Rot und schwarz, das war einmal, heute ist blass Rotgrün

Entschieden wird der politische Kulturkampf nicht in Kontinentaleuropa, sondern wie seit Jahrhunderten in der angelsächsischen Welt. Und Deutschland folgt wie immer zuletzt.

Ein Leser schrieb nach der Kommunalwahl in NRW: „Selbst SPD-Parteimitglieder wählen nicht mehr SPD, wie mir schon vor längerer Zeit ein Bekannter erzählt hat, der selbst Parteimitglied ist. Man ist halt immer noch Mitglied, so wie man noch in der Kirche ist, obwohl man nicht mehr in den Gottesdienst geht.“

Damit traf er mitten ins Schwarze. Sie werfen ein, ins Rote? Nein, denn der Clou bei der Geschichte ist die anhaltende Wirkung der alten politischen Farben, obwohl doch alle Farben längst nichts mehr sagen oder – noch schlimmer – wirkungsvoll in die Irre führen.

Hieß Schwarz einst konservativ, bedeutet diese Farbe heute nichts mehr, denn die Unterschiede bei wirklichen Richtungsfragen in der tatsächlichen Politik zu Grün, Rot und Gelb sind nicht erwähnenswert. Alle zusammen könnten in einer einzigen Partei sein, nicht einmal für echte Flügel gäbe es genug politischen Stoff. Die angemessene Parteifarbe wäre ein verwaschen blasses Rotgrün.

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Und trotzdem wirken die alten politischen Farben weiter. Warum? Weil die Allermeisten es nicht schaffen, sich von einer gewohnten Gewissheit zu verabschieden, auch wenn ihnen viele Veränderungen nicht verborgen bleiben. Es geht um eine hoch interessante Form der Selbsttäuschung, um sich selbst vor unerwünschten und/oder gefürchteten Konsequenzen zu schützen: vor dem Verlust der sozialen, politisch-kulturellen Zugehörigkeit zum altgewohnten, altvertrauten, altgeliebten Umfeld alter Freunde und guter Bekannter.

Dass diesem Umfeld mehr Leute angehören, denen es genau so geht, als solche, die unbeirrt und unbeirrbar daran glauben, dass alles beim – guten – alten geblieben ist, hält ein Geflecht von stabilen Labilitäten aufrecht, das der labilen Stabilität der Gefühle der einzelnen entspricht.

Dazu gehört auch, sich selbst einbilden zu können, es würde einen Unterschied machen, CDU statt SPD zu wählen, obwohl rational alle sehen könnten, dass so oder so eine Grün bestimmte tatsächliche Politik auch das Ergebnis der nächsten Wahl sein wird – Grün, das neue Rot, was auch die Wählerwanderungen spiegeln, bisher nur demoskopisch, aber sehr wahrscheinlich dann auch in abgegebenen Stimmen. Grün wählen wollen hat in diesen Zeiten den großen Vorteil, dass man sich damit im schwarzen, roten und rosaroten Milieu und vor allem im Spiegel der veröffentlichten Meinung bequem bewegen kann, ohne Kritik zu riskieren. Rotgrün ist in. Norbert Bolz fasst es so: „Früher waren die Linken Kritiker, heute sind sie Mitläufer.“ Und Mitläufer waren in den schlechteren Teilen der deutschen Geschichte leider schon immer eine zuverlässige Größe.

Der Fall, den der eingangs zitierte Leser beschreibt, ist wahrscheinlich die seltene Ausnahme. Und zwar deshalb weil die Allermeisten auch mental kein Doppelleben führen können. Es würde sie innerlich zerreißen. Ich schrieb neulich, dass dieser Mechanismus selbst in der Wahlkabine funktioniert, obwohl dort keiner zusehen kann. Ein Leser kommentierte empört, das wäre – na irgendetwas Beleidigendes.

Das Bedürnis, mit sich selbst, den Seinen, dem näheren und weiteren Umfeld im Reinen zu sein, entspricht dem weit verbreiteten Bedürfnis, der tiefen Sehnsucht nach Harmonie, nach Geborgenheit. Je weniger das beim einzelnen der Fall ist, desto größer wird das Bedürnis. Bevor sich der einzelne aus seinem noch so labilen sozialen Geflecht tatsächlich oder auch nur mental entfernt, muss viel mehr geschehen, als die Meisten in ihrem persönlichen Leben bisher wahrnehmen (wollen).

Nur nicht an die Politik rühren
Der Leserbrief zum Gestern in der DDR als Mahnung an das Heute in der Berliner Republik
Willfährig wirken die meisten Medienmacher mit bei dem Illusionstheater der Parteien und Politiker mit dem einzigen, ewig gleichen Stück vom Parteienwettbewerb. Für das tatsächliche Handeln der Herrschenden ist es bedeutungslos geworden, welche Parteien formal die Regierungen bilden. Den Weg von immer mehr Staat und immer weniger Recht und Freiheit setzt jede Konstellation fort. Welchen Namen der nächste Bundeskanzler und Ministerpräsident trägt, ist unbedeutend, da sie alle brav dem Zeitgeist folgen, weil das – und nur das – ihre Laufbahn als Berufspolitiker verlangt.

Die Leute bleiben bei ihrer CDU, weil sie sich einbilden, die wäre noch immer Schwarz. Ja, sie glauben sogar, mit Union wählen würden sie die Roten von der Macht fernhalten, und merken nicht, dass Rotgrün längst das Sagen innerhalb der CDU und CSU hat. Die SPD schrumpft wie die Linkspartei zum Traditionsverein ihrer Veteranen.

Im ganzen politischen Westen tobt der politische Kulturkampf  – mit Ausläufern in den Länder des früheren Sowjetimperiums. Die immer noch zunehmende Schärfe dieser Auseinandersetzung belegt für jeden, der es sehen will, der Kulturkampf erreicht seinen Höhepunkt. Dass er in Deutschland zuletzt zu Ende geht, ist deutsche Kontinuität. In Deutschland passierte schon immer alles Politische später, dafür maßlos blindgläubiger – und scheiterte schrecklicher.

Entschieden wird der politische Kulturkampf nicht in Kontinentaleuropa, sondern wie seit Jahrhunderten in der angelsächsischen Welt. Der politische Westen ist zäher, als die (überwiegend nichtwestlichen) Mandarine der UN und ihre Satrapen in der EU ahnen. 2021 wird politisch ein vielversprechendes Jahr.

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Kommentare ( 63 )

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Riffelblech
3 Jahre her

Fakt scheint doch zu sein ,das Deutschland seine zentrale politische und wirtschaftliche Rolle in Zentraleuropa nicht zuletzt aus Interventionen der USA und Großbritannien und Frankreuch einbüßt .Das sich dieses Spiel auch im verwaschenen Erscheinen der Parteien abspielt ist nur die Konsequenz der Thinkthanks aus den genannten Ländern . Nicht umsonst sind führende Parteipolitiker der Mitglieder in Kommissionen,die auf amerikanische Gründungen beruhen. Röttgen sei als Beispiel genannt. So kann sich eine unklare,verwaschene Gesellschaft nicht selbst definieren und stellt weder eine politische noch wirtschaftliche Konkurrenz dar. Deutschlands Rolle ist von Barret und Feldmann ,Thinkthanks , als Gebiet zum Aufmarsch gegen Russland vorgesehen… Mehr

ludwig67
3 Jahre her
Antworten an  Riffelblech

Deutschland büßt diese Rolle nicht ein, sondern will sie einfach nicht einnehmen.

Markus Gerle
3 Jahre her

Naja, den meisten oder zumindest immer mehr Wählern ist die Beliebigkeit der Parteien zumindest unterbewusst schon klar. Das zeigt sich nämlich an der stetig zunehmenden Zahl von Wechselwählern und auch dem zunehmenden Verlust der Deutungshoheit der Medien. Zumindest in meinen Kreisen nimmt man die meisten Medien deutlich weniger ernst als noch vor einigen Jahren. Als typischer Anhänger der FDP ärgert es mich daher auch so gewaltig, dass die FDP anscheinend aus Angst, von den Medien in die rechte Ecke gestellt zu werden, nicht endlich mal Tacheles redet. Ein weiteres Phänomen beobachte ich zunehmend in meinem Umfeld: Wahlentscheidungen werden nicht mehr… Mehr

ludwig67
3 Jahre her
Antworten an  Markus Gerle

Die Wahl der Grünen ist das Ergebnis einer systematischen Erziehungsleistung, die schon zu meiner Schulzeit Mitte der 80er in vollem Gang war. Das was heute FFF ist, war damals die Friedensbewegung, Klima war Waldsterben usw. Die Rezepte waren die gleichen (falschen) wie heute. Die Grünen waren das was sie heute sind, nur mit mieseren Klamotten. Faktenresistent, hochideologisch, gefährlich.

ludwig67
3 Jahre her

Was wir brauchen ist eine komplette liberal-konservative Sphäre aus Medien, Universitäten und einer Partei. Die Idee, Kompromisse mit Links zum Wohle des Landes zu schließen ist idiotisch. Wie man derzeit in Berlin sehen kann, geht es nur um Macht. Macht zur Umerziehung und Unterdrückung. Diese Leute haben den Glauben an ein sozialistischer Weltreich niemals aufgegeben und Schrecken vor nichts zurück. Die sog. Konservativen in der CDU haben das nicht begriffen und denken immer noch, die Kompromisslösung sei möglich. Die Linke will so wenig demokratisch sein wie der Moslem laizistisch. Die Fassade wird exakt so lange aufrecht erhalten bis die Macht… Mehr

ludwig67
3 Jahre her
Antworten an  ludwig67

Ich teile Ihren Wunsch, habe aber keinerlei Hoffnung. Wer bitte schön sollte das denn erledigen? Entweder kapert einer die FDP und krempelt sie um, oder nimmt sich gleich die CDU vor, analog Trump mit den Republikanern. Bitte kommen Sie nicht mit der AfD, die wird es nicht (mehr) richten. Abgesehen von den (teils hochgeschriebenen) Skandalen, fehlt eine prägende Figur, eine Hundekrawatte ist da zu wenig. Hier wird oft übersehen, wie kulturkundig Trump mit (ich glaube) 16 Staffeln „The Apprentice“ ist. Trump war lange Teil der amerikanischen Popkultur, so einen gibt es hier gar nicht. Nein, nein, wir sind dazu verurteilt… Mehr

AngelinaClooney
3 Jahre her

Gute Analyse Herr Goergen. Ich warte immer noch auf die Lawine – bis jetzt sitzen die Parteivertreter immer noch fest im Sattel.

Oblongfitzoblong
3 Jahre her

“ verwaschen blasses rotgrûn “ . Nicht einmal das. Vor einigen Jahren hat die SPD in Essen für einen Kandidaten für einen Stadtbezirk geworben. Eine Parteizugehörigkeit spielte keine Rolle! Offensichtlich könnte sich jeder für einen Posten in der SPD melden. Wenn das mal kein Parteiprogramm ist!

fatherted
3 Jahre her

Sehe ich anders….China wird der neue Motor der Weltwirtschaft. Die USA haben weitgehend abgewirtschaftet. Infrastruktur, Bildung, Gesellschaft…alles kaputt in den USA. In China dagegen der Drang zu Bildung, Arbeit und Fleiß….wer mal da war und sich die „kleinen Dörfer“ von 3-4 Mio Einwohnern mal angeschaut hat, weiß wer künftig den Weg vorgibt und wie schnell dort die Entwicklung weiter geht. Japan, Süd-Korea folgen auf den Fuß. Ganz Süd-Ost Asien steht in den Startlöchern…..die neue Seidenstraße….ausgebaut bis in Deutsche Binnenhäfen. Was die USA noch hat, sind Waffen und Militär….das könnte sie noch ein paar Dekaden an der Weltspitze halten….die Wirtschaft geht… Mehr

friedrich - wilhelm
3 Jahre her
Antworten an  fatherted

…..china ärgert die usa im gelben meer und rußland wird von natomanövern an seinen grenzen aufgeschreckt. bei einer befragung im senat der usa wurde von militärs geantwortet, dass man künftig kernwaffen einsetzen werde. und die neueste vorlage der navy fordert von der us – regierung mittel zum ausbau mannloser überwasser- und unterwasserschiffe, natürlich schwerbewaffnet! so sieht m e i n e geostrategische betrachtungsweise aus!

trotzdem all the best aus jasper/can.

drnikon
3 Jahre her
Antworten an  fatherted

China als Motor der Weltwirtschaft? So wie der „Westen“? mit Geledsozialsozialismus) (FIAT-Money, Zentralbankgeld). Neee, das wird nix. Auf jeden Fall nicht besser. Ich denke, mit dem Beginn des 1. WW hat die abendländische Kultur, vor allem in Europa, sich nicht nur keinen Gefallen getan, sondern die vorherige guten technologische Entwicklung und den Fortschritt ist sehr vielem Bereichen, extrem verlangsamt. Der 2. WW ist die Fortsetzung von 1. WW. Wie viele Innovationen (echte) hat es seit dem 2. WW noch gegeneben? Di meisten Grundlagen dessen, was heute so gefeiert wird wurde in seinen Anfängen (echten Innovation) zwischen 1800 und 1914 entwickelt.… Mehr

Thorsten
3 Jahre her

Und wieder einmal wird sich beweisen, dass der Präsident der USA „der mächtigste Mann der Welt“ ist, indem die USA als Taktgeber und Motor der Weltpolitik agiert.

Trump oder Biden werden die Richtung zeigen wie es weiter geht. Nicht nur in Hinsicht auf unsere „DDR 2-0“ sondern auch EU und Euro aber auch den weiteren Aufstieg Chinas.

Alberich
3 Jahre her

Eine sehr gute Beschreibung. Der Kulturkampf in der westlichen Welt wird sich in Großbritannien und den USA entscheiden. Die Marktwirtschaft (Kapitalismus) in Verbindung mit der freiheitlichen Demokratie wird sich weiter entwickeln.
Unsere politischen Legastheniker rennen der Regenbogenfahne hinterher und predigen in großer Einigkeit Intoleranz!
Man möchte dem Volk ständig zurufen oder brüllen: Informiert euch! Verbindet die Puzzleteile. Es steht alles geschrieben…
Danke für diesen Beitrag.

Maja Schneider
3 Jahre her

Volle Zustimmung, Herr Goergen, im persönlichen Umfeld ist genau das, was Sie hier beschreiben, immer wieder feststellbar! 2021 wird in der Tat ein „politisch vielversprechendes Jahr“, nur steht zu befürchten, kein gutes, und so mancher wird sich erstaunt die Augen reiben und feststellen: „Das habe ich ja gar nicht gewusst“

Alexis de Tocqueville
3 Jahre her

„verwaschen blasses Rotgrün.“

So etwas gibt es nicht. Mischen Sie doch mal Rot und Grün.

Aha.