Über politische Verbitterung

In unserer Gesellschaft wird „Verbitterung“ negativ abgewertet. „Wer die wählt, der muss schon arg verbittert sein.“ Doch in dieser Kolumne möchte Achijah Zorn eine Lanze für die wertschätzende Wahrnehmung von Verbitterung brechen. Verbitterung ist ein wichtiges Thermometer für die ungewollte Überschreitung von Grenzen, die den Menschen wichtig sind.

Ich treffe eine freundliche Frau mittleren Alters; ich erlebe sie politisch gar nicht groß interessiert, aber feinfühlig und zugewandt. Umso mehr überrascht es mich, dass sie mir im Gespräch anvertraut, dass sie in den letzten Jahren tief innen eine Verbitterung spüre. Es hätte in den letzten Jahren politische Veränderungen gegeben, die Wut, Trauer, Empörung und Fassungslosigkeit in ihr hervorgerufen hätten. Hinzu komme eine Hilflosigkeit und Resignation, weil sie sich dem Ganzen ohnmächtig ausgeliefert fühle. Wenn sie allerdings mal Andeutungen über ihre innere Einstellung mache, dann werde sie falsch verstanden, politisch abgestempelt und ungerecht behandelt. Manchmal fühle sie sich zu ihren politischen Gegnern hingezogen, die die gegenwärtige missliche Lage verursacht haben und diese immer noch in höchsten Tönen preisen.

Sie möchte ihnen all das sagen, was sie in den letzten Jahren verletzt hat; sie möchte sie gerne mit ihren Untaten konfrontieren; sie möchte sie anklagen, um endlich recht zu bekommen. Oder sie freue sich, wenn andere offener und mutiger als sie selbst die Konfrontation suchen. Aber fast immer käme es bei solchen Begegnungen zu erneuten Verletzungen. Es gäbe ein eklatantes Machtgefälle, das rücksichtslos gegen die Minderheit ausgelebt werde. Die Frau sagte mir offen heraus, dass sie unter einer „politischen Verbitterungsstörung“ leide. Zu einigen Menschen fühle sie sich dadurch so distanziert, dass man es fast schon als Tendenz zum sozialen Rückzug oder sogar Kontaktabbruch bezeichnen könne. Ein echter Dialog sei nicht möglich. Es sei wie in einer schlechten Beziehung, wo in Kernfragen eine Sprachunfähigkeit regiert, während man oberflächlich noch einigermaßen funktioniert.

Mich hat das Gespräch tief beeindruckt. Hier nimmt jemand seine Gefühle wahr und ernst, steht zu ihnen und kann sie erstaunlich gut mit Worten auf den Punkt bringen. Unangenehme Gefühle wie Wut, Hilflosigkeit und Verbitterung stehen gesellschaftlich nicht hoch im Kurs. Doch die Frau steht zu ihnen, benennt sie und akzeptiert sie. Dadurch beginnt sich ihre Gefühlslage zu sortieren und zu ordnen, wird für sie selbst verstehbarer und begreifbarer. Die gravierenden Veränderungen, die unser Land in den letzten Jahren durchgemacht hat und die sich weiter mit zunehmender Dynamik entfalten, können wirklich Angst machen und die innere Gefühlslage von Oppositionellen durcheinanderwirbeln. Wer das in Worte fassen und darüber mit anderen sprechen kann, der hat bereits angefangen, sich zu befreien, auch wenn es vielleicht auf den ersten Blick nicht so aussieht.

Die neuen Medien sind in dieser Hinsicht ein großartiges Geschenk, weil hier zumindest im überpersönlichen Bereich der Kritik und der Verbitterung Sprachraum und Diskussionsraum gegeben wird. Die Hilflosigkeit und Ohnmacht ist da bereits aufgebrochen, wo man in die Selbstwirksamkeit zurückkommt, indem man Dinge lesen und aussprechen und sortieren kann, weil andere Mitleidende helfen, die eigenen Gedanken und Gefühle in Sprache zu fassen. Eine Verbitterung, die ich mir erlaube, für die ich Ausdrucksmöglichkeiten finde, der ich mich gegenüberstellen kann, die ich begründen kann, die ich in ihrer Verzweigtheit verstehen lerne, diese Verbitterung ist bereits eine aufgebrochene Verbitterung.

„Eindruck braucht Ausdruck“, das ist ein wichtiges Leitmotiv in der Psychologie im Umgang mit Gefühlen. Verbitterung gründet auf starken Eindrücken, Kränkungen, Grenzüberschreitungen und Verletzungen. Hier lohnt es sich weiterzudenken, welche entlastenden Ausdrucksmöglichkeiten für Verbitterung infrage kommen. Da wird es individuell. Sprechen und Verschriftlichen, Treffen mit Gleichgesinnten, Supervision und Beratung, Bewegung und Sport, Handwerkliche Tätigkeiten zum Abreagieren, sich ausgleichende Oasen und Krafträume suchen, Meditation und Gebet, um die eigene Verzweiflung vor Gott auszusprechen und um widerkehrende Grübeleien und Skripte zu unterbrechen. Der Glaube an den Gott, der in Jesus Christus auch Grenzüberschreitungen, Verspottung, Ohnmachtsgefühle und Leid durchgemacht und ertragen hat, kann fruchtbare Impulse für Widerstand und Ergebung in der eigenen Situation schenken.

Bei der Thüringer Kommunalwahl haben 45 Prozent nicht mehr die etablierten alten Parteien gewählt; möglicherweise ein Trost für diese Frau und andere Mitverbitterte. Sie ist nicht alleine mit ihrem Frust und ihrer Verbitterung. Immer mehr Menschen stehen zu ihrer Unzufriedenheit und suchen Wege, für ihre tiefen Eindrücke neue Ausdrücke zu finden bis in die Wahlkabine hinein.

In unserer Gesellschaft wird „Verbitterung“ negativ abgewertet. „Wer die wählt, der muss schon arg verbittert sein.“ Doch in dieser Kolumne möchte ich eine Lanze für die wertschätzende Wahrnehmung von Verbitterung brechen. Verbitterung ist ein wichtiges Fieberthermometer für die ungewollte Überschreitung von Grenzen, die uns wichtig sind. Wohl dem, der nicht von seiner Verbitterung unbewusst geritten wird, sondern der sich seine Verbitterung erlaubt, sie annimmt und Ausdrucksmöglichkeiten für sie findet.

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Kommentare ( 9 )

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9 Comments
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Andreas Meier
1 Monat her

Der erste Teil ist genau mein Erleben. Meine Gemeinde hatte in der C19 Zeit den Schwerpunkt „online“, und das was ich als Christi Berufung der Gemeinschaft verstand, existierte nicht mehr. Ich saß allein mit meiner Bibel am Schreibtisch. Mein Flehen zu Gott war entsprechend Elia „ich bin allein übrig geblieben, und sie trachten nach meinem Leben.“ (1Kö19, Röm11.4) Der HERR antwortete mir „Ich habe mir übrig gelassen siebentausend Mann, die ihre Knie nicht gebeugt haben vor Baal.“ Dementsprechend konnte ich nicht aufgeben, wenn es tausende gibt, dann muß ich sie finden. Der Mensch ist nicht zur Einsamkeit geschaffen. Die ersten… Mehr

giesemann
1 Monat her

Viel zu wenige sind „verbittert“. Brauchen noch mehr bittere Pillen – warum sollen wir es ihnen nicht geben? So lange, bis sie lachen.

Sonny
1 Monat her

„Bei der Thüringer Kommunalwahl haben 45 Prozent nicht mehr die etablierten alten Parteien gewählt; möglicherweise ein Trost für diese Frau und andere Mitverbitterte.“ Die tatsächlichen Auswirkungen von Wahlen stehen denen der in großer Zahl vorkommenden Wahlfälschungen gegenüber. Das hat hier nicht mal gerichtliche Konsequenzen (siehe u.a. Berlin). M.E. wird die Verbitterung und ein Gefühl der Hilflosigkeit dadurch nur noch größer. Die Verbitterung und diese negativen Gefühle müssen vielmehr dazu führen, kämpfen zu wollen. Kämpfen gegen all dieses grünrotschwarzgelbe Unkraut, was uns unser Leben zur Zeit zur Hölle macht. Die Thüringer Wahlergebnisse sind nur ein kleiner Anfang und der wird zeigen,… Mehr

Last edited 1 Monat her by Sonny
November Man
1 Monat her

Viele der deutschen Wähler werden in ihrer Verbitterung, Unzufriedenheit und Wut gegen die Politik der Altparteien schon an der richtigen Stelle machen. Es wird nur nicht viel nützen, weil den Altparteien das Ergebnis schon bekannt ist.
„Ich halte es für völlig unwichtig, wer abstimmt und für wen. Äußerst wichtig hingegen ist, wer die Stimmen auszählt – und wie.“
Josef Stalin  

William Munny
1 Monat her
Antworten an  November Man

Sehe ich auch so. Das Verfahren gg. Trump ist eine Farce. Wenn das stimmt, was ich hier so gelesen habe, bzgl. dessen, ist es wirklich besorgniserregend dass es weltweit keine vernunftsgetragene Regierung mehr gibt.

joerg hensel
1 Monat her

Posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED) ist eine hochspezifische Erkrankung infolge von schweren Mobbing und mit Belastungen nach Kriegserlebnissen vergleichbar. https://www.springermedizin.de/ueber-den-zusammenhang-zwischen-mobbing-arbeitsplatzkonflikten-u/9054154

Last edited 1 Monat her by joerg hensel
jkelsh
1 Monat her

Ein schöner Artikel der mir aus dem Herzen spricht. Ich weiss nicht, ob es bei mir Verbitterung ist, aber irgendetwas ist es. Ich finde es mittlerweile unerträglich bei einer Meinungsäußerung „abgekanzelt“ zu werden. Es ist meine Meinung. Und es ist ebenfalls unglaublich arrogant, wenn ein Gegenüber meine Meinung abwertet, als falsch hinstellt usw. Ob man in der Wahlkabine eine Veränderung hervorrufen kann, daran glaube ich nicht mehr. Bei sämtlichen Altparteien ist doch eine breite Orientierungslosigkeit eingetreten. Heute stehe ich für das und morgen schon wieder für etwas anderes. Gerade was angesagt ist. Nur der, der am lautesten schreit, der hat… Mehr

Last edited 1 Monat her by jkelsh
Waldschrat
1 Monat her

Das was Sie, Herr Zorn, zur Verbitterung dieser Frau geschildert haben, genau so geht es sehr vielen Menschen in Deutschland, vor allem im Osten und genau das umreißt auch meine Gefühlslage. Ich könnte jedes Wort, jede Gefühlsregung dieser Frau unterstreichen. Die Verbitterung sitzt mitunter so tief, dass ich das hier in den Kommentaren zum Ausdruck bringe, die dann mitunter nicht veröffentlicht werden, weil man vielleicht die Nettiquette vergisst, vielleicht auch, weil man damit dem Verfassungsschutz Futter gibt. Das ist dann eben so. Das muss aber raus, man fühlt sich danach besser, auch wenn man nicht viel ändern kann, nicht mal… Mehr

verblichene Rose
1 Monat her

Sehr geehrter Herr Zorn.
Gibt es eigentlich Bezeichnungen für die, die Jesus verraten haben?
Also ich meine solche, die hier vielleicht „anzüglich“ wären?
Und reichen diese Bezeichnungen eigentlich über den altbekannten „Pharisäer“ hinaus?
Ich darf Ihnen daher sagen, dass meine Tränen der letzten vierzig Jahre meiner Berufstätigkeit ausgereicht hätten, einen kleinen See derer zu füllen, die in meiner Nähe gänzlich übersehen haben, dass es noch „Andere“ gibt.
Vielleicht, nein ganz bestimmt, waren das aber die Tränen, die Jesus nicht mehr weinen kann.
In diesem Sinne Ihnen ein gesegneten Sonntag.