Den Parteien fehlt es an charismatischen Politikern

Die SPD konnte die Wahl in Brandenburg nur gewinnen, weil Ministerpräsident Dietmar Woidke beliebt ist. Das widerlegt die These, dass egal sei, welches Individuum Politik betreibe. Der Glaube an diese These wird den etablierten Parteien gefährlich.

picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Bündnis Sahra Wagenknecht und Alternative für Deutschland. So heißen die beiden politischen Erfolgsgeschichten des Jahres 2024. Beide tragen eine individuelle Person in ihrem Namen. Beim Bündnis Sahra Wagenknecht ist das offensichtlich. Der Name „Alternative für Deutschland“ ist eine unmittelbare Reaktion auf Altkanzlerin Angela Merkel (CDU), die ihre Politik immer wieder als „alternativlos“ pries – etwa in Sachen Euro-Rettung: Der ursprüngliche Anlass für die Gründung der AfD.

Über die Rolle des Individuums in der Politik streiten gleich mehrere Wissenschaften. Es gibt gute Gründe, an die Grenzen dieser Rolle zu glauben. Institutionelle und historische Rahmen engen das Individuum in der Politik ein. Doch ganz beliebig austauschbar ist das politische Personal eben doch nicht. Das haben nicht erst die letzten drei Wochen bewiesen. Glaubt eine Partei, sie müsse nicht mehr auf die Außenwirkung ihrer Kandidaten achten, legt sie die ersten, entscheidenden Meter ihres Niedergangs zurück.

Zum Beispiel die CDU Baden-Württemberg. Das Ländle galt in der Bundesrepublik als die uneinnehmbare Hochburg der Christdemokraten. Dazu trugen auch sehr beliebte Ministerpräsidenten bei. Der Letzte dieser Art war Lothar Späth. Das „Cleverle“ hielten viele in dessen ersten beiden Amtszeiten sogar potentiell für den besseren Kanzler als Helmut Kohl (CDU). Doch nach Späth ging es bergab mit der CDU in Baden-Württemberg.

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Späths Nachfolger Erwin Teufel und Günther Oettinger waren dann immer etwas unbeliebter als ihr jeweiliger Vorgänger. Dann kam Stefan Mappus. Der sah nicht gut aus, war kein guter Redner und wirkte immer ein wenig wie ein Gebrauchtwagenhändler, der einen gerade über den Tisch gezogen hat. Dubiose Entscheidungen wie der Kauf von EnBW verstärkten dieses Image. Aber Mappus war ein begnadeter Strippenzieher in der CDU. Die Partei dachte, nach außen mit dem innerparteilich stärksten Mann auftreten zu können – ganz egal, wie der auf die Wähler wirkt. Falsch gedacht. Die Bürger wählten Mappus und CDU ab. Seit über einem Jahrzehnt regiert ein Grüner die schwarze Hochburg.

In Brandenburg trat in Dietmar Woidke ein hochbeliebter Ministerpräsident gegen einen Herausforderer Jan Redmann (CDU) an, dessen Stärken im innerparteilichen Apparat liegen müssen – denn sein Außenauftritt ist eine Katastrophe. Mit diesem Ungleichgewicht im Rücken konnte sich Woidke überhaupt erst die Strategie leisten, ein stärkeres Ergebnis der SPD als das der AfD zur Bedingung zu machen, selbst im Amt zu bleiben.

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Individuen machen in der Politik doch einen Unterschied. Damit beschäftigt sich seit diesem Wochenende auch die AfD. Eine ZDF-Journalistin fragte deren Vorsitzenden Tino Chrupalla, ob dessen Partei nicht mehr Sorgfalt walten lassen müsse in der Auswahl ihrer Spitzenkandidaten. Chrupallas Antwort war erstaunlich ehrlich: Ja, das sei ein Punkt, auf den die AfD künftig besser achten müsse. Alice Weidel gehört zwar zu den besten Rednern im Bundestag, Chrupalla hat es geschafft, Ruhe in die Partei zu kriegen. Aber den charismatischen Spitzenkandidaten hat die AfD bisher nicht gefunden. Nicht im Bund und auch nicht in den Ländern. Sie ist immer noch eine Anti-Partei. Eine, die als Reaktion auf den einsetzenden Niedergang Merkels gegründet wurde.

Wobei Charisma ein seltenes Gut geworden ist. Franz Müntefering war nie Spitzenkandidat der SPD. Doch wenn er einen Raum betrat, egal wie groß der war, war das Charisma mit Händen zu greifen. Das Publikum bemerkte ihn, noch bevor es ihn gesehen oder gehört hatte. Ähnliches galt für Gerd Schröder, Kurt Beck oder Joschka Fischer. Der erste grüne Außenminster spielte im November 1994 keine Rolle in der Partei. Der Bundesvorstand ermahnte Fischer vor dem Kölner Parteitag, sich dort entsprechend zu verhalten. Sprich: dem Bundesvorstand nicht die Show zu stehlen.

Fischer hielt sich daran. Auf seine Weise. Er betrat die Sporthalle auf dem Messegelände mit mehreren Stunden Verspätung. Die war bereits gut gefüllt, vorne kämpften sich die Redner am Mikrofon ab. Fischer ging alleine, still und leise in die allerletzte Reihe der Halle, wo er Platz nahm. Drei Dutzend leere Stuhlreihen zwischen ihm und dem restlichen Parteitag. Ganz leise war Fischers Auftritt – und trotzdem drehte sich der versammelte Parteitag nach Fischer um. Das ist Charisma.

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Charisma ist ein bedeutender Vorteil in der Politik. Es ist selten geworden. Christian Lindner führt die FDP in die Bedeutungslosigkeit, in Brandenburg auf 0,83 Prozent. Doch trotzdem verfügt in der FDP noch am ehesten er über diese Qualität. Volker Wissing oder Linda Teuteberg sind die inhaltlich besseren Politiker. Doch aufgrund ihres farblosen Auftretens wünscht sich die Partei die beiden so wenig als Vorsitzende, dass sie lieber mit Titanic-Christian untergeht, als mit einem anderen Kandidaten um den Verbleib an der Wasseroberfläche zu kämpfen.

Persönlichkeit ist in der Politik selten geworden. Sonst wären Karrieren wie die von Saskia Esken, Kevin Kühnert (beide SPD), Ricarda Lang, Omid Nouripour (beide Grüne), Janine Wissler, Martin Schirdewan (beide Linke), Friedrich Merz, Hendrik Wüst, Daniel Günther (alle CDU) oder Marco Buschmann (FDP) nicht denkbar. Eskens Auftreten ist so erschreckend, dass ihre Parteifreunde mittlerweile öffentlich zugeben, der SPD-Vorsitzenden ihre Auftritte in Talkshows verbieten zu wollen.

Das Fehlen von Charisma ist kein Zufall. Die bisher regierenden Parteien von Linke über die Ampelparteien bis hin zur Union haben die Außenwirkung als Aspekt ihrer Elitenauswahl aufgegeben. Wichtig ist, sich in der Partei durchsetzen zu können. Wie einst Stefan Mappus in der CDU Baden-Württemberg. Gewählt werde man dann schon. Wen sollen die Bürger denn sonst wählen? Es passt, dass die Ampel eine Wahlrechtsreform beschlossen hat, die das Direktmandat schwächt. Der Kandidat, den die Bürger kennen, mögen und wählen, gilt kaum noch etwas – stattdessen dominiert der Parteisoldat, den die Partei über eine Liste ins Parlament zwängt, über den meist vorab in Hinterzimmern entschieden wird. So lässt sich dann eine Elitenauswahl erklären, deren Ergebnis Esken, Lang, Wissler, Wüst oder Buschmann heißt.

Doch wie schon in der CDU Baden-Württemberg geht das nur eine zeitlang gut. Eine Partei kann sich vielleicht einen Günther Oettinger erlauben, aber halt keinen Stefan Mappus. Nicht dauerhaft. Und so schrumpfen denn die Parteien von Linke über Ampelparteien bis hin zur Union. Vor fünf Jahren kamen sie bei Wahlen zusammen noch auf über 90 Prozent. Nun erreichen AfD und BSW in Thüringen zusammen eine theoretische Mehrheit und in Brandenburg ein Patt. 40 Prozent Verlust in wenigen Jahren. Die Alarmglocken sollten läuten.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht verfügt über eine der letzten Charismatikerinnen in der Politik. Die AfD räumt selbst ein, dass sie in der Personalauswahl noch Luft nach oben hat. Doch das Bündnis wird von einer 55-Jährigen getragen, die als One-Woman-Show auftreten muss. Das zehrt schnell an den Kräften. Dass sie am Brandenburger Wahlabend aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen kann, dürfte ein leiser Vorgeschmack auf mögliche Ermüdungserscheinungen sein.

[innner_post 4] Die Parteien von Linke über Ampel bis hin zur Union treten also nicht gegen übermächtige Einzelkandidaten an. Trotzdem ist ihre eigene Kandidatenauswahl so schlecht, dass sie in den letzten Jahren zwischen 20 und 40 Prozentpunkten an Boden verloren haben. Wie wichtig gute Kandidaten sind, zeigt sich bei den Grünen. In der Opposition bildeten Annalena Baerbock und Robert Habeck ein geniales Führungsduo. Das trat nur in günstigem Umfeld auf und wurde von willigen Journalisten ins richtige Licht gesetzt. Seitdem sich das Wirken der beiden kaum noch schönreden lässt und immer mehr Deutschen bewusst wird, mit wem sie es da zu tun haben, brechen die Wahlergebnisse der Grünen massiv ein.

Linke, Ampelparteien und Union müssen an die Personalauswahl ran. Dass es egal sei, wen sie als Kandidat aufstellten, sollten sie als Gedanken rasch streichen. Jemand mit der Ausstrahlung einer Saskia Esken sollte sich mit der zweiten Reihe begnügen. In der zahlt der Steuerzahler ja immer noch auskömmlich. Pfeifen diese Parteien weiter auf die Außenwirkung als Kriterium, gehen die Ergebnisse weiter nach unten. Wie schwer es dann ist, verloren gegangenen Boden zurückzugewinnen, davon kann die CDU Baden-Württemberg so manches erzählen.

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Kommentare ( 60 )

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Rob Roy
2 Monate her

Ich weiß, der Autor meint mit Charisma eine „gewinnende Ausstrahlung“. Aber Vorsicht mit dem Begriff.
In der Soziologie bezeichnet es eine der drei Formen von Herrschaft:
„Charismatische Herrschaft zeichnet sich z. B. durch die Fähigkeit aus, sich sanktionslos über Regeln hinwegzusetzen.“
Auf Anstand und Moral zu pfeifen, Gesetze zu biegen und brechen, seine eigentlichen Pflichten aber zu vernachlässigen, ohne auch nur im Geringsten Verantwortung zu tragen, zeichnet vor allem die Ampelpolitik aus.

Martin Mueller
2 Monate her

Es fehlen vor allem Politiker, die den Eid, den sie zum Wohle des deutschen Volkes geschworen haben, auch adäquat durch politisches Handeln erfüllen.
Zur Zeit sind zu viele Eidbrecher unterwegs.

W aus der Diaspora
2 Monate her

Charisma ergibt sich auf Basis geistiger oder emotionaler Intelligenz.
Daran hapert es aber, weil niemand innerhalb einer Parteiorganisation hoch kommen kann, der unter Umständen besser ist, als die, die bereits über ihm sind. So wie in der realen Wirtschaft kein Vorgesetzter sich einen Vertreter nimmt, der besser ist, als er selbst.

Ohanse
2 Monate her

Der Bedarf an charismatischen Figuren ist da. Trotzdem gibt es kein entsprechendes Angebot. Das deutet auf eine Störung des Marktes hin.

Baron Fred
2 Monate her

Der hochbeliebte Dietmar Woidke hat nicht einmal seinen eigenen Wahlkreis gewonnen!?
Ministerpräsident Dietmar Woidke unterlag im Wahlkreis Spree-Neiße I denkbar knapp dem AfD-Kandidaten Steffen Kubitzki.

Klaus Kabel
2 Monate her

Also ich finde, Frau dingens…na, die Dings…die wie heißt sie doch gleich?…Eskens…ja, die Eskens hat doch Charme und Charisma…wie ein sovietisches Flintenweib.

Vau8
2 Monate her

Charismatische Politiker haben es auch innerhalb der eigenen Partei schwer. Ich denke da an Krah und Höcke. Die meisten Menschen, erst recht Politiker, haben kein Charisma. Da mag auch der Neidfaktor eine Rolle spielen.

Mermaid
2 Monate her

Ich lese Ihren Artikel wie ein Plädoyer für ein reines Mehrheitswahlrecht. Dort kommen die blassen und ungebildeten Apparatschiks, die jetzt dieses Land wie Parasiten aussaugen, sofort unter die Räder. Keine Partei wäre gehindert, in den Wahlkreisen die Kandidaten aufzustellen, von denen man sich vorstellen kann, daß sie das Rennen machen. Die Bürger hätten eine echte Wahl, denn nur der direktgewählte Kandidat hat eine echte demokratische Legitimation. Die jüngste Wahlrechtsänderung zugunsten der Listenkandidsten geht (natürlich!) in die völlig falsche Richtung. Und selbst kleine Parteien mit einem charismatischen und gebildeten Kandidaten haben ihre Chancen. Aber Charisma ist ja auch nur ein Teil;… Mehr

Last edited 2 Monate her by Mermaid
imapact
2 Monate her

Um das noch zu ergänzen: sog. „charismatische“ Persönlichkeiten sind sehr häufig versierte Blender, die etwas ausstrahlen, was sie in Wirklichkeit nicht besitzen und dadurch nach oben kommen. Hans-Georg Maaßen wäre sicherlich ein hervorragender Politiker, hat aber eher die Ausstrahlung eines wenngleich tüchtigen Beamten – und so ergeht es jetzt auch seiner Parteineugründung; während BSW mit ihrer schillernden Galionsfigur durch die Decke schießt, ohne daß Frau Lafontaine – außerhalb ihrer Talkshowtätigkeit – jemals sich in der Praxis bewährt hätte.

Hieronymus Bosch
2 Monate her

Charismatische Politiker, wie Trump zum Beispiel, kommen in Deutschland immer schlecht weg! Hier regieren einzig das Mittelmaß und die Durchschnittlichkeit! Ihre Rden sind langweilig und einschläfernd, ihr Auftreten ist so langweilig wie ihr Aussehen, aber der deutsche Wähler nimmt davon keine Notiz! „Mutti Merkel“ ist dafür das beste Besipiel, Esken folgt ihr auf dem Fuß. Den Vogel schießen in der Regel unsere Bundespräsidenten ab, die mit pastoralem Tonfall und als gottergener Moralprediger ins Haus fallen, als würde jede Art von Emotionaliät ihr Gebaren lähmen! Wie der Herr, so’s Gescherr, sagt der Volksmund. Die jüngere Politikergeneration steht der älteren übrigens in… Mehr