Der lange Marsch nach Karlsruhe

Die ersten Wahlprüfungs-Beschwerden haben das Verfassungsgericht erreicht.

© Carsten Koall/Getty Images

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Die Reform von 2013 war ein Flop. Das Wahlrecht kann nicht so bleiben, wie es ist. Als am Sonntag, dem 24.9.2017, ein neuer Bundestag gewählt wurde, kam es zu einer Überraschung, die alle vorangegangenen Befürchtungen weit übertraf. Am Montag, den 25.9.2017, früh um fünf Uhr, verkündete der Wahlleiter die Sensation, die zu dieser ungewohnten Stunde aber niemand „vom Hocker riss“: Statt 598 Volksverteter sind 709 Abgeordnete in das Berliner Parlament gewählt worden, 111 mehr als das Hohe Haus bei normaler Besetzung Mitglieder hat.

Alle Wahlsendungen waren schon vor Mitternacht abgebrochen worden. Der Wahlleiter verkündete den schlaftrunkenen Wählern, es seien 46 sog. „Überhänge“ angefallen, so viele wie nie zuvor. Diesen habe er nachträglich um weitere 65 Ausgleichsmandate aufstocken müssen. Denn nach der höchstrichterlichen Entscheidung v. 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316) seien nur 15 Überhänge zulässig, es sei denn die Überschreitung der Obergrenze könne durch Ausgleichsmandate nachträglich „geheilt“ werden. Es dauerte danach noch mehrere Wochen bis dies am 12.10.2017 schließlich als das endgültige Wahlergebnis festgestellt werden konnte.

Der „Stuhlkreis“ des Hohen Hauses

Der Protest der Bürger formierte sich zunächst nur zögerlich, nahm dann aber sprunghaft zu, nachdem am 11.11.2017 in „Tichys Einblick“ der Beitrag mit dem Titel erschien: „Das Wahlrecht geht so lange zum Brunnen, bis es bricht“. Das wurde von zahlreichen TE-Lesern als Aufforderung verstanden, den Rechtsweg zu beschreiten. Man wollte es nicht länger hinnehmen, dass es im Bundestag mehr Abgeordnete gibt als normalerweise Sitze zur Verfügung stehen. Natürlich musste man sich beeilen: Der Einspruch gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl ist zwar in Art. 41 Grundgesetz garantiert. Die Wahl kann aber nur innerhalb einer engen Frist von zwei Monaten ab dem Wahltag angefochten werden. Und das haben mehr als 200 Staatsbürger getan. Die meisten von ihnen führten zur Begründung aus, es gebe zu viele Abgeordnete, der Bundestag sei überfüllt.

Niemand versteht das
Das Wahlrecht geht so lange „zum Brunnen“, bis es bricht
Bundestagspräsident, Wolfgang Schäuble, versuchte zu retten, was zu retten war und räumte seinerseits, sogar mehrfach, kleinlaut ein, im Bundestag säßen zu viele Abgeordnete. Das wolle er ändern. Das Wahlrecht, das zuletzt 2013 reformiert worden war, müsse noch in der laufenden Legislaturperiode einer erneuten Reform unterzogen werden. Er verspielte aber die Zustimmung der Öffentlichkeit mit der ängstlichen Einschränkung, seine „Reform von der Reform“ nicht zur nächsten sondern erst zur übernächsten Wahl in Kraft zu setzen.

Schäuble scharte sogar einen „Stuhlkreis“ aus Vertretern der Fraktionen des Bundestages um sich. Er sollte die Eckpunkte der geplanten Reform des Wahlrechts erörtern und festzurren. Auch das beeindruckte die Öffentlichkeit nicht. Niemand kam auch nur auf die Idee, seinen Wahleinspruch zurückzuziehen. Für Schlagzeilen auf den Titelseiten der Presse und in den Medien sorgte erst die Nachricht, Schäubles „Stuhlkreis“ habe seine Tätigkeit eingestellt, weil er sich nicht auf ein gemeinsames Konzept einigen konnte.

Schäuble hätte selbst die Wahl anfechten können

Schäuble ist auf der ganzen Linie gescheitert. Er hat es versäumt, von sich aus die Bundestagswahl einer Wahlprüfung zu unterwerfen, wozu er (nach § 2 Abs. 4 WahlprüfG) berechtigt ist. Schäuble hätte selbst die Wahl anfechten, sich vom Wahlprüfungsausschuss und anschließend vom Plenum des Bundestages niederstimmen lassen und dann beim Verfassungsgericht Beschwerde dagegen führen können. Das hat er aber nicht getan. Dazu fehlte ihm Wille und Mut. Unterdessen rückt die Zeit voran. Auch weiß niemand, ob die Regierungskoalition aus den Unionsparteien und der SPD die bevorstehenden Landtagswahlen in Bremen, Thüringen, Sachsen und Brandenburg überlebt oder danach auch im Bund vorzeitige Neuwahlen notwendig werden? Nach welchem Recht soll dann gewählt werden? Will man tatsächlich in Kauf nehmen, dass noch mehr Abgeordnete in den Bundestag einziehen als 2017? Das ist nicht nur zu befürchten, damit muss man rechnen.

„Auf den langen Marsch“ nach Karlsruhe sind nun die ersten Wahleinsprüche von Staatsbürgern bei Verfassungsrichtern eingetroffen. Dort ist der Zweite Senat für die Beschwerden der Bürger zuständig, die zuvor mit ihren Wahleinsprüchen vom Plenum des Bundestages „niedergestimmt“ worden sind. In der vergangenen Legislaturperiode hat der Senat alle Beschwerden dieser Art „a limine“ zurückgewiesen. Denn das Verfassungsgericht hat ein Privileg: Wenn die Richter einstimmig sind, können sie das ohne weitere Begründung tun. Zu einem Urteil mit Begründung kommt es also nur dann, wenn das wenigstens einer der Höchstrichter verlangt.

Auffällig sind zwei Wahlprüfung-Beschwerden, die (unter den Aktenzeichen 2 BvC 24/19 und 2 BvC 27/19) beim Verfassungsgericht anhängig sind. Denn beide Beschwerdeführer haben (unter den Aktenzeichen 2 BvQ 23/19 und 2 BvQ 26/19) Eilantrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt. Damit wollen sie erreichen, dass „die 65 Abgeordneten, die lediglich ein nachgeschobenes Aufstockungsmandat bekleiden, das ihnen nach Schließung der Wahllokale am 24.9.2017 zugeteilt wurde, so lange von der Willensbildung im Deutschen Bundestag fernzuhalten sind, bis über die Streitfrage ihrer demokratischen Legitimation in der Hauptsache entschieden ist.“ Das klingt ziemlich „juristisch“, ist aber nichts anderes als eine energische, gegen die Ausgleichsmandate gerichtete Kampfansage.

Parlamentarischer Notstand

Eilanträge dulden keinen Aufschub. Zur Begründung führen die Beschwerdeführer aus: „Gesetzt den Fall im Hauptsacheverfahren kann rechtswirksam geltend gemacht werden, dass den 65 Abgeordneten, die lediglich ein Ausgleichsmandat bekleiden, die demokratische Legitimation tatsächlich fehlt, dann muss der gerügte Zustand, schon wegen der schieren Größenordnung, die hier auf dem Spiel seht, einen parlamentarischen Notstand auslösen. Zum Vergleich: Die Fraktion der Grünen hat derzeit 67 und die der Linken 69 Abgeordnete.“ Ganz konkret müsse auf jeden Fall verhindert werden, dass die 65 Abgeordneten mit Ausgleichsmandat im Plenum des Bundestages an den noch ausstehenden Entscheidungen über die Wahleinsprüche der Bürger mitwirken und diese niederstimmen.

Sieht man von den Eilanträgen auf vorläufigen Rechtsschutz ab und wendet man sich den zugrundeliegenden Wahlprüfungs-Beschwerden zu, wird das Bild noch klarer. In der Verfassung heißt es: „Die Abgeordneten (…) werden gewählt.“ Volksvertreter wird man nicht durch Zuteilung eines Mandats, sondern durch unmittelbare und freie Wahl der Person, die in der nachfolgenden Wahlperiode das Volk im Parlament vertreten soll. Eine solche Wahl fand bei den Ausgleichsmandaten aber gar nicht statt. In dem Schriftsatz heißt es wörtlich: „Es gab 2017 weder eine Eventualstimme noch eine richtige Nachwahl darüber, wer, von welcher Partei, in welchen Bundesland denn ein Ausgleichsmandat erhalten soll. Der Bundestag kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass den 65 Abgeordneten, die lediglich ein nachgeschobenes Ausgleichsmandat bekleiden, die demokratische Legitimation fehlt und sie das Parlament wieder verlassen müssen.“

Weiter führen die Beschwerdeführer aus: Niemand sei befugt, über die Fünf-Prozent-Hürde hinausgreifend nach einmal in das Wahlergebnis einzugreifen, es – ohne Nachwahl! – zu deckeln, zu bereinigen, zu verbessern oder auszugleichen. Wer das Wahlergebnis – ohne Nachwahl! – ausgleicht, der verfälscht es auch.

Harbarth und das Wahlrechtswirrwarr

Einer der beiden Beschwerdeführer griff in seinem Schriftsatz den Missstand auf, der entstanden ist, nachdem Stephan Harbarth aus dem Bundestag ausgeschieden ist. Der CDU-Abgeordnete war zuvor vom Bundestag zum Verfassungsrichter und vom Bundesrat zu Vizepräsidenten des Gerichts in Karlsruhe gewählt worden. Zur Erinnerung: Harbarth ist 2017 mit den Erststimmen direkt in den Bundestag eingezogen. Sein Wahlkreis Nr. 277 (Rhein-Neckar) liegt in Baden-Württemberg. Für Harbarth rückte am 5.12.2018 aus der CDU-Landesliste Nina Warken nach, die ohne Nachwahl im Wahlkreis gleichsam von der „Reservebank“ in den Bundestag einwechselte. Mit dem Austausch des Direktmandates durch einen Listenplatz, der noch nicht zum Zuge kam, wird nicht nur das Direktmandat vakant, es fällt auch ein Überhangmandat weg. Statt 11 gibt es in Baden-Württemberg nur noch 10 Überhänge. Und wenn in Baden-Württemberg die Zahl der Überhänge sinkt, dann muss natürlich auch die Zahl der Ausgleichsmandate neu berechnet und zurückgeführt werden. – Doch daran denkt niemand!

Wolfgang Schäuble ist der Chef des Parlaments. Er hat dort für Recht und Ordnung zu sorgen. Ein Abgeordneter verliert die Mitgliedschaft in Deutschen Bundestages bei Neufeststellung des Wahlergebnisses. Über den Verlust der Mitgliedschaft entscheidet in diesem Fall der Ältestenrat des Bundestages. So steht es im Gesetz. Aber Papier ist geduldig. Schäuble legt die Hände in den Schoß. Der Ältestenrat fühlt sich deshalb nicht angesprochen und wäscht seine Hände in Unschuld. Nun ist das Verfassungsgericht am Zuge. Und es liegt auf der Hand, dass die Verfassungsrichter an dieser Stelle außergewöhnlich „kitzelig“ sind. Denn sie müssen sich auch mit dem Fall Harbarth auseinandersetzen, der immerhin Vizepräsident des Verfassungsgerichtes ist.

Eine gewisse Brillianz kann man diesem Schachzug nicht absprechen.


*) Der Autor lebt in München und hat als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist und Blogger u.a. auch mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht, darunter: BWahlG Gegenkommentar, 2. Auflage 2018 (ISBN 978-3-96138-053-4) und zuletzt: „One man one vote – Eine Stimme ist genug“ (ISBN 978-3-96138-100-5).

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Kommentare ( 30 )

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Tomas Kuttich
4 Jahre her

Hier ist allerdings die Rede vom BVerfG und nicht vom BGH, ein kleiner, aber feiner Unterschied!

Wolfgang M
4 Jahre her

Man kennt ja kaum die Direktkandidaten aus dem Wahlkreis. Eine Wahl einer Person aus einer deutschlandweiten Liste erscheint mir nicht machbar. Die Wahlkreiskandidaten dienen auch der direkten Ansprache. Das entfiele dann völlig.

Alf
4 Jahre her

Ein Spiegelbild für den Niedergang unserer Demokratie.
Für solche Korrekturen muß man nicht das Bundesverfassungsgericht bemühen.
200 Staatsbürger sind nötig, zu leisten, was das Parlament nicht leisten will.

Guter Heinrich
4 Jahre her

Wenn das Bundesverfassungsgericht einstimmig Unrecht zu Recht erklärt, dann ist es Recht. Gerichtsurteile sind schon bei einer neutralen Justiz unvorhersehbar. Anders bei einer Partikularinteressen dienenden Justiz. Diese ersetzt Unvorhersehbarkeit durch Willkür. Zum Glück leben wir hingegen in einem neutralen Rechtsstaat – erklärt dass Bundesverfassungsgericht.

Juergen Behm
4 Jahre her

Die Kommentare der Leser hier zum in dieser Sache entscheidenden Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sind ja eindeutig. Das wurde schon immer und jetzt mit dem Wirtschaftsanwalt Harbarth als neuen Vizepräsidenten immer frecher zur Beute der Parteien gemacht. Dazu möge sich ein jeder in Parlamentsfernsehen den hochwertigen Beitrag dieses Herrn zum UN-Migrationspakt ansehen, dann wird er auch wissen, was von diesem Herrn zu erwarten ist, nämlich das Abnicken aller staatlichen Rechtsverstöße und/oder Grundrechtsverletzungen.

friedrich - wilhelm
4 Jahre her

…..wann gehen wir die sache an?

Coco Perdido
4 Jahre her

Wenn man für den Bund wählt, wählt man nicht für den Wahlkreis. Ihre Schlussfolgerung, die bundesweite Kandidatur der Bewerber, ist damit sinnvoll. Technisch sollte es bei machbarer Vermeidung großer Stapel von Wahlzetteln kein Problem sein.

Ich plädiere dabei außer einer individuellen Identifikationsnummer zwecks handschriftlicher Übertragung in den einzigen notwendigen Wahlzettel unbedingt für eine Ampelkennzeichnung bei allen Kandidaten, die wie bei den Lebensmitteln Auskunft über Nährwert und Risiken gibt.

schukow
4 Jahre her

»Parla m entarismus« natürlich, au weia! 🙂

schukow
4 Jahre her

Zusammenlegung der Wahlkreise im Verhältnis von etwa 3 : 1 dürfte rechnerisch die einfachste Lösung sein. Dies würde auch der Tatsache Rechnung tragen, daß der Bundestag schon einen guten Teil seiner Kompetenzen an das übergeordnete EU-Parlament abgetreten hat. Allein, haben Sie schon ‚mal versucht, einem Hund den Knochen wegzunehmen? …. oder einer Katze die Maus? ….. eben! Schlimm sind weniger die steigenden Kosten sondern der schleichende Bedeutungsverlust der Legislative. Für einen Rechtsstaat in der Tat bedrohlich. Einmal fortgesponnen sitzen dan 2035 vielleicht 1300 Abgeordnete dort, welchen Wert hat dann noch der einzelne, seinem Gewissen verpflichtete Vertreter? Die Aufblähung des Parlaments… Mehr

Ursula Schneider
4 Jahre her

Es ist einfach ein Skandal, dass sich Deutschland als relativ kleines Land das zweitgrößte Parlament der Welt leistet. Und es könnte mit jeder Wahl noch größter werden …
Die Kosten dafür belaufen sich jetzt schon auf fast eine Milliarde Euro – und das, obwohl sich die Aufgaben des Parlaments wegen Brüssel laufend reduzieren. Es ist reines Postengeschacher und sonst nichts.
Dank an die vielen Kläger, die das nicht hinnehmen wollen! Man kann nur hoffen, dass sich das Bundesverfassungsgericht verantwortungsvoller erweist als der „Stuhlkreis“ des Hohen Hauses … Ich bin gespannt.