Tichys Einblick
Der Fall Indi Gregory

Zivilisationsbruch im Namen des Kindeswohls

Ein achtmonatiges Mädchen wird Opfer einer Ideologie, die den Menschen auf seine materielle Existenz reduziert. Das britische Gesundheitssystem erachtet das Leben von Indi Gregory nicht als lebenswert. Obwohl Italien die Kosten übernehmen will, verurteilen die Richter das Kind de facto zum Tod.

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Ist der Wert eines Lebens ermittelbar anhand seiner Dauer oder seiner Annehmlichkeiten? Wohl kaum: Auch ein kurzes Leben kann voller Liebe sein, auch ein schmerzerfülltes voller Sinn. Dies jedenfalls ist ein eherner Grundsatz des europäischen Wertegerüsts: Die Achtung vor dem menschlichen Leben in jeder Gestalt. Diese Grundlage jedoch wird angegriffen, nicht zuletzt von einem Menschenbild, das von Technokratie und Utilitarismus geprägt ist, das den Menschen auf seine Funktion und seine materielle Existenz reduziert.

Das jüngste Opfer dieser Ideologie ist Indi Gregory: Das acht Monate alte Mädchen starb in der Nacht zum Montag, nachdem lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt worden waren. Indi, bereits vorgeburtlich mit einem Herzfehler diagnostiziert, litt an unheilbaren genetisch bedingten Krankheiten. Die behandelnden Ärzte im Krankenhaus Nottingham waren der Ansicht, dass eine Fortführung der Behandlung nicht zu rechtfertigen sei. Die Eltern waren anderer Meinung, und so befand Ende Oktober der High Court in London endgültig, dass Indi nicht weiter behandelt werden solle, und dass die lebenserhaltenden Maßnahmen beendet würden.

— Birgit Kelle (@Birgit_Kelle) November 9, 2023

Oberflächlich betrachtet ein trauriger, aber unumgänglicher Fall: Klammern sich Eltern nicht häufig bis zuletzt an irrationale Hoffnungen? Hat man hier nicht womöglich unnötiges Leid verhindert?

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Behandlung ist berechtigt, und für Nichtmediziner schwierig zu beurteilen. Darum geht es aber nur vordergründig. Indi fiel nicht ihrer Krankheit zum Opfer, sondern einem Machtkampf. Denn die Eltern standen nicht allein: In einem Eilverfahren hatte Italien dem Kind die italienische Staatsbürgerschaft verliehen. So hätte es nach Rom verlegt werden können, wo die renommierte päpstliche Kinderklinik Indi weiterbehandeln wollte. Das Krankenhaus verfügt über eine Palliativstation, hätte also auch beim Scheitern der Therapie bestmögliche Pflege bis zum Tod bieten können.

Dem britischen Gesundheitssystem und der britischen Justiz hätte man es also leicht gemacht, sich der Kosten und der Verantwortung zu entledigen. Ein bequemer Ausweg auf materieller und ideeller Ebene, der zudem den Wünschen der Eltern entsprochen und jede noch so kleine Chance genutzt hätte. Damit verbunden gewesen wäre allerdings das Eingeständnis, dass die eigene Einschätzung fehlbar ist: Ärzte sind nicht allwissend; der zuständige Richter hätte mit einem Einlenken zu verstehen gegeben, dass er sich unrechtmäßig zum Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen hatte. Doch statt die Begrenztheit des eigenen Urteilsvermögens anzuerkennen, nimmt man lieber den vorzeitigen Tod eines Kindes in Kauf. Der Zynismus, der aus der Urteilsbegründung spricht, ist bitter: Der Transport des Kindes wird dort als gefährlicher eingestuft als die indirekte sofortige Tötung. So wird der Unwille, Italiens Hilfe anzunehmen, als Sorge um das Kindeswohl getarnt. Tod statt Hilfe. Den Leidenden beseitigen, statt anzuerkennen, dass wir nicht allmächtig sind: Die Logik einer Kultur des Todes. Ihren Höhepunkt findet sie darin, dass selbst die letzte bescheidene Bitte der Eltern abgelehnt wird: Das Kind wenigstens zuhause sterben lassen zu dürfen. Blanker Hohn, wenn man bedenkt, welche Tortur Familien durchleben, wenn Babys die ersten Lebensmonate auf der Intensivstation verbringen müssen. Nicht einmal das Lebensende in der Intimität der eigenen Wohnung erleben zu dürfen, ist eine Zumutung. Solche Willkür und Unmenschlichkeit belegt, dass das Kindeswohl hier nicht die geringste Rolle spielt.

Urteilsbegründungen sind generell ein undankbarer Lesestoff. Hier bereiten sie dem Leser Gänsehaut. Da sind zwar schon im erstinstanzlichen Urteil emotionale Worte, mit denen Robert Peel, der mit dem Fall betraute Richter, eingangs das Leid der Eltern und die unheilbaren Krankheiten des Kindes schildert. Sie stehen jedoch in brutalem Kontrast zu den Schlüssen, die er daraus zieht: Es sei nicht „in the best interest“, im „(besten) Interesse“ des Kindes, die Behandlung fortzuführen. Er folgt damit der Ansicht des National Health Service, demzufolge „keine feststellbare Lebensqualität“ vorläge. Kurz: Der NHS betrachtet Indis Leben als nicht lebenswert. Bilder, die die Interaktion der Eltern mit ihrem Kind zeigen, sprechen eine andere Sprache – aber in der technokratischen Welt des NHS existieren Liebe, Zuwendung, Nähe schlichtweg nicht. Ein Richter befindet hier, dass die liebende Umarmung einer Mutter keine Lebensqualität konstituiert, weil die Ärzte eines Krankenhauses darin keine Bedeutung sehen. Was hier vorgeblich verständnisvoll dargelegt wird, ist nichts weniger als ein Zivilisationsbruch, eine Wirklichkeit gewordene Dystopie.

Ein Albtraum nicht nur für die Eltern, sondern für jeden liberalen, jeden demokratischen Menschen, für jeden, dem europäische Werte etwas bedeuten. Indi ist kein Einzelfall: Der britische Gesundheitsdienst hat sich im Verein mit der Justiz als notorischer Feind schwerstkranker Kinder erwiesen. Archie, Charlie, Alfie, das sind nur einige Opfer eines inhumanen „Gesundheits“dienstes. Nur selten haben die Eltern Erfolg – wie im Fall von Tafida Raqeeb. Das Mädchen konnte nach Italien gebracht werden, obgleich Londoner Ärzte 2019 davon überzeugt waren, dass ihr Leben wertlos sei. Mittlerweile äußerte die Mutter die Hoffnung, ihr Kind nach nurmehr vier Jahren bald nachhause holen zu können. Der Beweggrund, dem Wunsch der Eltern nach Weiterbehandlung stattzugeben, war hier der muslimische Glaube der Eltern: Es ist ein Grund zur Freude, dass der Angriff der Ärzte auf Tafidas Leben abgewehrt werden konnte. Aber vielsagend ist auch, dass die Eltern auf einen religiösen Minderheiten- und Opferstatus rekurrieren mussten, um Recht zu bekommen, das auch christlichen und nichtgläubigen Eltern zusteht. Hier zeigt sich eine offene Voreingenommenheit der britischen Justiz, die man nur als besorgniserregend bezeichnen kann.

Großbritannien ist das Mutterland des Liberalismus, und damit einer Haltung, die wir als genuin europäisch verstehen. Gerade in der wiederaufflammenden Wertedebatte ist Indis Tod daher ein warnendes Menetekel: „Freiheitlichkeit“ reicht nicht aus, um die Seele Europas, um Europas Kinder und Europas Zukunft zu retten. Auch liberale Werte münden letztlich in Autoritarismus, wenn sie nicht in einer objektiven Wahrheit wurzeln. Deren sichtbarstes Zeichen ist die bedingungslose Achtung vor dem Leben. Die Bedrohung der Freiheit hat viele Gesichter. Die Kultur des Todes hat viele Fratzen.

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