Die Ampel-Wahlrechtsreform ähnelt einem AfD-Gesetzentwurf

Der Reformplan der Ampel-Parteien für das Wahlrecht zum Bundestag kommt im Kern einem Gesetzentwurf nahe, den die AfD 2020 vorlegte. Das Interesse an einem geringeren Gewicht der Direktmandate haben schließlich mindestens zwei von drei Ampel-Parteien mit der AfD gemeinsam.

IMAGO / Future Image
Plenum des Bundestages am 16.12.2022
Die Union will gegen die Reformpläne der Ampel-Koalition für das Wahlrecht zum Bundestag nötigenfalls mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vorgehen. SPD, Grüne und FDP legten „die Axt an unser personalisiertes Verhältniswahlrecht“, sagt Ansgar Haveling, Justiziar der Unionsfraktion und Obmann der CDU in der Wahlrechtskommission des Bundestags. Damit hat er wohl auch recht. Nur ist es fraglich, ob das auch ein Verfassungsbruch wäre. Denn im Grundgesetz wird für die Wahl des Bundestages nicht auf einem personalisierten Verhältniswahlrecht bestanden. Die Wahl muss nach Artikel 38 allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein, aber: „Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz“.

Ob der Reformplan, der es ermöglicht, dass Direktkandidaten mit den meisten Stimmen im Wahlkreis dennoch nicht in den Bundestag einziehen, „eine eklatante Missachtung des Wählerwillens und des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips“ ist, wie der CSU-Abgeordnete Stefan Müller sich empört, kann man aber bezweifeln (womit noch nichts über die Güte der Reform selbst gesagt ist).

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Es gibt schließlich auch unzweifelhaft demokratische Staaten mit reinem Verhältniswahlrecht, die sogar ganz ohne Wahlkreisabgeordnete auskommen, zum Beispiel die Niederlande. Oder auch Deutschland während der Weimarer Republik. Außerdem wird das Prinzip des Mehrheitswahlrechts in Deutschland ohnehin schon dadurch geschwächt, dass nach geltendem Wahlrecht nur eine relative Mehrheit und keine Stichwahl nötig ist, so dass immer öfter Direktkandidaten mit kaum 30 Prozent der Stimmen in den Bundestag einzogen.

Erstaunlich, dass sich die Union bei ihrem Widerstand gegen die Wahlrechtsreform nicht auf ein Argument stützt, dass im politischen Diskurs der deutschen Gegenwart sonst meist großes Gewicht hat: nämlich das Tabu, mit der AfD zu kooperieren. Die Reformvorschläge der Ampel ähneln schließlich zumindest in ihren Grundzügen (soweit über diese in der Presse berichtet wird) einem Gesetzentwurf, den die AfD in der vorangegangenen Legislatur 2020 einbrachte.  

Das Ziel, den Bundestag möglichst auf die gesetzlich vorgesehene Regelgröße von 598 Abgeordneten zu beschränken, eint als Grund der Reformnotwendigkeit ohnehin alle Reformvorschläge. Bei den vergangenen Bundestagswahlen war das Parlament immer weiter gewachsen – auf aktuell 736 Sitze. Grund sind Überhang- und Ausgleichsmandate. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate in den Wahlkreisen erringt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis in einem Bundesland zustehen. Die zusätzlichen Direktmandate darf die Partei nach bisherigem Wahlrecht behalten.

Die Ampel will nun, dass Wahlkreismandate verfallen können, wenn eine Partei mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem Anteil an den Zweitstimmen (von der Ampel nun „Hauptstimme“ genannt) pro Bundesland zustehen. Die Wahlkreis-Kandidaten mit dem schlechtesten „Wahlkreisstimmen“-Ergebnis sollen dann leer ausgehen. „Die erfolgreiche Kandidatur im Wahlkreis setzt also künftig neben der relativen Mehrheit eine Deckung durch „Hauptstimmen“ voraus“, heißt es dazu im Gesetzesentwurf.

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Ähnliches sah auch der Gesetzentwurf der AfD von 2020 vor. Dem zufolge sollte die relative Stimmenmehrheit im Wahlkreis künftig „zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung“ zur Erringung eines Direktmandats darstellen. Ebenso wie die AfD will auch die Ampel die bisherigen 299 Wahlkreise bestehen lassen, während die Vorgängerregierung aus Union und SPD eine Reduzierung auf 280 beschlossen hatte, die für die Wahl von 2025 gelten wird, falls bis dahin keine Reform in Kraft tritt. 

Ob die Ampel sich nun von der AfD inspirieren ließ (die Begriffe „Hauptstimme“ und „Wahlkreisstimme” kommen im AfD-Gesetzentwurf nicht vor), wird wohl nicht zu klären sein. Naheliegend ist jedenfalls: Die Parallele zwischen AfD-Gesetzentwurf und Ampel-Plan nimmt ein paralleles Interesse der kleineren Parteien auf, die ohnehin kaum Aussichten auf viele Direktmandate haben. Während die CDU und vor allem die CSU in Bayern durch viele Direktmandate und entsprechende Überhangmandate in ihrer Gesamtstärke im Bundestag nach dem geltenden Wahlrecht bevorzugt werden. 

Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek hält den zentralen Kern der Ampel-Reform für akzeptabel. „Wenn man das Verhältniswahlsystem mit einem System direkt gewählter Wahlkreiskandidaten kombiniert, gibt es keine perfekte Lösung. Dass die Verhältniswahl über die Zusammensetzung des Bundestages entscheidet, entspricht schon dem bisherigen System. Aber der Versuch, jeden Wahlkreis mit einem direkt gewählten Kandidaten zu besetzen und zugleich den Proporz zwischen den Parteien bei der Mandatsverteilung zu wahren, hat ja zu der ausufernden Zahl der Mandate geführt.“ Ihm ist wichtiger, die Zahl der Abgeordneten auf die gesetzlich festgelegte Zahl zu beschränken, als sowohl das Proporzsystem als auch das Wahlkreissystem ohne Einschränkung durchzuführen. „Bisher hatte die Ampel ja an einer Lösung gebastelt, bei der viele Wahlkreismandate nicht an den Kandidaten gegangen wären, der im Wahlkreis die meisten Stimmen erhalten hat, sondern an den Zweitplazierten. Das wäre eine schlechte Lösung gewesen, weil die Demokratie mit dem Mehrheitsprinzip verbunden ist. Die jetzige Lösung ist akzeptabel.“ 

Die Frage der Wirkung der Reform auf die politische Kultur in Deutschland ist dagegen eine andere.

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Kommentare ( 82 )

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The_Gumbo
1 Jahr her

„Direktkandidaten mit kaum 30 Prozent“…“eingezogen“

Na und ? 2% sind mehr als 1% : Mehrheit ist Mehrheit.

Kanonisch lässt sich das Problem doch ganz leicht lösen.

50% : Direktmandate (nix neuer Zuschnitt)
50%: BUNDESTAGSwahllisten der Parteien.

Die krude Idee, dass die Zweitstimme die Mehrheitsverhältnisse bestimmt, kann man dem GG nicht entnehmen. Und nur das ist relevant.

Wolfram_von_Wolkenkuckucksheim
1 Jahr her

Meinetwegen kann die Zweitstimme komplett weg. Die Wahllisten führen zu einer viel zu großen Macht der Parteien und ihrer Führer.

Leon
1 Jahr her

Gegenvorschlag: Deutschland (oder Schland, um jede Anspielung auf das historische Land zu vermeiden) führt ein reines Verhältniswahlrecht ein. Der Bundestag besteht (aus Kostengründen und weil es sowieso egal ist) aus genau 11 Abgeordneten (ungerade Zahl, damit es kein Patt geben kann). Diese 11 Abgeordneten sind zugleich Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundesminister, jeweils abwechselnd. Es gilt das Prinzip, dass gegen Unfähigkeit keine Diskriminierung stattfinden darf. Wahlen finden, zur Stärkung der Demokratie (wie von Bundestagspräsidentin Bärbel Baas angeregt), nur noch alle 30 Jahre statt. Dabei haben alle Personen ab Null Jahre das Wahlrecht einschließlich der Kieselsteine an den Ufern der Flüsse. Die Auszählung… Mehr

Bad Sponzer
1 Jahr her

Ich lach mich kaputt. Als wenn sich dadurch was ändern würde. Dieses Land bräuchte einen Resetknopf. Wie bei einem abgestürzten virenverseuchten Computer. Alles auf Neuanfang und ein gutes Antivirenprogramm.

Derrio.F.
1 Jahr her

Natürlich muss das personalisiert sein, wie sollten sonst parteilose Kandidaten in den Bundestag kommen?
Eine praktikable Lösung wäre, nur die 50 % Listenplätze nach Zweitstimmenverhältnis zu verteilen.

Pellenzer
1 Jahr her

Wenn es nicht so traurig wäre könnte man herzhaft darüber lachen. Seit Jahren soll der Bundestag eine Wahlrechtsreform auf die Beine stellen, es passiert nicht. Jeder will seine Pfründe behalten und gibt nicht nach. Das kleine Deutschland hat das 2.größte Parlament der Welt, man fragt sich wofür. Macht eine Partei einen guten Vorschlag wird er von den Anderen sofort vom Tisch gewischt, weil er nicht auf dem eigenen Mist gewachsen ist. Anträge von der AfD werden grundsätzlich abgelehnt, das nennt man dann Demokratie. Es ist ja mittlerweile so das das Grünzeug die Königsmacherrolle inne hat, die in früheren Jahren die… Mehr

Peter Pascht
1 Jahr her

Das Wahlergebnis kommt aus der Wahlurne, sagt das Grundgesetz !!! Da hat niemand mehr hinterher daran herum zu fummeln, egal mit welcher erfundenen Begründung, Ausgleichmandate, Überhangmandate, usw. Lt. Grundgsetz gibt es keine Parteien-Zweitstimme. Parteien-Zweitstimme auf dem Wahlzettel ist verfassungswidrig, denn ein Bundeswahlkandiat muss nicht Mitglied einer Partei sein. Insofern gehört so eine Partei-Proporz-Spiegelung nicht in die Wahlurne. Da nun Ausgleichmandate, Überhangmandate wegfallen sollen, erübrigt sich auch die Zweitstimme auf dem Wahlzettel, denn die gehört da nicht hin. Das stinkt den Gegnern, insbesondere der CDU/CSU, der Abschaffung von Ausgleichmandate, Überhangmandate, deswegen erzählen sie die Lüge, „Direktamandate“ würden nicht in den Bundestag… Mehr

moorwald
1 Jahr her
Antworten an  Peter Pascht

Das Grundgesetz macht ja nur wenige Vorgaben hinsichtlich der Wahl des Bundestages – wahrscheinlich aus guten Grund. Auch die Zahl der Abgeordneten ist nicht vorgegeben. Sie ergibt sich aber indirekt aus der Anzahl der Wahlkreise.
Ich denke, mit verfassungsrechtlichen Argumenten kommt man nicht weiter.
Das Problem ist nur politisch zu lösen. Und das erinnert uns ein wenig an Münchhausens Zopf…

Evero
1 Jahr her

Mir ist klar, dass durch Direktmandate die kleineren Parteien benachteiligt werden. Aber die Direktwahl ist eine unmittelbare Wahl im Gegensatz zur Parteiwahl, wo der Wähler weniger beeinflußen kann, wer zu einem Mandat kommt. Hätte ich was zu sagen, müsste es nur Direktmandate geben. Dadurch würde die Macht der Parteiapparate zurückgedrängt und das Mandat und der Einfluß des Wählers auf die Politik gestärkt. Je 2 direkt gewählte Abgeordnete pro Wahlkreis das würde der Demokratie gut tun. Wir bräuchten nicht so viele Parteien mehr, denn die frei gewählten Abgeordneten garantierten dann für Wettbewerb. Die deutsche Parteiendemokratie hat enorme Schwächen, die gerade jetzt… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Evero
Wolfram_von_Wolkenkuckucksheim
1 Jahr her
Antworten an  Evero

Da bin ich ganz bei Ihnen. Viele vergessen, dass Parteien dann immer noch eine Rolle spielen, was sie ja auch dürfen. Sie sollen Orientierung geben, aber auch Infrastruktur für den Wahlkampf bereitstellen. Aber mit diesen Listen und den ganzen Unfug, werden zu viele Abgeordnete abhängig von der Parteiführung.

Freiheit fuer Argumente
1 Jahr her

Allein schon die Idee, man könne einen persönlich und direkt gewählten Abgeordneten irgendwie nach Parteiproporz ausgleichen“ offenbart das von der Parteiendominanz völlig verkorkste Demokrstieverständnis in Deutschland!

Daher 50% direkt gewählt, 50% nach Proporz. Kein Ausgleich. Proporzwahl ohne 5%-Hürde (vielleicht 2%?) damit auch neue Strömungen eine Chance haben zu entstehen.

Nur Direktkandidaten fühlen sich ihrem Wähler mehr verpflichtet als dem innerparteilichen Filz, der die Listenkandidaten auskungelt.

Michael_M
1 Jahr her

„Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek hält den zentralen Kern der Ampel-Reform für akzeptabel. „Wenn man das Verhältniswahlsystem mit einem System direkt gewählter Wahlkreiskandidaten kombiniert, gibt es keine perfekte Lösung. Dass die Verhältniswahl über die Zusammensetzung des Bundestages entscheidet, entspricht schon dem bisherigen System. Aber der Versuch, jeden Wahlkreis mit einem direkt gewählten Kandidaten zu besetzen und zugleich den Proporz zwischen den Parteien bei der Mandatsverteilung zu wahren, hat ja zu der ausufernden Zahl der Mandate geführt.““ natürlich gibts da eine perfekte lösung. 50% der plätze für direkt gewählte kandidaten und 50% nach parteienproporz besetzt. ohne master-stimme, damit bei 50-50 abstimmungen ein… Mehr