Von Manieren im Hohen Haus. Eine Bildbetrachtung.

Da beweist einer mit Manieren, dass er auf Manieren keinen Wert legt, weil die Commons seines Erachtens keine Manieren wert sind. Ein mit goldenem Löffel im Mund Geborener gibt den Rotzlöffel.

Im House of Commons sitzen und stehen Regierende und Opponierende gerade so weit auseinander, dass es zum Handgemenge nicht ganz reicht. Und gelegentlich legen sie sich sogar hin.

I.

Rees-Mogg. Natürlich. Wer sonst! Der Schnösel von der ersten Bank, tadellos gekleidet, die Schuhe gewienert, den Scheitel gezogen, ausgestreckt zum Nickerchen. Im Unterhaus trifft Ignoranz auf Arroganz. Am Flegel geht vorbei, was da geredet und beschlossen wird. Er wählt die bequemste Geste der Verachtung.

II.

Da beweist also einer mit Manieren, dass er auf Manieren gerade keinen Wert legt, weil die Commons seines Erachtens keine Manieren wert sind. Ein mit goldenem Löffel im Mund Geborener gibt den Rotzlöffel. Wir sind an einem interessanten Punkt. Manieren – ob im Parlament oder bei Tisch – waren stets auch ein Mittel autoritärer Machtausübung. Sie spiegeln die Herrschaftsverhältnisse in der Familie wie im Parlament. Regeln gelten nämlich für alle, nur nicht für den Herrscher. Der setzt sie bloß. Rees-Moggs horizontale Haltung signalisiert: Quod licet Iovi, non licet bovi.

III.

Wir sehen den symbolischen Missbrauch von Macht. Kafka beschreibt dieses Verhalten in seiner grandiosen Erzählung „Brief an den Vater“. Nur der Vater muss sich bei Tisch nicht an seine eigenen Regeln halten. Deshalb erlebt Kafkas Ich-Erzähler die Welt geteilt: „In die eine, wo ich, der Sklave, lebte, unter Gesetzen, die nur für mich erfunden waren (…) dann in eine zweite Welt, die unendlich von meiner entfernt war, in der du lebtest, beschäftigt mit der Regierung, mit dem Ausgeben der Befehle und mit dem Ärger wegen derer Nichtbefolgung.“ Genau das ist in Westminster unter dem dünnen Firniss der Demokratie zu erkennen.

IV.

Wozu überhaupt noch Manieren? Das Tier reißt sich um die Beute, der Mensch verteilt sie gesittet. Ohne Manieren fallen wir zurück in die Barbarei. Der Prozess der Zivilisation ist ein steter Prozess der Verfeinerung und der Angleichung von oben nach unten (wie es der Soziologe Norbert Elias unübertrefflich beschrieb.) Rees-Mogg dreht das um. Statt Verfeinerung demonstriert er von oben herab Vergröberung. Man kann das als Parodie und Kritik am Zeitgeist lesen. Ist doch das Kennzeichen unserer Zeit die Angleichung von unten nach oben. Wir nennen das Popkultur. Wir akzeptieren antiautoritäre – nämlich: manierenfreie – Erziehung. Und nun kommt dieser Schnösel von oben und macht sich das spielerisch zu eigen.

V.

Im zwölften Jahrhundert führte der englische König Heinrich II. bei Tisch als erster Gabeln ein. Sie dienten der Vorlage der Speisen aus den gemeinsamen Schüsseln auf individuelle Teller. Doch war die Tischgesellschaft damit zunächst überfordert, hielt das Werkzeug für eine Waffe und stach aufeinander ein. Die Deutschen nahmen sich zu dieser Zeit noch mit den Fingern. Jetzt sammelt Rees-Mogg die Gabeln wieder ein. Doch parlamentarische Manieren bedrohen das Regime. Wenn einer Gabeln als Waffe benutzt, dann nur Johnson. Manieren gelten ihm wohl als „kleinbürgerliche Scheiße“. Genau so hat es die Jugendbewegung in den Sechzigerjahren formuliert, die aus Prinzip Manieren ablehnte und das Danebenbenehmen als Waffe ihres Aufstands nutzte. Später dann auch im Parlament:„Mit Verlaub, Herr Präsident, sie sind ein A…“ Rees-Mogg, Johnson & Co erweisen sich als antiautoritäre Autoritäten, als elitäre Antielite.

VI.

Es geht immer um die Balance zwischen individueller Freiheit und Norm. In Deutschland zählt von jeher das Kollektiv mehr als das Individuum, die Sekundärtugend mehr als die Überzeugung. Der Bundestag spielt „Hohes Haus.“ Regularien, Unterordnungen, Anordnungen. Der getreue Untertan ist das bürgerliche Leitbild selbst heute noch im Parlament. Deshalb führt Fraktionszwang in Deutschland zur Betäubung der parlamentarischen Demokratie. Ach, hätten wir doch ein weniger hohes Haus, ein House of Commons in Berlin! In Great Britain stehen, sitzen und liegen noch ziemlich viele Exzentriker herum. Ein Menschenschlag, der es in Deutschland nie zu etwas gebracht hat. Wir sollten weniger schadenfroh als neidisch auf die Mutter der Parlamente schauen.

VII.

Zwei leider notwendige Nachsätze. Erstens: In London lernen wir, dass man keine geschriebene Verfassung braucht, um in eine veritable Verfassungskrise zu stürzen. Zweitens: Im englischen Parlament ist zu sehen, dass Traditionen, Spielregeln und auch die Unabhängigkeit der Gewählten ohne Wert sind, wenn es an der wichtigsten Zutat demokratischer Politik fehlt. Ohne ein Minimum an Vertrauen funktioniert nichts. Demokraten vernichten den Boden, auf dem sie stehen, sitzen und liegen, wenn sie einander nur noch belügen, betrügen und mit faulen Tricks und Schlichen bekämpfen.

PS
Mehr über Manieren und ihre gesellschaftliche Bedeutung in: Vorwiegend Festkochend. Kultur und Seele der deutschen Küche von Wolfgang Herles. Erscheint am 21. Oktober bei Penguin-

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