Identifikation mit der Protestbewegung statt mit dem Staat

Brauchte die Bundesrepublik die Revolte von 68? Ist 68 gar das Jahr einer „Neugründung“ der heutigen Bundesrepublik? Mit bislang unbekannten Fakten und Stimmen bisher ungehörter Zeitzeugen erzählt Bettina Röhl die vermeintlich bekannte Geschichte neu. Hier aus ihrem neuen Buch vorab ein ungekürztes Kapitel.

© AFP/Getty Images
Militants attend the funerals of Berndt Andreas Baader, Gudrun Ensslin and Jan-Carl Raspe, the three leaders of the German organization Red Army Faction, also called the Baader-Meinhof Group, on October 27, 1977 in Stuttgart, Germany.

68, das heißt: Protestkultur statt Kultur. Protestpolitik statt Politik, heißt Protestjournalismus statt Journalismus, heißt Protestjustiz statt Justiz. Nur dass, wenn Protest Mainstream ist, wenn Protest Regierung und Opposition gleichzeitig ist, Subkultur und Hochkultur, vom Protest nichts übrig bleibt; dass dann linker Protest der aalglatteste, angepassteste, opportunistischste Mainstream und kein echter Protest mehr, nur noch Attitüde ist. Deshalb wird der echte Protest, nämlich der Protest gegen die etablierte Protestkultur selber, bis heute als konterrevolutionär, als autoritär, als rechts, als ewig gestrig, als böse, als imperialistisch, rassistisch oder was noch immer, bekämpft und unterdrückt, bis auch die letzte Stimme und das letzte Argument, das eine 68er-Ideologie entlarvt und zur Diskussion stellt, ausgemerzt sein wird.

Allerdings: Ein Staat, dem der „Wille des Volkes“, der Konsenswille, das Verpflichtungsgefühl seiner Bürger, fehlt, ist einen Dreck wert. Daran ändert auch ein durch eine hervorragend laufende Wirtschaft erzeugtes Wohlbefinden, an dem die Bundesbürger sich derzeit 2017/2018 festhalten, nichts. Um das zu verstehen, ist es so überaus wichtig, in die Geschichte der Zeit einzutauchen.

Alles in der Menschheitsgeschichte spricht dafür, dass sich die meisten Bürger eine Identifikation mit ihrem Gemeinwesen, ihrem Staat wünschen, dass sie eine Art selbstverständliche Sehnsucht danach haben, in einer grundsätzlichen Übereinstimmung mit anderen Menschen zusammenzuleben.

Aber was passierte damals mit der Identifikation der Menschen mit ihrem Staat, der Bundesrepublik?

Als auf dem Höhepunkt der 68er-Bewegung der Bundesrepublik die Identifikationskraft genommen wurde, konnten die Protestideen der 68er so erfolgreich in die Medien, in den Kulturbetrieb und in die Köpfe in einem bis heute andauernden Prozess implementiert werden, dass die Protestbewegungen selber zu den Identifikationszentren wurden. Statt des Staates wurde die „Revolution“, wurde die Protestkultur zur eigentlichen neuen Identifikationsgröße für die Menschen in der Bundesrepublik und im ganzen Westen.

Nicht mehr der Kanzler Kiesinger, der von einer Mehrheit der Deutschen mittelbar gewählt worden war, sondern Rudi Dutschke, die singulär herausstechende Führungsfigur der APO, wurde zur Kultfigur der Deutschen im öffentlichen Raum. Nicht mehr das Parlament, sondern die Kommune 1 und der SDS und dann, nach deren schneller Auflösung, die wechselnden Zentren der „Revolution“ – die RAF, die Hafenstraße, die Rote Flora, die frühe Bewegung der Grünen um Joschka Fischer und Cohn-Bendit, die Hausbesetzerbewegung in Frankfurt und Berlin, die Friedensbewegung, Anti-Atombewegung, die Klimaschützer, die Protestierer der Startbahn West und heute die Globalisierungsgegner und die NGOs, die heute mit ihrem spezifischem Genre das Sagen haben – waren und sind die Identifikationsorgane und -zentren, auf die sogar Bundesregierung und Bundespräsident schauten und schauen.

Nicht mehr die Polizei und die Ordnungskräfte verteidigen aus Sicht des inzwischen 50 Jahre alten 68er-Mainstreams die Bürgerrechte und die Verfassung, sondern die Studenten, die Demonstranten, die Gewaltbereiten, die Protestierer und heute die Antifa standen und stehen seither – unausgesprochen oder ganz explizit – für die Bewachung und Bewahrung der Menschenrechte gerade.

Revolution – und die kam als links daher, was immer das genau war, also linke Revolution, linker Systemumsturz, linke Systemkritik – das war plötzlich nicht einfach nur „in“ und zur allgegenwärtigen Nachahmung voll im Trend, sondern es wurde zur schlechthinnigen Identifikationsgröße bis heute. Die von der Bewegung erfassten Leute identifizierten sich in den Jahrzehnten nach 68 nicht mehr mit dem Staat, sondern mit dem Verdacht gegen den Staat, mit der Verdächtigung des Staates. Statt mit der Bundesrepublik identifizierte man sich jetzt mit dem „Kampf gegen die Bundesrepublik“, mit der „permanenten Revolution“.

Da sich seit 50 Jahren der Protest doch in der Regel sehr abstrakt und sehr allgemein und seltsam umfassend und seltsam prinzipiell und dann auch noch meistens im Gefolge der Ideen der linken Denkfürsten Marx und Mao abspielt, ist die von der Justiz überbordend unterstützte Protestkultur substanziell kaum zu greifen. Sie stellt sich der inhaltlichen Frage nicht, sie bemäkelt alles und liefert selber nichts als Störfeuer.

Natürlich muss Demokratie auch Unsinn und Schwachsinn aushalten, aber das Gleichgewicht zwischen Mehrheit und Minderheit, zwischen Staat und staatsfeindlicher Verdächtigung, zwischen Demokratie und außerparlamentarischer Opposition darf nicht aus dem Lot geraten. Das ist es aber seit 50 Jahren.

Die Revolutionäre, die Protestierer, die Fingerzeiger, die Ankläger, die Forderungsteller sind die geradezu diktatorischen Immer-Rechthaber und müssen weder ihren eigenen Status, ihre Ausbildung, ihren Beruf, ihre Vergangenheit, frühere Taten und Reden, noch irgendeine Mindestqualifikation vorweisen.

Die Moral ist seit 1968 nicht mehr bei dem besten, durch das hervorragende Grundgesetz verfassten deutschen Staat, den es je gab, sondern die Moral war fortan, bis heute, bei den Systemumstürzlern, bei den Helden der APO-Zeit, bei den coolen Protestlern, bei den Linksintellektuellen, die auf der Welle der Bewegung mitschwammen, bei den Ausgeflippten, bei den Systemkritikern in Kunst und Kultur, in den Medien, aber auch in der öffentlichen Verwaltung, in der Justiz, bei den gewalttätigen linken Demonstranten, bei den „Empört euch“-Aufrufen und heute bei den Globalisierungsgegnern, bei den Hausbesetzern, den Gentrifizierungsgegnern, den Post-post-Post-Feministinnen, den EZB-Hassern und natürlich den Heerscharen, die ihren „Kampf gegen rechts“ entdeckt haben.

Der Staat kann tun und lassen, was er will, er bleibt ein bemäkelter Staat, der immer noch mehr liefern muss. Nur was? Selbst das, zumindest was die realistische Seite angeht, bleibt vollständig im Dunkeln. Und dass das offen bleibt, ist der größte Pferdefuß, den 68 in die Geschichte eingebaut hat.

Der Staat Bundesrepublik ist durch den Paradigmenwechsel 68, durch seine zerbrochene moralische Legitimation weitgehend reaktionsunfähig gemacht worden. Merkel und die Regierung waren im Sommer/Herbst 2015 nicht mehr in der Lage, obwohl anscheinend willens, die Grenzen zu schließen. Sie trauten sich nicht. Sie hatten Angst vor der heutigen „APO“, sprich vor den Medien, der Opposition, den NGOs, den Antifas und den selbst ernannten und, anders als die Regierung, demokratisch nicht legitimierten Moralaposteln und Empörten in der Gesellschaft. Siehe das Buch des Welt-Journalisten und langjährigen Merkel-Kenners Robin Alexander „Die Getriebenen“.


Bettina Röhl, „Die RAF hat Euch lieb!“ Die Bundesrepublik im Rausch von 68. Eine Familie im Zentrum der Bewegung, 640 Seiten inklusive 16 Seiten Bildteil, Heyne Verlag, 24,00 €.

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Kommentare ( 82 )

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82 Comments
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Arthas
5 Jahre her

Das Buch von Frau Röhl scheint mir eher eine müde Kritik aus dem Dunstkreis der CDU-„Konservativen“ als eine empfehlenswerte Analyse der 68er-Barbaren. Zum einen ist es nämlich schon mal falsch, die 68er in Gegnerschaft zum Staat zu setzen. Das mag in der Anfangszeit tatsächlich so gewesen sein, doch hatte man sich mit diesem auch schnell Ausgesöhnt und die Bundesrepublik als ein Werkzeug der eigenen politischen Agenda zu nutzen verstanden. Der Großteil der 68er-Bewegung richtete sich dabei im Kern ja auch nie gegen den Staat an sich, sondern gegen Deutschland als Kultur und Nation. Und genau deswegen hatte sie auch so… Mehr

Franz Gailer
5 Jahre her

Was Frau Röhl schreibt, ist ziemlich verquer.Falsch zum Teil. Rudi Dutschke war zwar Identifikationsfigur, aber allenfalls von 3 % der Deutschen, also der Studenten. Für den Rest der duetschen Bevölkerung war er egal oder verhasst. Falsch ist auch, dass die Protestideen erfolgreich in den Köpfen implementiert wurden. Die Protestideen stiessen zunächst auf Hass und Ablehnung. Es hat lange gedauert, bis ein Teil von dem , was die Studenten wollten, auf Resonanz in der Bevölkerung stiess, zum Teil einfach weil es berechtigter Protest war. Frau Röhl übersieht, dass der Kampf gegen Nazitum und autoritäres und patricharchalisches Denken ein berechtigter Kampf war,… Mehr

Monika Medel
5 Jahre her
Antworten an  Franz Gailer

Meine Erinnerung ist natürlich subjektiv, ich war damals sehr jung und habe ´68 nur am Bildschirm erlebt. Aber ich hatte dabei nicht den Eindruck dass es gegen „Nazitum und autoritäres und patriarchalisches Denken“ ging. Es ging m.W. los mit dem Protest gegen die Notstandsgesetze und dann spielte der Vietnamkrieg eine große Rolle. Etwas später – ich bekam dann mehr direkt mit – war dann Mao der große Held, und ein scheußlicher, verquaster Politsprech voll substantivierter Neolatinismen wucherte. Man plusterte sich gewaltig auf und saß auf dem moralisch hohen Ross. Gegen die Diktatur in Griechenland, gegen „Antikommunisten“ für „die Revolution“ usw.… Mehr

Antonius
5 Jahre her
Antworten an  Franz Gailer

Nachdem Sie den marx´schen Dialektischen Materialismus derart verinnerlicht haben, haben Sie sicher auch das gleiche wohlwollende Verständnis und die Sympathie für die momentan ablaufende „Gegenbewegung“!?

Johann Thiel
5 Jahre her

Würde mich freuen wieder öfter von Frau Röhl auf TE zu hören. Vielleicht mal wieder einen herzerfrischenden Artikel zu unser Bundeskanzlerin?

Johann Thiel
5 Jahre her

Die Benennung der drei Einkommensarten ist wirklich überaus treffend.

spindoctor
5 Jahre her

Ws machen eigentlich die „Friedenskundschafter“ der SED – seit sie den Kontakt zur Zentrale verloren haben?

Dieter Rose
5 Jahre her
Antworten an  spindoctor

Netzwerkdurchsetzungsgesetz,
Beraterstab der Kanzlerin,
z.b.V.,
usä.

berndi
5 Jahre her
Antworten an  spindoctor

Kahanes private Sturmabteilung stellen.

Peter Panther
5 Jahre her

Ich denke es ist korrekt, die Medien mit der Agenda der Apo zu identifizieren. Nur: laut der Thesen etwa von Thorsten Schulte oder auch Frau Höhler könnte es sein, daß die Grenzöffnung von Frau Merkel weniger ein Einknicken war, sondern vielleicht sogar in ihrem Sinne. Es spielt auch keine Rolle, was Frau Merkel dachte, ich finde diese Person wird viel zu wichtig genommen. Entscheidend ist daß die Grenzöffnung der EU-Agenda entspricht, Stichwort resettlement. Ich glaube die Blindheit von Eurokraten in Kombination mit dem Schuldkomplex der Linken auf Seiten der Journalisten gingen sozusagen konform. Neben dem Schuldkomplex nicht zu vergessen die… Mehr

Zweifler
5 Jahre her

Frau Röhl, ich finde Ihre Art zu schreiben wirklich gut. Auch die Kraftausdrücke kann ich gut verstehen, das bringt etwas Schwung in die trockene Thematik. Insgesamt kann ich Ihnen bei Ihrer Argumentation sehr gut folgen. Nur der Abschluss, den will ich nicht glauben. Die Theorie, nach der die deutschen Staatenlenker von der Presse getrieben werden und bei der bloßen Vorstellung eines vernichtenden Urteils panisch nach Luft schnappen müssen, diese Theorie will ich nicht glauben. Sie klingt zwar logisch und kann objektiv nicht bestritten werden, aber lieber glaube ich, dass der Staat von Tölpeln regiert wird, als das ich akzeptieren könnte,… Mehr

Bernd Schreller
5 Jahre her
Antworten an  Zweifler

Beides ist ebenso falsch (mMn)

Rainer Franzolet
5 Jahre her

Ich frage mich jeden Tag, wie die Medienleute auf die Idee kommen, dass es der deutschen Bevölkerung so gut gehe? Wo ich hinsehe, sehe ich überforderte kranke Leute. Selbst die früher wenig geforderte Kaste der Rumsitzer im ÖD wurde in weiten Teilen an die Arbeit gebracht und stöhnt wegen Überlastung. 8 Mill. Arbeitslose. Millionen von Aufstockern. Minirenten. Auflösung des Angesparten. Marode Straßen, Schulen, Brücken. Die Kriminalität explodiert förmlich. Selbstverständlichkeiten wie im Park spazieren gehen oder in´s Schwimmbad wird zur abenteuerlichen Herausforderung. Wer zu den Besserverdienenden gehört und nachrechnet, dem Bleiben am Ende noch 20% seines Bruttoverdienstes, wenn er mal alle… Mehr

Franzkeks
5 Jahre her
Antworten an  Rainer Franzolet

1,6 Millionen offene Stellen, 2% Inflation, Milliarden Euro Überschüsse im Staatshaushalt, bei der Renten- und Krankenversicherung, 60 Millionen Flugbuchungen. Solche Probleme will die übrige Welt haben!!

Zweifler
5 Jahre her
Antworten an  Franzkeks

6 Millionen Sozialhilfeempfänger (Hartz IV), davon 2 Millionen ohne europäischen Pass (aber natürlich nur 2,5 Mio Arbeitslose). Stagnierende Reallöhne 2017, Weltspitze bei der Steuern und Abgabenlast laut OECD. Uns geht es klasse!/s

Peter Panther
5 Jahre her
Antworten an  Zweifler

Es wäre noch zu ergänzen, daß wir hinsichtlich Meridiansparvermögen laut der letzten EZB-Studien noch hinter Griechenland rangieren. Denn den Meridian kann man nicht wie den Durchschnitt durch die unbestreitbaren Vermögensmaxima in Deutschland schönrechnen. Also Kaufkraft bei den unteren 50% nach europäischen Maßstäben Armenhausniveau.

margit kaestner
5 Jahre her
Antworten an  Zweifler

empfehlenswert dazu der Beitrag bei YOU Tube
PROF: STEFAN SELL WDR: vom 11. o5.2016

Berndi
5 Jahre her
Antworten an  Franzkeks

Da freut sich der Gerd, seine Zahlenspielerei geht bei dem einen oder anderen einfachen Geist auf. ABM und Aufstockerjobs, also Arbeitslosenhilfe+, und schon findet sich ein Genie, welches das als grandiosen Zustand verkaufen will.

Johann Thiel
5 Jahre her
Antworten an  Franzkeks

Muß ich erst den Hasen holen?

Frank Stefan
5 Jahre her

In jedem Staat gibt es unterschiedliche, oft gegenläufige Meinungen, die zu Bewegungen werden. Auf diese Bewegungen setzen dann die unterschiedlichsten Spieler ihre Jetons, Politiker, Medien, Konzerne. Derzeit gibt der Croupier bekannt: „Rot gewinnt!“ und alle am Tisch, die „richtig“ gesetzt haben, jubeln. Ob die Jeton-Setzer an „Rot“ wirklich glauben? Ich meine, das tun sie nur selten, sofern sie Profi-Spieler sind: sie glauben an das Spiel, nur die Trottel unter den Spielern glauben an ein „System“ im Spiel. Und schon heißt es wieder „faites vos jeux!“, alles setzt eifrig, die einen nochmal auf Rot, die anderen auf was anderes und ab… Mehr

Tomsen
5 Jahre her

Es ist schön, nach längerer Zeit wieder von Ihnen etwas zu lesen zu können. Habe Sie schon vermisst