Scholz und die EU bitten Draghi zu bleiben

Der Mittwoch gilt als Tag der Entscheidung im italienischen Parlament – dann will Draghi sich erklären. Die „Kaste“ in Italien und der EU versuchen ihn mit allen Mitteln zum Bleiben zu überreden. Präsident Mattarella hintertreibt Neuwahlen, um die "Rechten" aufzuhalten.

IMAGO / Frank Ossenbrink

Wahlen könnten die Demokratie gefährden. Das scheint der unerklärte Wahlspruch der aktuellen italienischen Legislaturperiode zu sein. Lieber versuchen die Verantwortlichen, das vierte italienische Kabinett in vier Jahren einzurichten, als dem rechten Lager, dass bereits 2018 die relative Mehrheit der Stimmen gewann, die Möglichkeit einer Regierungsübernahme nach Neuwahlen einzuräumen.

Nicht anders kann man es interpretieren, wenn in wenigen Tagen gleich mehrere ausländische Regierungsoberhäupter auf Mario Draghi einwirken wollen. Nachdem Draghi seinen Rücktritt als italienischer Premierminister ankündigte, riefen sowohl der französische Präsident Macron als auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im Palazzo Chigi an. Sie wollten auf den Ex-EZB-Chef einwirken, doch noch auf seinem Stuhl zu bleiben – so berichtet es zumindest die Tageszeitung Repubblica. Zu diesem Kreis gehöre auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

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Aus dem Vatikan kamen ungewöhnlich deutliche Worte. Kardinalsstaatssekretär Pietro Parolin rief dazu auf, weiterhin „zusammenzuarbeiten“ und appellierte daran, dass die Exekutive ihrer Verantwortung gerecht werden müsse. Man sei mit einer Energie- und Lebensmittelkrise konfrontiert. Insbesondere unter dem zweiten Kabinett von Giuseppe Conte hatte die italienische Regierung intensive Unterstützung aus der Kurie erhalten. Parolin galt damals als Graue Eminenz.

Indes wendeten sich in einem Aufruf mehrere Bürgermeister italienischer Großstädte an den Noch-Ministerpräsidenten, darunter Roberto Gualtieri aus Rom und Beppe Sala aus Mailand. Sie baten Draghi, sein Amt weiterzuführen. Augenfällig: es handelt sich vornehmlich um Bürgermeister, die dem linken Partito Democratico (PD) angehören. Der hatte vor Draghis Rücktrittsankündigung den Mund besonders vollgenommen: wenn Draghi zurücktrete, müsse man wieder an die Urne gehen. Nun hat man Angst vor der eigenen Courage.

Denn die ganze angestimmte Oper hat vor allem den Zweck, den parteipolitischen Gegner über Draghi-Belobungen von der Macht fernzuhalten. Denn bei keiner Regierungskrise der letzten drei Jahre waren Neuwahlen so wahrscheinlich wie jetzt. Neben der EU und den linken Parteien galt dabei vor allem einer als der größte Hintertreiber: Sergio Mattarella.

Der Staatspräsident versucht seit Beginn der Legislatur diese mit Biegen und Brechen bis zum Ende zu führen. Zwar hat die Lega in den Umfragen verloren und die „rechte Gefahr“, die von Salvini ausgeht, scheint gebannt. Doch gleichzeitig hat die „rechte Gefahr“, die von Meloni und ihren „Brüder Italiens“ (FdI) ausgeht, umso beständiger zugenommen. Mehrmals betonte er gegenüber Draghi, dass er dessen Rücktrittsangebot nicht annehmen werde. Doch es scheint, dass dieser Druck auf den Euro-Hüter erst recht zu dessen Widerborstigkeit führt. Ein ehemaliger EZB-Chef, der nur zu bestimmten Konzessionen den Schleudersitz des Premierministers übernehmen wollte, lässt sich nicht einfach herumkommandieren.

Regierungskrise in Italien
Draghi kündigt seinen Rücktritt an
Die Angst vor dem sonst in Italien alles andere als ungewöhnlichem Regierungssturz samt Neuwahlen besteht seit der Wahl 2018. Schon damals lief es nicht so, wie man es sich vonseiten der Kaste gewünscht hatte. Obwohl das italienische Parlament seit Beginn an als „unregierbar“ galt, bildete sich zur Überraschung vieler mit der „Populistenkoalition“ aus Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und der Lega Nord ein Bündnis.

Diese in der Legislatur einzige vom Bürger legitimierte Konstellation gereichte damals bereits zu Ärger. Luigi Di Maio (M5S) und Matteo Salvini (Lega) kamen Staatspräsident Mattarella wohl nur Tage zuvor, bevor dieser eine technokratische Regierung zusammenzimmern konnte. Insbesondere die EU-kritischen Töne beider Parteien waren dem politischen juste milieu ein Dorn im Auge. Die Parteien rotteten sich zusammen, bevor das Establishment vollendete Tatsachen schaffen konnten.

Der Bruch der gelb-grünen Koalition durch Salvini im Spätsommer 2019 geschah nicht zuletzt, um von Neuwahlen zu profitieren, und den konservativen Parteien eine klare Mehrheit im Parlament zu verschaffen. Doch Salvini hatte nicht mit dem Opportunismus der Anti-Establishment Sterne gerechnet, die plötzlich mit der „casta“ paktierten und dem linken Partito Democratico (PD) zurück zur Macht verhalfen.

Giuseppe Conte blieb als Premier im Amt – und auch damals bevorzugten es Mattarella, ein unregierbares Parlament mit zerstrittenen Koalitionspartnern auszuhalten, statt reinen Tisch zu machen. Die Sterne drohten zu verblassen, die Lega stärkste Kraft zu werden – und damit jene „Rechten“, die man innerhalb wie außerhalb Italiens zu den Widergängern Mussolinis stilisierte. Dabei knirschte es zwischen M5S und PD mindestens so häufig wie mit der Lega – womöglich sogar mehr.

Conte gegen Draghi
Die 5 Sterne stürzen Italien in die Regierungskrise
Zum Jahresbeginn 2021 dann die nächste Krise. Conte ist nicht zu retten. Wieder einmal müssen Wahlen und damit klare Verhältnisse vermieden werden – ein Wahlgang in Zeiten von Corona erscheint „unverantwortlich“. Mit der Regierung der „Nationalen Einheit“ kommt Draghi an die Macht – mit einem semi-technokratischen Kabinett. Außer Draghi sind weiterhin Parteipolitiker in Ministerämtern. Der PD, von dem sich Matteo Renzi mit einigen Verschwörern abgespaltet hat, ist nach seiner Schwächung froh, nicht an der Wahlurne abgewatscht zu werden.

Die aktuelle Krise wirkt daher in vielen Facetten wie eine Neuauflage der letzten. Doch nach Jahren des Koalitionsgeschachers, der Spaltungen und der Einwirkungen – Wählerwille oder die Souveränität des Bürgers spielen offenbar schon lange keine Rolle mehr – übernehmen die Ermüdungserscheinungen. Mit Draghi hat sich die italienische Politik einen Außenseiter geholt, der keine Ambitionen darauf hat, sein Amt wie ein Löwe zu verteidigen und den die Idee antreibt, es irgendwann wieder zurückzuerobern.

Die italienische Partitokratie, die linke Kaste, die anderen europäischen Länder und die EU flehen Draghi an zu bleiben. Denn offenbar ist bekannt, dass es keinen Plan B gibt. Wer soll nach den verschiedenen Koalitionen und den Zerwürfnissen noch zusammenarbeiten? Verträgt Italien noch eine Übergangsregierung? Man klammert sich an der Hoffnung auf ein „Draghi-bis“, also ein Draghi-Kabinett mit anderen Mehrheiten. Der Verzweiflungsschrei wird lauter, weil kein erlösender Bejahungsruf kam.

Und Draghi selbst? „Es gibt gute Gründe zu gehen und es gibt gute Gründe zu bleiben“, lauteten die sphinxgleichen Worte aus dem Regierungssitz zum Wochenende. Das kann man als Unverbindlichkeit deuten – oder als Methode, um den Preis höher zu treiben. Dass jemand zur Macht getragen werden will, ist ein Novum für die römische Politik.

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Kommentare ( 21 )

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Metric
1 Jahr her

Lieber Herr Gallina, die Erkenntnis dämmert im letzten Absatz: Natürlich will Draghi den Preis erhöhen. Er spielt mitnichten eine „passive Rolle“, sondern hat die Krise inszeniert (er könnte ja einfach auf die 5S verzichten), um Sonderkonditionen zu bekommen und damit, mit Mattarellas Unterstützung, vom lästigen Parlament unabhängig zu werden. Der Trick ist uralt, von Cäsar bis Senator Palpatine, wenn man eine Demokratie abschaffen möchte.

Schonclode
1 Jahr her

Es geht wohl auch die Angst um, dass Italien oder Spanien zahlungsunfähig werden. Es geht auch um Deutschland.
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/233148/umfrage/target2-salden-der-euro-laender/
Die Summe muss man sich einmal vorstellen, die Target 2 Salden betragen nur für Deutschland 1148 Milliarden als Geberland.

Flavius Rex
1 Jahr her

Mattarella wurde doch mit den stimmen der Lega wiedergewählt, wenn ich mich richtig erinnere.

Warum die ihren Todfeind im Amt hielten wird wohl auf immer ihr Geheimnis bleiben. Vielleicht ist diese Inkohärenz auch ein Grund dafür, dass die Lega Zuspruch verliert.

Hoffen kann man nur, dass es zu Neuwahlen und einer rationalen regierung kommt, die die kriminellen Sanktionen gegen die Bürger Europas sofort beendet.

alter weisser Mann
1 Jahr her

Ob er nun oder ob er nun nicht gemäß oder entgegen seiner Ankündigung zurücktritt oder nicht zurücktritt. Es geht in Italien auch bloß nicht anders weiter als zuvor.
Aber mit ordentlich Geld aus der EU geht das schon noch ein Weile.

DiasporaDeutscher
1 Jahr her

Bei Italien habe ich immer Angst, dass der Ausweg aus der Regierungskrise darin besteht, dass Deutschland zahlt. Keine andere Sprache der Welt hat einen positiv konnotierten Ausdruck dafür, sich auf Kosten anderer betrügerisch zu bereichern: fare il furbo. Italien weiß genau, welcher Depp (stronzo) nördlich der Alpen ihnen ihren großzügigen Sozialstaat finanziert, damit der dreimal höhere italienische Haushaltswohlstand (im Vergleich zu Deutschland) nicht angetastet werden muss. Andere mögen mit selbstzerstörerischen Sanktionen ihr Land in den Abgrund treiben. Du, glückliches Italien, fai il furbo ?

Last edited 1 Jahr her by DiasporaDeutscher
Fulbert
1 Jahr her

Es wird der Tag kommen, an dem die EU-Kommission Wahlen in einem EU-Land verhindert oder nach unverzeihlichen Ergebnissen für ungültig erklärt, um dann eine geschäftsführende Regierung nach Gusto von Brüssel zu installieren – oder das betreffende Land gleich unter Aufsicht der EU-Behörden zu stellen.

Wilhelm Roepke
1 Jahr her

Der Ansturm der Flüchtlinge aus Afrika sorgt alleine schon dafür, dass Italien nach rechts rücken wird im Laufe der Zeit. Ob Draghi jetzt geht oder nicht ist egal: der margin call ist da.

doncorleone46
1 Jahr her

Draghi, A. Merkel Macron und v.d. Leyen haben das Projekt EU mit vollem Bewusstsein an die Wand gefahren. Die EU wird nicht überleben – was ich sehr begrüßen würde.

EinBuerger
1 Jahr her

Das ist eben Europa. Mich erinnert Europa immer mehr an die Arabische Liga (gibt es die eigentlich noch?) von früher. Immer große Sprüche: Über den Sieg gegen Israel, den Sieg gegen den westlichen Imperialismus. Aber nie nie irgendetwas zu Wege gebracht. Niemals.
Genau wie Europa. Außer großer Sprüche nie etwas geschafft. Sich von Krise zu Krise schleppend. Immer mit dem Weltrettungsanspruch. Und tollen Projekten, die Europa jetzt endlich voranbringen. Jetzt wird es wirklich klappen. Ganz ganz ehrlich.

abel
1 Jahr her

Erst wenn politisch unabhängige Verfassungsgerichte in den Ländern Europas existieren würden könnte man von Demokratie reden. Es läuft doch eher so ab daß die Grundrechte der Bürger mehr und mehr abgeschafft werden und die obersten Gerichte geben den Politikern den Segen dazu.