„Tech-Souveränität“: Von der Leyens neuster Sargnagel der Marktwirtschaft

Mit einem viele Milliarden Euro schweren Subventionspaket will die EU-Kommission eine europäische Chip-Industrie aus dem Boden stampfen. Es ist ein neuer Höhepunkt des Interventionismus, der die Marktwirtschaft zugunsten einer ominösen Souveränität abschafft.

IMAGO / ZUMA Wire
Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission am 8.2.2022 in Brüssel

Der „Chips Act“ sei „ein Plan“, um Europa zu einem Führer auf dem Chips-Markt zu machen, twitterte Ursula von der Leyen. Die Wortwahl der Präsidentin der Europäischen Kommission macht schon unmissverständlich klar, dass dieses neue Großvorhaben der EU kein marktwirtschaftliches Projekt ist. Nicht Unternehmen, sondern „Europa“ betrachtet sie als entscheidenden Akteur auf diesem Markt. Und Zahlen von Marktanteilen als Ziel vorzugeben, wie sie es dann im nächsten Satz des Tweets tut, ist genau das, was Ludwig Erhard und andere überzeugte marktwirtschaftlich orientierte Politiker stets ablehnten. Von der Leyen – eine studierte Medizinerin – meint, das „klare Ziel“ vorgeben zu können, dass in acht Jahren 20 Prozent der Microchips auf der Welt in Europa produziert worden sein sollen. 

— Ursula von der Leyen (@vonderleyen) February 8, 2022

Mehr als 43 Milliarden Euro öffentliche Investitionen soll der Chips Act umfassen. „Öffentliche Investitionen“ sind eine euphemistische Umschreibung für das ungefragt verwendete Geld der Steuerzahler beziehungsweise Schuldner des Staates.

Dieser Chips Act, dessen zentrale Inhalte schon seit einigen Tagen bekannt waren und nun am Dienstag offiziell in Brüssel vorgestellt wurden, ist ein weiterer Schritt zur Abschaffung der Marktwirtschaft und ihrer Verdrängung durch eine staatliche und europäische Subventionswirtschaft. Dazu packen von der Leyen und die Brüsseler Subventionisten nochmal alle Rezepte aus, die Subventionspolitiker seit Jahrzehnten im Gepäck haben. Zentral ist ihre Ankündigung: „We will bridge the gap between the laboratory and the actual manufacturing in Europe.“

Der entscheidende unternehmerische Schritt von Forschung und Entwicklung zur Produktion – der Schritt also, der in einer Marktwirtschaft das größte unternehmerische Risiko birgt –, wird durch die EU-Steuerzahler abgesichert. Sie tragen statt der Eigner das unternehmerische Risiko und sorgen nach dem Willen der Kommission dafür, dass das forschende Unternehmen sich nicht die Füße nass macht. Durch diese Brücke ist ein Grundprinzip der Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt. Aus dem Wagniseinkommen des Unternehmens wird ein gesichertes. Der Steuerzahler zahlt es ihm schließlich unabhängig davon, ob das Produkt sich am Markt rentiert oder nicht.

Natürlich scheint das Ziel ein hehres und vernünftiges zu sein: verhindern, dass Europa von anderen Regionen wie Asien oder Amerika abgehängt wird auf einem ganz zentralen Feld, nämlich der Produktion der Grundbestandteile aller elektronischen Produkte. Chips stehen, da hat von der Leyen recht, „im Zentrum des technologischen Rennens“ und sind „der Grundstein moderner Wirtschaft“. Und die Pandemie hat die Verletzlichkeit der Lieferketten für diese Chips belegt. 

Aber ist das ein Argument dafür, die Versorgung der Wirtschaft mit diesen ihren Grundsteinen nun ausgerechnet in die Hand des Staates, gar des Über-Staates Europäische Union zu legen? Die historischen Erfahrungen, etwa unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, legen nicht nahe, dass der Staat besonders fähig ist, die Versorgung mit knappen Gütern effizient sicherzustellen. Nicht staatliche Planung und Subventionierung, sondern unternehmerische Freiheit unter den Bedingungen eines wettbewerblichen Ordnungsrahmens hat diese Fähigkeit dann aber bewiesen. Das ist die Lehre aus der deutschen und europäischen Wirtschaftsgeschichte nach 1948. 

„Wir konnten nicht liefern, wie es notwendig gewesen wäre, wegen des Mangels an Chips“, sagt von der Leyen. Warum „wir“? Die Sprache von der Leyens offenbart schon, dass sie die Unterscheidung zwischen Staat (beziehungsweise EU) und Wirtschaftsunternehmen nicht mehr wahrnimmt und offenbar den Staat für zumindest mitzuständig hält. Ein Motto-Spruch von der Leyens zum Chips Act lautet: „Paving the way to Europe’s tech sovereignty“. Von der „Tech-Souveränität“ hatte sie schon in der Rede zur Lage der Union im vergangenen Jahr gesprochen. Der staatsrechtliche Begriff der Souveränität, also der politischen Letztentscheidungsbefugnis, wird mit industrieller Technik verknüpft.

Brüssel als Tech-Souverän? Das widerspricht jedem bisherigen Verständnis einer wettbewerblichen Ordnungspolitik. Dass aus dem deutschen Wirtschaftsministerium, in dem vor über siebzig Jahren die Grundlagen einer marktwirtschaftlichen Ordnung gelegt wurden, keine Kritik, sondern nur begeisterte Zustimmung kommt, überrascht nicht mehr. Staatssekretärin Franziska Brantner wiederholt beflissen die Formel, dass „wir in diesem strategisch wichtigen Industriezweig stärker und souveräner werden“. Auch hier fragt man sich, wer dieses souveränere „Wir“ eigentlich ist.

Kritik kam nur von einigen Ökonomen. So sprach Henning Vöpel vom Centrum für Europäische Politik von einem „Paradigmenwechsel“ (von der Leyen selbst spricht von einem „Gamechanger“) und einem „gefährlichen industriepolitischen Weg“. Stefan Kooths, Co-Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) hält den Chips Act für „ökonomisch hochproblematisch“. Bürokraten könnten das Marktpotenzial einzelner Industrien schlechter beurteilen als die Unternehmen.

Zur erwünschten Tech-Souveränität der Kommission gehört aber vermutlich auch der Glaube, genau diese Beurteilung politisch beherrschen zu können. Jedenfalls wird die EU ihre Regeln für staatliche Hilfen, die bislang durch ein strenges, noch ordoliberal geprägtes Ordnungsrecht geprägt sind, lockern. Zum ersten Mal, so verkündet von der Leyen, wird die EU Subventionen für europäische „first of a kind production facilities“ ermöglichen, also Produktionsstätten für gänzlich neue (und damit besonders risikoträchtige) Produkte. Denn weil sie die ersten ihrer Art sind, so von der Leyens seltsame Behauptung, nutzen sie ganz Europa. Es sollen unter bestimmten Voraussetzungen sogar 100-Prozent-Finanzierungen durch EU-Geld möglich sein.

Einen weiteren Eindruck von der neuen Vorgabe einer europäischen Tech-Souveränität gibt auch der Vorschlag der Kommission, dass subventionierte Chipproduzenten künftig dazu gezwungen sein könnten, europäische Kunden zuerst zu beliefern, um Versorgungskrisen zu verhindern. Das ist durchaus konsequent: Unternehmen, die vom Staat finanziert werden, sind eben keine unabhängigen Marktakteure mehr.

Screenprint via Twitter / Europäische Kommission

Von der Leyen betont erst gegen Ende ihres Auftritts, dass der „Schlüssel zu unserem Erfolg bei unseren Erfindern und unseren Weltklasse-Forschern liege, Leuten, die unseren Kontinent in Jahrzehnten wohlhabend machten“. Damit hat sie zweifellos recht. Allerdings sind diejenigen, die schon jetzt wissen, wie Chips entwickelt und hergestellt werden, kaum noch in Europa zu finden. Sie leben und arbeiten in einigen wenigen Ländern, vor allem in Ostasien, aber zum Beispiel auch in Israel. Und an dortigen Schulen und Universitäten wachsen wohl auch die jungen Menschen heran, die die kommende Chip-Generation entwickeln und produzieren werden.

Industrien, die nur mit staatlicher Hilfe existieren können, zerfallen nach aller Erfahrung meist wieder, wenn die Hilfe ausbleibt. Die entscheidenden Bedingungen für die globale Verteilung der mikroelektronischen Industrie sind nicht in den Brüsseler oder anderen Umverteilungsbürokratien zu suchen, sondern durch die demographischen Voraussetzungen und Bildungsbedingungen vorgegeben, also durch die Leistungsfähigkeit junger Menschen in den MINT-Fächern. Da liegen die EU-Staaten weit hinter Ländern wie Korea, Taiwan, Japan und China zurück. Und es gibt wenig Anlass zur Hoffnung, dass sich das mittelfristig ändert.

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