„Der Begriff Migrationshintergrund ist nicht mehr zeitgemäß“

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung will einen Begriff "ablösen". Anlass ist der Bericht einer "Fachkommission Integrationsfähigkeit", die nebenbei der Regierung sagt, was Medien vermeiden "müssen". Regierende und ihre Ratgeber scheinen keine Grenzen ihrer Zuständigkeit mehr zu kennen.

imago images / Metodi Popow
Staatsministerin Annette Widmann-Mauz, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration

Annette Widmann-Mauz, Staatsministerin und Integrationsbeauftragte der Bundesregierung verkündet twitter-öffentlich: „Der Begriff Migrationshintergrund ist nicht mehr zeitgemäß & bildet die Vielfalt der Gesellschaft nicht mehr ab“.

Nun haben wir also eine Regierung, die sich für befugt hält, amtliche Urteile über die Verwendung von Wörtern abzugeben. Und die behauptet – so heißt es in dem Tweet weiter: „Wir brauchen eine Diskussion, wie wir ihn ablösen, aber auch künftig Entwicklungen & Herausforderungen bei der #Integration messbar machen können.“ Es geht also nicht darum, dass Frau Widmann-Mauz persönlich diesen Begriff nicht mag. „Wir“ sollen ihn „ablösen“. Und diskutieren sollen „wir“ wohlgemerkt nicht darüber, ob das richtig ist, sondern nur „wie“, also wohl eher, welches neue, regierungsamtlich für angemessen befundene Wort stattdessen gebraucht werden darf. 

— Integrationsbeauftragte (@IntegrationBund) January 20, 2021

In diesen wenigen Sätzen und auch in dem Bericht „Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft gestalten“, den die „Fachkommission Integrationsfähigkeit“ am Mittwoch an Widmann-Mauz und die Kanzlerin überreichte und sie damit zu dem genannten Tweet inspirierte, stecken gleich mehrere übereinander liegende Zumutungen. 

Die erste und grundlegende ist schon genannt: Die Bundesregierung beansprucht offenbar auch eine Art Hoheit über den Sprachgebrauch. Derlei kennt man eigentlich nur aus autoritären, ja totalitären Systemen. Das „Neusprech“ aus Orwells „1984“ lässt grüßen. 

Der Widmann-Mauz-Tweet ist aber auch über den speziellen Fall hinausgehend ein Beispiel für eine kommunikative Zumutung, mit der gerade Widmanns Chefin, die Bundeskanzlerin, ihre Zuhörer dauernd traktiert: die Verwendung des Merkel’schen „wir“. Wer damit gemeint ist, bleibt meist undeutlich: manchmal nur die Regierenden (wenn „wir“ etwas geleistet haben), manchmal aber auch alle (wenn „wir“ etwas „brauchen“ zum Beispiel). 

Brisanter ist die von Widmann-Mauz aus dem Bericht übernommene Aufgabenstellung, „künftig Entwicklungen & Herausforderungen bei der #Integration messbar“ zu machen, ohne den Begriff, aber auch ohne die statistische Kategorie des „Migrationshintergrunds“. So heißt es in dem Bericht, diese sei „nicht geeignet, um Marginalisierung und Diskriminierung adäquat zu erfassen… Denn bei Diskriminierungserfahrungen spielen Aspekte wie die Hautfarbe und andere sichtbare Merkmale eine wichtige Rolle, und weiße Menschen mit Migrationshintergrund sind davon nicht im gleichen Maß betroffen wie nicht weiße, da sie nicht als fremd wahrgenommen werden. Zugleich leben in Deutschland immer mehr Menschen, die nach der Definition des Statistischen Bundesamts keinen Migrationshintergrund mehr haben (oder noch nie einen hatten, wie deutsche Sinti) und die dennoch als nicht weiß und „nicht deutsch“ wahrgenommen werden und deshalb Diskriminierung erfahren.“

Und darum solle es nicht nur eine Diskussion geben, „wie die mangelnde Gleichstellung migrantischer und/oder von Rassismus betroffener Gruppen wie auch Diskriminierung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit und der Religion in Deutschland adäquat erfasst werden kann“, sondern auch ein dazu gehöriges „Monitoring“.  

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Offenbar soll also nach dem Wunsch der Fachkommission künftig jeder in diesem Land lebende Mensch nach solchen Zugehörigkeiten kategorisiert werden, denn: „nur dann können geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um strukturelle Teilhabebarrieren abzubauen“. Es gäbe dann also nicht mehr nur Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund, sondern eine Gesellschaft voller Menschen mit lauter verschiedenen „Hintergründen“ – und irgendwann für jeden davon eine regierungsamtlich festgelegte „Teilhabe“ (ein Lieblingsbegriff der Fachkommission). Der Weg in die ganz und gar quotierte Gesellschaft wäre dann vorgezeichnet. 

Ebenso bemerkenswert sind die umfangreichen Ausführungen des Berichts über „Migration und Integration und die Medien“. Der Bericht wendet sich ausdrücklich an die Bundesregierung, aber darin finden sich auch Sätze, die man nur als Anweisungen an Journalisten lesen kann: „Die Medienhäuser sind gefordert, ihre Bemühungen um einen sensiblen Umgang mit Bildern und Begriffen im Rahmen der publizistischen Selbstkontrolle zu verstärken“ und: „Die Medien müssen (sic!) in ihrer Berichterstattung stereotype und pauschale Zuschreibungen vermeiden.“ 

Vermuten die Autoren also, dass sich Medienschaffende stets mit angesprochen fühlen, wenn von den Aufgaben der Bundesregierung die Rede ist? Oder gehen sie davon aus, dass in Deutschland die Regierenden nicht nur statistische Kategorien und Teilhabe-Quoten festlegen können, sondern auch das, was die Medien tun „müssen“?

Offensichtlich hat nicht nur die Bundesbeauftragte Widmann-Mauz als Teil der Bundesregierung, sondern auch die von der Regierung eingesetzte Fachkommission das Bewusstsein der eigenen Zuständigkeit großzügig ausgeweitet.

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