Unzertrennliche Geschwister

Als ob der Geschwister-Verbund aus Ideologie, Selbstüberschätzung, Dummheit und Cancel-Culture nicht schon fatal genug wäre, versucht die Ideologie zusätzlich, die Religion auf ihre Seite zu ziehen. Gegen religiös verzierten Ideologiesysteme mit der unrealistischen „Vereindeutigung der Welt“ hilft nur das Gegenteil von Ideologie, nämlich die „Vervielfältigung der Welt“.

Ideologie ist hoch attraktiv. Sie erfüllt das menschliche Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Klarheit in einer verwirrenden Welt:

Die vermeintlich einzig wahre Wissenschaft, repräsentiert durch Prof. Christian Drosten, ist für die allgemeine Orientierung wesentlich angenehmer als folgende Frustration: Ich frage 5 Wissenschaftler und bekomme 6 Antworten.

Der blinde Glaube, wenn Lützerath bleibt, wird dem Klima entscheidend geholfen, befriedigt das menschliche Kontrollbedürfnis zufriedenstellender als die frustrierende Erkenntnis, dass das Klima ein multifaktorielles chaotisches System ist und deshalb Klimaprognosen unsicher sind, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.

Und wie schön ist es, wenn man im Ukraine-Krieg genau weiß, wer 100 Prozent gut und wer 100 Prozent böse ist, und dass die gute Seite durch Frau Baerbock professionell gestylt repräsentiert wird. Bei so viel Attraktivität kann man selbst bei einem menschenverachtenden Abnutzungskrieg eigentlich nichts falsch machen.

Ideologie ist hoch attraktiv. Sie stillt in unsicheren Zeiten die tiefe Sehnsucht nach „Vereindeutigung der Welt“ (Thomas Bauer). Und so ist es normal, dass in der Gegenwart unzählige Ideologien blühen. Allerdings wird es gefährlich, wenn die Vielzahl von Ideologien und Antiideologien sich nicht mehr gegenseitig korrigieren, sondern wenn einige Ideologien unhinterfragbar die Kulturherrschaft übernehmen. Das hat fatale Nebenwirkungen.

Die Vereindeutigung der Welt, egal welche Farbe sie trägt, braucht die Dummheit als Schwester. Alles, was nicht in die Vereindeutigung passt, muss weg. Widersprüche, Unpassendes und Mehrdeutigkeiten müssen ausgeblendet werden. Koste es, was es wolle. Ideologien brauchen Scheuklappen. Und je mehr Eindeutigkeit Ideologie schenken will, desto rigoroser müssen die Scheuklappen sein. Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken müssen konsequent gleichgeschaltet werden, damit die Welt eindeutig bleibt.

Ein ideologischer Atomkraftgegner zum Beispiel wird sich kaum ehrlich auf das Problem einlassen können, dass Deutschland bei Dunkelflaute Atomstrom aus klapprigen französischen Atomkraftwerken importieren muss, wenn es seine bewährten deutschen Atomkraftwerke stilllegt. Der ideologische Atomausstieg wird durchgezogen, selbst wenn er den eigenen Verstand kostet.

Dummheit in diesem ideologischen Sinne hat nichts mit dem IQ zu tun. Bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen hatte man allen Angeklagten den IQ gemessen. Es kamen erstaunlich hohe Werte heraus. Trotzdem waren die Nazis eindeutig ideologie-dumm. Selbst im April 1945, als die Alliierten vor München standen, glaubten viele noch an den Endsieg und an eine Wunderwaffe. Es ist erschreckend zu sehen, wie Menschen an ihrem Weltbild festhängen, obwohl die Realität die Ideologie schon lange zerlegt hat. Darin ist der Professor mindestens so gut wie der Postbote. Oft ist es die geistige Elite, die sich in ideologische Dummheit verstiegen hat.

Die ideologische Dummheit braucht zudem die Ablehnung des offenen Gesprächs. Ein Dialog auf Augenhöhe kann verwirren. Da können Dinge zur Sprache kommen, die Eindeutigkeit verunsichern. Darum braucht die Ideologie die Cancel-Cultur. Cancel-Culture ist die (Un)Kultur der Eindeutigkeit. Diese Ablehnung des Dialogs gilt auch im Umgang mit der eigenen Geschichte. Die Vergangenheit muss von allem gesäubert werden, was der Vereindeutigung entgegensteht. Also weg mit Bismarck, ambivalenten Straßennamen, Winnetou und diesen schrecklichen christlichen Kreuzen an den Wänden. Von der Geschichte bleibt nur noch das Reine übrig, was durch das Sieb der eigenen Ideologie gepresst wurde.

Ideologie bildet mit Dummheit und Dialogverweigerung einen angriffssicheren Panzer um sich herum. Das bemerkt der Ideologe nicht, denn von innen heraus ist seine Welt vollkommen stimmig und durch oberflächliche Diversität sogar vielfältig. Der Ideologe ist selbstsicher und überzeugt von sich. Er hat die Wahrheit und braucht sich nicht zu verändern.

Selbstüberschätzung, Ideologie, Dummheit und Cancel Culture sind untrennbare Geschwister. Sie brauchen einander. Sie ergänzen einander. Sie blasen sich gegenseitig auf. Und wo eines der Geschwister ist, da treiben sich garantiert auch die anderen drei Geschwister herum. Als ob dieser Geschwister-Clan nicht schon fatal genug wäre, versucht die Ideologie zusätzlich, die Religion auf ihre Seite zu ziehen. Die meisten Ideologien mögen religiösen Federschmuck, sofern die Religion schön brav ist und sich widerstandslos in die Ideologie einfügt.

  • Die One-World-One-Love-Ideologie, die undifferenziert jede vernünftige und kontrollierte Migrationspolitik als „Nazi“ und „Rechts“ diabolisiert, hat nichts gegen den Heiligenschein, der auf sie abstrahlt, wenn die evangelische Kirche bei der „Seenotrettung“ im Mittelmeer unter die Reeder gekommen ist.
  • Die Corona-Ideologie, die auf die Eindeutigkeit eines experimentellen Impfstoffs gesetzt hat, fühlt sich bestätigt, wenn Kirchen ihre Kirchenräume und Altäre für Impfzentren freigegeben und damit die Impfung spirituell aufgewertet haben.
  • Und die Klimakatastrophen-Apokalyptiker, die mit einem Tempolimit anfangen wollen, den Verkehrssektor in ihrem Sinne umzukrempeln, bekommen Auftrieb, wenn die hohe EKD-Synode offiziell-klerikal für das Tempolimit eintritt.

Doch die christliche Religion legt die Axt an die eigene Wurzel, wenn sie sich in die Dummheit, Selbstüberschätzung und Diskussionsverweigerungskultur einer Ideologie hineinziehen lässt. Der christliche Glaube wird damit unweigerlich zu einem dummen Glauben. Die Kirche in Geschichte und Gegenwart ist voll von ideologisch-verdummten christlichen Glaubensformen.

Gegen diese religiös verzierten Ideologiesysteme mit ihrer unrealistischen „Vereindeutigung der Welt“ hilft nur das Gegenteil von Ideologie, nämlich die „Vervielfältigung der Welt“: Wir brauchen den Zugewinn an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Wir brauchen uneindeutige Klugheit:

  • Klugheit, die differenziert, die abseitige Kleinigkeiten wahrnimmt, die sich den Widersprüchen des Lebens stellt;
  • Klugheit, die zweifelt und Grundsatzfragen stellt;
  • Klugheit, die den Dialog liebt, weil sie weiß, dass nur im Dialog die eigenen ideologischen Ansätze und die eigenen blinden Flecken aufgedeckt und korrigiert werden können.

Echte Klugheit hält es mit dem kolumbanischen Philosophen Nicolas Gomez Davila: „Es geht nicht darum, Widersprüche aufzulösen, sondern sie zu erkennen und zu ordnen. Das ist das einzige, wonach wir streben können.“

Ein kluger christlicher Glaube hilft bei dieser „Vervielfältigung der Welt“. Schon die Bibel mit ihren 66 unterschiedlichen Büchern, die in einem Zeitraum von über 1500 Jahren entstanden sind, zeigt: Die christliche Religion steht für Offenheit und Vielfalt in den Weltbezügen. Und doch schenkt die Bibel dem Menschen in dieser Vielfalt einen Hafen. Die Heilige Schrift bringt uns im Alten Testament den Gott nahe, der aus seiner erhabenen Transzendenz immer wieder heraustritt, um in seiner Beziehungsfreundlichkeit die Nähe zu Israel und zu allen Menschen zu suchen. Im Neuen Testament vollendet Gott seine Menschenzugewandheit, indem er selber Mensch, Bruder und Freund wird.

So macht der christliche Glaube sowohl für den einzelnen Menschen, als auch für unsere Gesellschaft ein höchst attraktives Angebot:

  • Zum einen erfüllt er in der Beziehung zu Gott das menschliche Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Geborgenheit. In der Beziehung zu Gott lautet das christlichen Motto: „Es ist vollbracht“ (Johannes 19,30).
  • Zum anderen befreit der christliche Glauben zu einer radikalen Weltoffenheit, denn in der Beziehung zur Welt lautet das christliche Motto in Ethik und Erkenntnis: „Ich weiß, dass ich nicht genug weiß“, selbst wenn die reichhaltige 2000-jährige christliche Tradition in manchen Weltfragen eine wichtige Horizonterweiterung ermöglicht. Dieser antiideologische Geist in Weltdingen ermöglicht es den Christen, sich aktiv und positiv in Aufklärung, Liberalismus und Moderne einzubringen.

Der Atheist will die Fahrt auf das weite Meer der Ideologiekritik aus sich selbst heraus schaffen. Der Christ darf bei seiner Fahrt auf dem weiten Meer um seinen Heimathafen und Zielhafen wissen (1. Korinther 13,12). Weltoffene Christen, Atheisten und Andersdenkende sollten sich bei aller Unterschiedlichkeit immer wieder zusammentun in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die Clankriminalität von Ideologie, Selbstüberschätzung, Dummheit und Cancel-Culture. Eines der Foren dazu ist vielleicht Tichys Einblick.

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Kommentare ( 16 )

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16 Comments
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Alexis de Tocqueville
1 Jahr her

Lieber Herr Zorn,
Sie konstruieren da einen Gegensatz, wo keiner ist.
r – m = i
Religion minus Metaphysik gleich Ideologie.
Wenn die Kirche Klimagaga macht, dann legt sie die Axt an ihre Wurzeln, das stimmt. Aber nicht etwa, weil Glaube und Ideologie an sich Gegensätze wären, sondern weil es einfach zwo unterschiedliche Ideologien sind.
Würde sie statt Klima den Islam predigen, so würde sie genauso die Axt anlegen.
(Bonusfrage: Ist der konjunktiv irrealis hier überhaupt noch angemessen?)

amendewirdallesgut
1 Jahr her

Mein Reich ist nicht …..dem Kaiser was des Kaisers , sehr geehrter Herr Zorn im festen Glauben , Vertrauen auf Gott und dem Streben nach dem von Ihnen beschriebenen Ideal , ist es jedoch klug trotzdem sein Kamel anzubinden ( altes arabisches Sprichwort ) , weltliche Regelwerke die das Zusammenleben in Vielfalt organisieren sollten , werden wohl nie ganz ideologiefrei sein ., ist wohl ähnlich dem Böckenförde Paradox zu werten .

Lebensfreude
1 Jahr her

“Es ist erschreckend zu sehen, wie Menschen an ihrem Weltbild festhängen, obwohl die Realität die Ideologie schon lange zerlegt hat.” ??

WandererX
1 Jahr her

Es ist eher Ich- Überschätzung (im Sinne einer Verstandesüberschätzung) als eine wirkliche Selbst- Überschätzung beim Ideologen, denn Ideologen leben ja eher aus einem über WISSEN ausgebauten Verstandes- Über- Ich (das Ich auf Weltgrösse aufgeblasen) heraus und haben natürlich kein wahrhaftiges SELBSTbewusstein, das nicht verstandes-, sondern vernunftbezogen wäre, wenn es denn vorhanden sein würde: sprachliche Genauigkeit ist hier wichtig, Herr Pfarrer, oder? (allerdings hat die deutsche Sprache diese Differenz bis heute nicht so recht ausgeprägt, aber man kann ja jetzt mal anfangen, nicht?)

Alexis de Tocqueville
1 Jahr her
Antworten an  WandererX

Fangen Sie an und erklären den Unterschied zwischen Verstand und Vernunft.
Und bitte, um der Genauigkeit Willen, machen Sie deutlich, dass ihr Verstandes-Über-Ich nicht etwa im freudschen Sinne gemeint ist, wie der Begriff Über-Ich landläufig verstanden wird. Ich schlage den Begriff „voll krasses Ego“ vor.

horrex
1 Jahr her

Sehr schön diese selbstreferentielle/selbstnährende teuflische „Melange“ (=Festung) auseinander gefieselt und … gegenübergestellt. 

Johann P.
1 Jahr her

Ein sehr schönes, verständliches „Wort zum Sonntag“ – so einfach und wirkungsvoll ist christlicher Glauben!

Deutscher
1 Jahr her

Lieber Herr Zorn, wenn Sie sich Ihre Beiträge mal ganz genau anschauen, werden Sie merken, dass auch Sie recht häufig zur „Vereindeutigung der Welt“ neigen.

achijah
1 Jahr her
Antworten an  Deutscher

Als Christ stehe ich für die „Vereindeutigung des Glaubens“ durch Jesus Christus. Das kritisieren Sie aus Ihrer Sicht in vielen Kommentaren an mir. Allerdings geht diese Glaubenshaltung bei mir keineswegs mit einer „Vereindeutigung der Welt“ zusammen. Vielmehr wehre ich mich dagegen; da wünsche ich mir eine klare Differenzierung von Ihnen. Und dann könnten wir uns da treffen: Bei der „Vereindeutigung des Glaubens“ sind wir entgegengesetzter Meinung – und können das jeweils beide begründen – , aber bei der „Vervielfältigung der Welt“ können wir doch an einem Strang ziehen, Sie von Ihrer ehe polytheistischen Sichtweise der Welt, ich von meiner christlichen… Mehr

Sonny
1 Jahr her

Werter Herr Zorn, ich bin beeindruckt.
Solch Klarheit in den Worten, ohne religiöse Verblendung, keine Missionierung mit der Keule – das trifft man selten in Ihrem Berufsstand.
Das „Gemeinsam“ gegen verblendete Ideologie siegt. So sollte es sein.
Vielen Dank.

Last edited 1 Jahr her by Sonny
Reinhard Schroeter
1 Jahr her
Antworten an  Sonny

Selbst wenn eine EKD-Ratsvorsitzende vom Kaliber einer Kurschuss oder die unzähligen Leute, die die miefigen Amtsstuben der evangelischen Kirche bevölkern, einen Text wie diesen lesen würden, nicht einer von ihnen wäre intellektuell in der Lage, ihn zu verstehen.
Genau das ist das Elend !

Trump-Knarrenbauer
1 Jahr her

Vielen Dank für diesen absolut zutreffenden Artikel, der auch vollumfänglich meine Meinung abbildet.
Intellektuelles Wissen, wie immer äußerst geschliffen und eloquent in Textform gegossen. Wenn ich mich nur in Diskussionen auch so wortgewandt ausdrücken könnte, beim Einbringen meiner Meinung … Solche starken Worte (und natürlich auch Wissen) in perfektem Satzbau, würden so manchen Diskussionsteilnehmer früher oder später zum Verstummen bringen – was mir leider nicht immer ausreichend gelingt …

Julie Krefeld
1 Jahr her

Religionen sind auch nur Ideologien. Sie eint, dass das Heil später erreicht wird und niemals im Jetzt