Ein neues Merkelwort ist geboren: Kanzlerin tadelt „Öffnungsdiskussionsorgien“

Merkel fürchtet den Corona-Rückfall sagt sie. Vermutlich fürchtet sie mindestens ebenso, dass ihr die Kontrolle über die zentrale Deutungshoheit streitig gemacht wird. Das legt zumindest ihre Wortwahl nahe. 

imago images / photothek

Bundeskanzlerin Angela Merkel soll Medienberichten zufolge in einer Schaltkonferenz des CDU-Präsidiums lautstark klargemacht haben, wie unzufrieden sie sei, dass die Botschaft vorsichtiger Lockerungen in einigen Ländern zu „Öffnungsdiskussionsorgien“ geführt habe. 

In ihrem jüngsten Presseauftritt im Kanzleramt kurz darauf wurde sie auf die Wortneuschöpfung angesprochen. Sie hat sie nicht wiederholt und nicht direkt kommentiert, aber auch nicht dementiert. Also ist das Wort wohl so gefallen.

Sie sagte in die Kameras, „wir“ (ausnahmsweise definierte sie auch dieses wir als „jede Bürgerin und jeder Bürger“) dürften „keine Sekunde leichtsinnig werden, keine Sekunde uns in Sicherheit wiegen“. Da habe sie sich in der Präsidiumssitzung „mahnend eingelassen“. 

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Das Wort hat das Zeug dazu, in die Geschichte des Merkelschen Sprechens einzugehen. Zusammen mit „alternativlos“ und „wir schaffen das“. Das Wort mag ihr, der Meisterin der holprigen Rede, so durchgerutscht sein. Aber die Kombination von „Diskussion“, einem zentralen Begriff und Wert in der offenen Gesellschaft, mit der laut Wikipedia „Bezeichnung für gemeinschaftliche Handlungen gebraucht, mit denen bewusst gegen die Sitten verstoßen wird“, ist schon bezeichnend. Man könnte auch meinen: verräterisch. Die Kanzlerin hält Diskussion also offenbar zumindest potentiell für eine unanständige Ausschweifung. 

Wäre dieser Neologismus nicht aus dem Mund dieser Bundeskanzlerin, sondern etwa eines AfD-Politikers oder Donald Trumps oder Viktor Orbáns gekommen, könnte man wohl davon ausgehen, dass dies als empörende „Entgleisung“ oder gar als Offenbarung undemokratischer, autoritärer Haltung kritisiert würde. So etwas hat Merkel von der deutschen Gegenwartspublizistik kaum zu befürchten.

Die Welt berichtete außerdem noch, Merkel finde, „die Diskussion über Lockerungen sei nicht hilfreich“. Nicht hilfreich. Auch wenn das kein direktes Zitat gewesen sein mag, so erinnert es doch an einen vergangenen Fall, als Merkel schon einmal  klarstellte, dass sie keine Kontroverse wünsche: Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ hatte sie seinerzeit 2010 „nicht hilfreich“ genannt, obwohl sie selbst zugeben musste, dass sie es gar nicht gelesen habe. 

Auch diesmal kann man wohl davon ausgehen, dass ihr die genauen Sachverhalte, um die es in jenen „Diskussionsorgien“ in den CDU-geführten Landesregierungen und vor allem im wirtschaftsnahen Flügel ihrer Partei ging, womöglich weniger wichtig sind als die Tatsache, dass da überhaupt allzu viel diskutiert wird, ohne sie vorher zu fragen, was dabei herauskommen soll. 

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Merkel dosiert ihre Kommunikationsenergie sehr sparsam und ökonomisch. Wenn man von ihr lange nichts hört, kann man davon ausgehen, dass sie sicher im Sattel sitzt und sachpolitische Ergebnisse ihr wurscht sind, weil sie ihre Position nicht gefährden. Machtworte wie gegen diese „Diskussionsorgien“ – oder zuletzt die „unverzeihliche“ Ministerpräsidentenwahl in Erfurt – haben immer einen ähnlichen Zweck wie das Knurren des Alphatiers im Rudel an der erlegten Beute: Wagt es nicht, mir in die Quere zu kommen, ich fresse zuerst.

Nun wissen also alle in der CDU mal wieder, wer die Chefin ist. Armin Laschet zum Beispiel, der versucht, sich vorsichtig als Lockerungspolitiker zu positionieren. Diese Kanzlerin jedenfalls offenbart uns in dieser Krise, dass sie ganz und gar nicht vorhat, sehr bald von der Macht zu lassen. Nachdem sie 2015ff der Welt „ein freundliche Gesicht“ zeigte, will sie nun den Deutschen zeigen, dass sie, „weiter die Kraft zu harten und strengen Maßnahmen“ aufbringt. 

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Kommentare ( 237 )

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237 Comments
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blackhero68
3 Jahre her

Einfach ihren inhaltsleeren Stuss ignorieren. Einkaufen mit Lappen im Gesicht – dann bestell ich bei Amazon und deren Brüdern. Mit Lappen ins Restaurant – nö, dann nicht. Menschen nicht treffen, weil es die Staatsratsvorsitzende will – interessiert mich nicht mehr etc.etc. Bis die alte Hexe im Kreis rotiert und von der Wirtschaft entsorgt wird. Angemessene Maßnahmen, transparent und nachvollziehbar – ja – Orwell – nein!

moorwald
3 Jahre her

In diesem Forum geben sich so viele unendliche Mühe, dem „Phänomen Merkel“ auf den Grund zu gehen. Manche machen einfach ihrem Zorn Luft, was nur allzu verständlich ist. Aber wir drehen uns natürlich im Kreise, und irgendwann ist alles gesagt.- Aber der Fall Merkel stellt kein Erkenntnisproblem, sondern ein Handlungsproblem dar. Was wir hier an Zutreffendem beitragen, gehört ganz bestimmt auch zum Wissen derer, die Merkel an der Macht halten. Damit meine ich nicht die Wählermassen, sondern diejenigen in der eigenen Partei, die, falls sie sich überhaupt noch einen Rest an Vernunft und politischem Ethos bewahrt hätten, dieser Person die… Mehr

drnikon
3 Jahre her

So sprach unsere DDR-Preußin. Ihre Regierung ist gottgleich. Der Pöbel, dieser Lümmel, hat sich gefälligst so zu verhalten wie es ihr, die Vorsitzende einer göttlichen Regierung, gefällt. Sie, und nur sie, weiß in ihrer unendlichen Weisheit, wer, wann, was und wo richtig ist. Und nur sie hat dann die, von Gott auf Lebenszeit verliehene, Macht, das rückgängig zu machen, was ihrem großen Plan zuwiderläuft. Sie lebe hoch. Sie lebe hoch. Sie lebe hoch.

Ulrich
3 Jahre her

„Öffnungsdiskussionsorgien“ – Das ist der in ein Schachtelwort gepackter Ausspruch des preußischen Innenministers Gustav von Rochow: „Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.“ und zeigt letztendlich, was Frau Merkel von Demokratie hält. Nichts!

Niederbayerin
3 Jahre her

Wahrscheinlich wurde Merkel durch ihr Nuscheln nur falsch verstanden. 😉
Sie sagte nicht „Öffnungsdiskussionsorgien“ sondern
sie sagte: „wir werden für Öffnungs-Diskussionen sorgen“
(Ironie off)

schaefw
3 Jahre her

Ich erlaube mir, das Thema mal von einer völlig anderen Warte aus anzuschauen. Merkel hat nie vorgehabt, 2021 abzutreten. Sie ist an diesem Land nicht interessiert. Sie hat nur ein einziges Ziel: ihren eigenen Machterhalt. Und sie besitzt die außerordentliche Fähigkeit, genau den richtigen Zeitpunkt zu „riechen“, einen Widersacher in die Pfanne zu hauen. Das war schon so, als sie Kohl erledigt hat, bei Guttenberg und seiner Doktorarbeit, bei vdL und der verlorenen Europawahl, bei AKK durch ihre Intervention aus Südafrika. Im Moment bleiben vier Personen, die ihr potentiell gefährlich werden könnten: Laschet, Spahn, Merz, Söder. Röttgen ist schon weg,… Mehr

Fragen hilft
3 Jahre her
Antworten an  schaefw

Wenn der Zeitpunkt da ist, wird sie sich mit Söder anlegen. Dann macht es pfft und fertig.

Niederbayerin
3 Jahre her
Antworten an  schaefw

Merkel war ja im September 2019 in China (Wuhan) auf Besuch. Vielleicht hat sie sich dort Anregungen geholt, wie man potentielle Kanzler-Kandidatur-Konkurrenten ausmanövriert…?

Casta Diva
3 Jahre her
Antworten an  schaefw

Sie ist an unserem Land nicht interessiert! Und sie hatte nie vor, abzutreten! Genau so habe ich mich positioniert, als sie ankündigte, für eine weitere Legislaturperiode nicht zur Verfügung zu stehen. Wenn ich diese Frau sehe oder höre, meldet sich mein Konfirmationskaffee …

Hans Brasselfingen
3 Jahre her

Die verbreitete Vorstellung von „Lockerung“ von irgendwas oder „Rückkehr zu“ irgendwas finde ich unglaublich naiv. Also mal ganz unter uns, liebe Landsleute: ausgesetzte Grundrechte sind KEINE mehr. Eingeschränkte Freiheit ist verschwundene Freiheit. Aus. Natürlich weiß die Dame, daß sie am Ziel ist und grinst sich einen. Mir ist kein historisches Beispiel bekannt, daß einkassierte Bürgerrechte einfach mal so zurückkommen. So wie die Sektsteuer von Anno Pief auch nie von selber verschwand, so wird unsere geraubte Freiheit auch nie mehr einfach so zurückkommen. Das ist der Unterschied zwischen einer echten „Constitution“ und einem gnädig gewährten „Grundgesetz“. Wir alle hier wissen, wie… Mehr

Andreas aus E.
3 Jahre her
Antworten an  Hans Brasselfingen

Bezeichnend auch der Sprachgebrauch: Merkel gewährt…, Söder erlaubt…, Laschet gestattet… usw., zigfach in MSM so vernommen – das ist Untertanensprech in Reinkultur.

Dabei ist es genau umgekehrt: Das deutsche Volk als Souverän erträgt in einer Ausnahmelage für beschränkten Zeitraum, daß ihre leitenden Angestellten mal etwas freihändiger werkeln dürfen als üblich.

Aber derlei geht nicht ins Hirn öffentlich-rechtlicher, regimetreu abgerichteter Qualitätsjournaille.

Uffz. Steiner
3 Jahre her
Antworten an  Andreas aus E.

Sie meine bestimmt,.. Freihändiger merkeln dürfen. 😉

Del. Delos
3 Jahre her
Antworten an  Andreas aus E.

Leider geht es aber auch nicht in’s Hirn der Untertanen.

Niederbayerin
3 Jahre her
Antworten an  Hans Brasselfingen

Die deutsche und auch die österreichische Regierung reden ja schon von einer „neuen Normalität“. Da fragt man sich doch, warum die „alte“ Normalität nicht wiederkommen kann?
Diese „neue Normalität“ ist genau diejenige, die Sie beschrieben haben.
Und B. Franklin hatte Recht, als er sagte: Wer Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren.
Und dann kommt der Bürgerkrieg in einem Land, in dem wir nicht mehr gut und gerne leben. Auf welcher Seite werden dann die Millionen neu Eingereister stehen?

Old-Man
3 Jahre her

Haben sie etwas anderes von Frau Merkel erwartet Herr Knauss?,Ich nicht!!. Diese Frau war ist und bleibt immer das,was seit ihrem unsäglichem: nun sind sie halt da war, eine verkappte Autokratin. Nur ist niemand mehr in der CDU vorhanden,der ihr ein unrühmliches Ende bereiten könnte,denn alle die,die ihr gefährlich werden konnten hat sie gnadenlos abgeräumt!. Zu der Wortschöpfung,die ihr nun noch nicht einmal Presse medial auf die Füsse fällt,ebenso zu den anderen Äußerungen möchte Ich nur anmerken,das Ich diese Frau des öfteren schon als rhetorische Wüste bezeichnet habe,aber die Dame ist sogar noch steigerungsfähig!!. Ebenso scheint die Frau,die in einer… Mehr

Wolf Koebele
3 Jahre her
Antworten an  Old-Man

Aber man kann doch nicht sagen, daß unsere wichtigen (Selbsteinschätzung) Journalisten samt und sonders „in einer sozialistischen Diktatur sozialisiert“ worden seien. Für Merkel wäre das noch plausibel. Aber für die ÖR- und MSM-Schranzen? Und die ** in den Parteien?

Old-Man
3 Jahre her
Antworten an  Wolf Koebele

Linke,grüne,rote-sozialistische Denkweise ist nicht spezifisch auf eine sozialistische Diktatur fixiert,die gab es schon bei uns im Westen,bevor Merkel nach 1989 „Westluft“ schnupperte. Nur haben die hier verhafteten und gegründeten,nennen wir sie einmal humoristisch links-grün-rot-geschwängert,einen großen Schritt gemacht,und sich mit dem Gedankengut des östlichen Linkentums zusammen geschlossen. Daraus ist eine extrem gefährliche Bewegung der gescheiterten geworden,in weiten Bereichen sogar als linksextremistisch und Gewaltbereit zu nennen.Die „Bewegung“ Kahane und ihre Stasivergangenheit sprechen eine deutliche Sprache,gehätschelt und gesponsert auch von Regierungsteilen(rot) mit nicht unbeträchtlichen Steuermitteln. Da gibt es eine „journalistisch“ geprägte Vereinigung,Sinnes schwer nennen die sich Correctiv,ob aber die Ergebnisse dem Namen gerecht… Mehr

November Man
3 Jahre her

Wann hat die Merkel schon mal was Gescheites für die Deutschen oder für unser Land getan oder gesagt?
Ich kann mich an nichts erinnern.

Freedomofspeech
3 Jahre her

Reduzieren wir die Wortschöpfung „Öffnungsdiskussionsorgien“ mal auf ihren Kern: Diskussionsorgien. Diskussion als Orgie, als etwas Unerwünschtes, Unanständiges, Verfemtes, zu Verdammendes. Da kommen das wahre Denken der Kanzlerin, ihre DDR-Prägung als FDJ-Sekretärin, ein nicht enden wollendes Fremdeln mit der Demokratie deutlich zum Ausdruck. Mich überrascht das nicht mehr wirklich, die Unverblümtheit, mit der sie dieses Denken offenbart, ist schon erstaunlich. Noch erstaunlicher ist, dass man ihr alles durchgehen lässt.