen in die staatlichen Institutionen schwindet, und nicht etwa an denjenigen, die diese Institutionen leiten.

Wer keine Feinde hat, der schafft sich welche
Der Phänomenbereich verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates
Unwürdige Politiker gab es schon immer, genauso wie liederliche Pfaffen und geistesschwache Könige. Aber – um erst einmal den Punkt der Verächtlichkeit abzuarbeiten – in keiner anderen Epoche gaben sich derart viele Repräsentanten wirklich jede erdenkliche Mühe, auch noch die letzten Reste von Amtswürde abzustreifen oder gar nicht erst anzunehmen. Die sozialen Medien wirken dabei als extremer Verstärker, mit ihrer Hilfe können sich öffentliche Figuren heute so schnell selbst verächtlich machen wie in keiner Generation vorher. Frankfurts Oberbürgermeister Feldmann, der selbst nach einer Korruptionsanklage im Amt bleibt und sich darin so kasperhaft aufführt, dass selbst seine Partei ihn mittlerweile am liebsten per Falltür verschwinden lassen möchte, ist eine vergleichsweise kleine Funzel in der Klasse der Würdelosen.

Warum sollte jemand eine Abgeordnete wie Emilia Fester nicht verachten, die in ihrer ersten Rede vor dem Bundestag gleich zwei Lügen unterbrachte und es außerdem als ihre Aufgabe sieht, in und vor dem Parlament Tänze aufzuführen, das Ergebnis ins Netz zu stellen, wobei sie auf nichtgefällige Kommentare lauert, die es ihr wiederum erlauben, sich als Opfer mit 10.012,89 Euro monatlicher Entschädigung darzustellen?

Bei Claudia Roth genügen eigentlich schon ihr halbnackter und nicht nur von sich selbst berauschter Auftritt vor der Kamera von 2008 („die Türkei ist meine Freundin“) und ihr Mitwackeln in einem „Deutschland du mieses Stück Scheiße“-Aufmarsch, um sie zu verachten. Da helfen auch alle Bundestagsvizepräsidentinnen- und Staatsministerinnentitel nichts. Wie man in der Türkei jedenfalls so ähnlich sagt: „Geht eine Öchsin in den Palast, wird nicht die Öchsin zur Königin, sondern der Palast zum Stall.“ Jeder kann Claudia Roth natürlich ästimieren und es im Übrigen auch in Ordnung finden, dass diese ausgepichte Menschenwürdedröhnerin und Gefühlsbewirtschafterin sich an der antisemitischen Propaganda bei der Documenta in Kassel offenbar nicht stört. Aber keine, wirklich keine Macht der Welt kann einen Bürger dazu zwingen, diese Politikerin zu achten.

Und wenn die Welt voller Kahanes und Haldenwangs wäre. Warum sollte jemand einen Bundesgesundheitsminister achten, über dessen Lügen und Verdrehungen niemand mehr den Überblick hat? Und warum eine Bundestagspräsidentin, die es kürzlich angemessen fand, ein TikTok-Video zu senden, in dem sie mit quäkiger Stimme ein Kinderlied singt?

Warum soll jemand der grünen Fraktionschefin im bayerischen Landtag mehr als höfliche Verachtung entgegenbringen, die Bürger über Verzicht belehrt, selbst zum Eisessen nach Kalifornien düst und unmittelbar nach einem islamistischen Anschlag in Frankreich hampelnd, zwinkernd, dauerbelustigt und augenscheinlich nicht nüchtern ihr Maßnahmenpaket bewirbt, in dem so „tolle Sachen“ (Schulze) wie Prävention drinstehen?

Welchen Grund hätte jemand, einer Luisa Neubauer – auch sie ist ja eine Repräsentantin, und wie – Achtung entgegenzubringen, die als höhere Hamburger Tochter nicht so wohlgeborenen Mitbürgern empfiehlt, die Erwerbsarbeit am besten bleiben zu lassen, falls sie nicht ihre moralischen Ansprüche erfüllt?

Für die Repräsentanten gibt es eigentlich naheliegende Regeln, um der Verachtung zu entgehen: Seien Sie nicht korrupt. Treten Sie bei Erhebung einer Anklage zurück. Ziehen Sie sich ordentlich an. Reden Sie nur nüchtern in eine Kamera. Verachten Sie das Land und seine Bürger nicht, die Ihre Diäten zahlen. Bezeichnen Sie Bürger nicht als Geiselnehmer, Covidioten, Schwurbler und Demokratiegefährder, nur weil sie anders meinen und reden, als es Ihnen und Ihrer Partei gerade gefällt. Überlegen Sie sich genau, was Sie in sozialen Medien von sich geben. Sagen Sie nicht wissentlich die Unwahrheit. Verlangen Sie nicht, besonders wenn Sie materiell gut gepolsterten Vielfliegerkreisen angehören, von weniger gut versorgten Bürgern ein Leben in Jutesack und Asche. Und denken Sie immer daran, dass Sie den Bürgern dienen, nicht umgekehrt, und dafür eine Bezahlung plus Versorgungsanspruch erhalten, die sehr viele von Ihnen auf dem freien Markt nie und nimmer bekämen. Seien Sie deshalb bescheiden und dankbar. Und halten Sie öfter einfach den Mund, vor allem bei offensichtlicher Ahnungslosigkeit.

„Würde“, um einmal Karl Kraus zu zitieren, der heute ein Sonderfall für den Verfassungsschutz wäre, „ist die konditionale Form von dem, was einer ist.“

Ein neues Karlsbad?
Verfassungsschutzbericht: Der Bürger unter Generalverdacht
Niemand kann behaupten, dass diese Regeln besonders schwer einzuhalten wären. In aller Kürze: Benehmen Sie sich. Dann klappt es wahrscheinlich auch mit der Achtung. Wenn es dem Verfassungsschutz tatsächlich um die Bekämpfung von Verächtlichmachung ginge, dann müssten die Mitarbeiter des Amtes zuallererst die oben genannten Repräsentanten (und noch eine ganze Reihe mehr) ins Gebet nehmen, um ihnen die ebenfalls oben aufgeführten Regeln nahezubringen. Bei der Polizei heißt so etwas „normverdeutlichendes Gespräch“ beziehungsweise Gefährderansprache.

Und nun zu dem Vertrauen in das System, den Staat und seine Institutionen. Das, geehrte und manchmal nicht geehrte Repräsentanten, liegt in Ihren Händen. Und zwar ausschließlich. Gewiss, es sind die Bürger, die das Vertrauen entgegenbringen sollen. Aber es verhält sich damit wie mit der Liebe: Niemand kann Vertrauen erzwingen, sondern nur dafür werben. Das dauert; you can’t hurry trust, no you just have to wait, während die Vertrauensabwrackung ziemlich schnell geht. Auch hier genügt es, einige Punkte herauszugreifen.

Wenn Politiker Sparer von der neuen Währung mit dem Versprechen überzeugen, kein Euroland müsste für die Schulden eines anderen haften, um dann das genaue Gegenteil zu praktizieren, wenn sie behaupten, eine Inflation käme nie, und wenn, dann würde sie auch schnell wieder verschwinden, und dann zusehen, wie sie auf eine Rekordhöhe steigt, wenn sie erzählen, der Umbau des Energiesystems werde nur eine Kugel Eis kosten, wenn sie seit mittlerweile Jahrzehnten vor jeder Wahl eine durchgreifende Steuerreform zur Entlastung versprechen, und dann jedesmal finden, jetzt wäre aber nicht der richtige Zeitpunkt, wenn sie wider besseres Wissen die Einwanderung hunderttausender Fachkräfte und neues Wirtschaftswunder versprechen, wenn sie vor der Wahl entrüstet beteuern, es sei keine Impfpflicht geplant, niemals, und dann genau diese Impfpflicht mit fadenscheinigsten Argumenten durch den Bundestag zu tricksen versuchen – dann leidet tatsächlich nicht nur das Vertrauen in einzelne Politiker, sondern in ganze Institutionen.

Dazu kommt noch eine Verschärfungsstufe. Wenn es in einer deutschen Großstadt zu massenhaften sexuellen Übergriffen kommen konnte, und praktisch alle Medien drei Tage lang darüber schweigen, um dann abzuwiegeln und via ZDF mit zusammengelogenen Zahlen zu fragen: Was ist mit dem Oktoberfest? – dann brechen gleich mehrere Pfeiler auf einmal. Und noch mehr Stützelemente fallen, wenn Politiker selbst 2021 noch Corona-Lockdowns verhängen, von denen sie damals wissen mussten, dass sie gegen das Virus wirkungslos waren. Und wenn sie jetzt mit Hilfe geneigter Medien die Evaluierung dieser Maßnahmen hintertreiben, weil sie ziemlich genau wissen, wie ein aufrichtiges Ergebnis aussehen würde. Noch einen ganz anderen Grad der Vertrauenszerstörung verantworten die Zuständigen für die mutwillige Ignoranz des Wahlgesetzes in Berlin und ihre anschließenden Verharmlosungs- und Vertuschungsversuche unter Mithilfe von Funkschranzen.

Welchen Grund hätten die Berliner, den Amtsträgern noch ein Fitzelchen Vertrauen entgegenzubringen? Weg ist weg. Andere und Bessere können nur neu beginnen, um wieder etwas Vertrauenskapital zusammenzukratzen.

Es gibt tatsächlich eine Erschütterung der Institutionen und eine Delegitimierung des Staates. Soweit liegt der Verfassungsschutz schon richtig. Die Delegitimierer sitzen allerdings in den Ämtern. Und alles, was ihnen offenbar dazu einfällt, ist ein Ruf nach mehr Zusammenhalt, neuerdings verbunden mit der Idee, Bürger sollten diesem Staat mehr dienen (vorgetragen von der gleichen Innenministerin nebenbei, die Bürgern bei “Hass und Hetze“ mit der Polizei droht und ihnen den Heimatbegriff umdeuten will).

Außerdem fällt ihnen ein, immer neue Millionen an die staatlich alimentierten Stichwortgeber zu schleusen, die berühmte Zivilgesellschaft. Und als neueste Idee die Indienstnahme des Verfassungsschutzes, der das alte Deliktfeld „Verächtlichmachung“ wiederbelebt. Das alles läuft zu einem Projekt zusammen: Delegitimierung des Bürgers. Die Umrisse eines Funktionärsstaates treten immer deutlicher hervor, in dem Amtsinhaber, flankiert von Medien am Missionsriemen, NGOs und neuerdings auch Geheimdienstlern, die den Bürgern mitteilen, wie weit ihre Kritik zu gehen hat.

Auf der Internetkonferenz Republica in Berlin sprach Bundeskanzler Olaf Scholz vor ein paar Tagen über öffentliche Meinungsäußerung. Dabei eröffnete er eine bemerkenswerte Kategorie, nämlich die Meinungsäußerung im Graubereich unterhalb der Strafbarkeitsschwelle. Natürlich unterscheidet sich die Bundesrepublik dieser Tage immer noch trotz aller spukhafter Fernwirkung (Einstein) von der DDR. Die Zitate und Dokumente weiter oben machen das hoffentlich deutlich. Aber die Richtung, in die große Teile der politisch-medialen Klasse die Gesellschaft treiben möchten, lässt sich kaum mehr ignorieren, es sei denn, jemand gibt sich viel Mühe: In dem transformierten Land sollen die Bürger den Amtsträgern verantwortlich sein. Die Amtsträger ihrerseits überlegen sehr genau, wem sie da unten überhaupt noch Vertrauen schenken. Näheres regeln Zivilgesellschaft und Verfassungsschutz.

Retuschen und Streichungen
Faeser manipuliert am Verfassungsschutzbericht
Neben der oben angeregten kleinen Vergleichsstudie zum Kaiserreich sollten sich Haldenwang und zumindest die Bundesinnenministerin noch eine andere und historisch viel naheliegendere Lektüre vornehmen, nämlich den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 28. November 2011 (1 BvR 917/09) zur Meinungsfreiheit. Das Gericht stellt darin fest, dass Meinungen generell durch Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt sind, „ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden. Der Meinungsäußernde ist insbesondere auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf die Werteloyalität baut, diese aber nicht erzwingt.“

Die Grenzen von Artikel 5 – dem Garant der Meinungsfreiheit – zogen die Richter ausdrücklich deshalb so weit, weil er ihrer Ansicht nach besonders die „Machtkritik“ schützt.

Aus dem Beschluss von damals spricht die Klugheit, dass gerade derjenige am ehesten Zustimmung findet, der sie weder erzwingt noch mit moralisierenden Vorhaltungen abfordert. Es sind nicht nur Feinheiten, die zwischen dem Beschluss von 2011 und dem Verfassungsschutzbericht von 2022 liegen. Beide Texte stehen jeweils für völlig unterschiedliche Auffassungen von Gesellschaft. Obwohl sie beide aus der späten Bundesrepublik stammen und nur elf Jahre auseinanderliegen, führt keine Brücke mehr von hier nach dort.

In einem Interview mit der Plattform „Gesichter der Demokratie“ skizzierte die oben schon einmal erwähnte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, immerhin nach dem Grundgesetz die zweithöchste Repräsentantin des Staates, wie sie Demokratie versteht, die Leute wie sie auch gern als „unsere Demokratie“ bezeichnet:

„Unsere Demokratie überträgt den Bürgerinnen und Bürgern aber auch Verantwortung für ihr Gemeinwesen und ermöglicht ihnen Teilhabe und Mitsprache.“

Das drückt so ziemlich das Gegenteil des Grundgesetzes und überhaupt des Bürgergedankens aus, zum anderen aber den Kern der wohlwollenden Funktionärsherrschaft: Der Bürger besitzt nicht mehr Grundrechte, also Abwehrrechte gegen den Staat, und beleiht nicht mehr Mandatsträger auf Zeit mit etwas Macht. Sondern andere übertragen ihm ein bisschen Teilhabe und Mitsprache. Allerdings nur, wenn der Bürger bestenfalls konstruktive Kritik übt, mitmacht, „Institutionen des Staates und ihren Entscheidungen“ (Verfassungsschutzbericht) praktisch einen Blankoscheck ausstellt und überhaupt darauf vertraut, dass Amtsinhaber schon das Richtige tun. So lautet mehr oder weniger auch schon der Kernsatz des Bundesverfassungsgerichtsurteils zu den staatlichen Corona-Maßnahmen: Der Staat wird es schon wissen.

An den Bürger des neuen Typs ergeht die Aufforderung, den staatlichen und politischen Betrieb gefälligst nicht zu stören. Beziehungsweise zu beeinträchtigen.

Zum Sündenregister, das Politiker und Medienschaffende für nichtkonstruktive Kritiker führen, gehört auch der Diskusverstoß durch den sogenannten DDR-Vergleich. Immerhin: Diesen Vorwurf musste man sich von den Abzeichenträgern damals nicht anhören. Aber ganz grundsätzlich gibt es nicht nur einen einfachen Weg, der Verachtung zu entgehen, sondern auch dem DDR-Vergleich: Benutzen Sie einfach kein SED-Vokabular. Schon gar nicht als Geheimdienstmitarbeiter. Und denken Sie vor allem nicht wie ein Repräsentant des Obrigkeitsstaats.

Anzeige

Unterstützung
oder

Kommentare ( 144 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

144 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
kdm
5 Monate her

Die Kritik ist noch seeehr höflich ausgedrückt.
Man sollte auch verbal mal richtig reinhauen!
…denn die verstehen’s ansonsten nicht.
Weil: offensichtlich idiologisch zu vernagelt und auch noch recht unerfahren (um auch hier Höflichkeit den Vorzug zu geben. Als Kind nutzten wir Kreide und schrieben an Wände: D.b.d.d.h.k.P.)

Peter Pascht
1 Jahr her

Nun ja, so kommt es wenn man aus den STASI-Handbuch abschreibt: „erfolgt meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie“ Na also, Aufgabe des Verfassungschutzes beendet an dieser Stelle. Ab, Nachsitzen, beim Geschichstunterricht !!! „nie wieder eine politische Polizei“ hieß es nach 1945 „sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen. Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden.“ „demokratisch legitimiert“ ? Logo 😉 So wie jetzt mit gefälschet Wahlen. Verächtlichmachung ? Nennt sich im Grundgesetzt: „politische Willensbildung des Volkes“… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Peter Pascht
Anton Steiner
1 Jahr her

Klar, noch können wir wählen und unsere „Vertreter“ nach Hause schicken. Und falls nicht – siehe Artikel 20 GG Abs. 4. Nichts fürchtet jede politische Kaste mehr als einen richtigen, soliden Volksaufstand.

Kristallo
1 Jahr her

Respekt, Herr Wendt, Sie stellen unsere real existierende Demokratie gedanklich wieder vom Kopf auf die Füße; aber es wird auch beklemmend deutlich, wie gefährdet die Herrschaft des deutschen Volkes ist!

IJ
1 Jahr her

Unsere Verfassung hat einen wesentlichen Zweck und zwar den einzelnen Bürger vor einem autoritären Staat zu schützen, den sich eine Partei zur Beute gemacht hat. Unsere Verfassung ist damit ganz bewusst ein Gegenentwurf zum totalitären Einparteienstaat der Nazis und der DDR-Stalinisten. Das kann man in jedem juristischen Kommentar zu unserer Verfassung nachlesen. Frau Faeser und ihre Gesinnungsgenossen beim Verfassungsschutz verkehren diese oberste Zielsetzung aktuell jedoch bewusst in ihr Gegenteil: In den Schutz der eigenen Partei vor andersdenkenden Bürgern. Sie haben sogar keinerlei Scham, sich währenddessen selbst als die wahren Demokraten und alle Andersdenkenden und Gegner als Nicht-Demokraten zu bezeichnen. Dies… Mehr

teanopos
1 Jahr her

Die einzigen die diesen Staat und seine pseudodemokratischen Institutionen verächtlich machen sind seine Protagonisten selbst. Übergriffige Pech beim Denken Menschen wie Bas, Roth, Faeser…

Klaus Weber
1 Jahr her

Da kann man doch froh sein, daß man frühzeitig den Präsidenten des Verfassungsschutzes gewechselt hat, mit Dr. Maaßen wäre das nicht zu machen gewesen. Der jetzige hingegen ist genau der, den das Land braucht, flexibel, biegsam, willig, für jede Gesellschaftsordnung brauchbar…..

Orlando M.
1 Jahr her

Derartige Maßnahmen zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit hat nur ein menschenverachtender Ausbeuterstaat nötig! Denn sie wissen nicht was sie tun, mit jeder dieser idiotischen Maßnahmen rückt die Staatspleite und vor allem Weltsozialstaatspleite ein Stück näher. Und wenn diese Politiker 400 Jahre alt werden, dann raffen sie immer noch nicht, dass freche Sprüche das kleinere der Übel sind. Die nächste Stufe lautet wie in der DDR Leistungsverweigerung und dann ist es schneller hin das neue linksrote Unterdrücker- und Ausbeuteregime, als es „Nazi“ sagen kann.

Demokratius
1 Jahr her

Damit ist es offiziell – die BRD ist zur DDR 2.0 geworden. Allerdings haben ihre Regierung und die Geheimdienste jetzt Zugriff auf technische Möglichkeiten, die alle feuchten Träume eines Erich Mielke bei weitem übertreffen.

AlexR
1 Jahr her
Antworten an  Demokratius

Seit Merkel wird an der „Umstrukturierung“ der Bundesrepublik in die DDR 2.0 mit großen Schritten und Erfolg gearbeitet. Behörden arbeiten im Schneckentempo, abgesehen von Finanzämtern wenn eine Nachzahlung fällig ist, für jeden Vorgang, der eigentlich eine tägliche Routine darstellt. Um keine Verantwortung übernehmen zu müssen, wird im Zweifel immer der Rechtsweg gewählt. Ansonsten kann man ja ggf. zur Rechenschaft gezogen werden. Bei den „Längerhierlebenden“ oder den weis(s)en Männern wird Verantwortung sowieso von den GrünInnen und ihrem Gefolge einer Rechtsextremität gleichgesetzt. Und wenn die Wahl nicht passt, dann wird sie rückgängig gemacht. Nur nicht in Berlin. Denn da haben ja die… Mehr

Last edited 1 Jahr her by AlexR
LadyGrilka55
1 Jahr her

Also das mit der (Menschen)Würde der Bürger muss in der Corona-Zeit irgendwie in Vergessenheit geraten sein. Wie sonst hätte es sein können, dass Ungeimpfte mit Begriffen wie „Bekloppte“, „unsolidarisch“, „Geiselnehmer“, „Terroristen“, „potentielle Mörder“ etc. überzogen wurden?

Mit der Würde des ungeimpften Menschen scheint mir dies dann doch nicht vereinbar zu sein.