Mitsotakis in Straßburg: Jedes EU-Mitglied hat das Recht, seine Grenzen zu schützen

Die illegale Migration in die EU wächst rasant. Umso paradoxer ist, dass wiederum die Grenzschützer in der EU am Pranger stehen. Nach Ungarn und Litauen nun wieder Griechenland: Das Land solle von „Pushbacks“ Abstand nehmen, wenn es nach Ylva Johansson geht.

IMAGO / PanoramiC
Die Nachrichten sind übereinstimmend: In der Ägäis ebenso wie in Ungarn, Österreich und Deutschland kamen im ersten Halbjahr 2022 deutlich mehr Migranten an als im gleichen Zeitraum des letzten Jahres. Viele versuchen, die Land- und Seegrenzen illegal zu überschreiten, etliche schaffen es. Letztlich werden vor allem die wohlhabenden Länder Mittel- und Westeuropas von dieser Migrationswelle belastet. Und dennoch gibt es in vielen Medien und in Teilen der Politik eine weitverbreitete Agitation, die nur eine Richtung kennt: Noch mehr illegale Zuwanderung erlauben.

So kam vor kurzem eine journalistische Recherche ans Licht der Welt, die angeblich einen doppelten Beweis erbachte. Durch die Befragungen von sechs Migranten sahen der Spiegel, ein ARD-Magazin und einige Zeitungen sich in der Annahme bestärkt, dass es an der griechisch-türkischen Grenze Zurückweisungen von illegalen Migranten gebe, die Spiegel und Konsorten meist als „illegale Pushbacks“ bezeichnen (TE berichtete). Gestützt sind diese Aussagen auf die Angaben von sechs Migranten, die daneben behaupten, dass sie von griechischen Grenzschützern als „Sklaven“ eingesetzt wurden, um ebendiese (angeblich illegalen) Zurückweisungen durchzuführen.

Erstaunlich ist zunächst der weitgehende Gebrauch des Wortes „illegal“. Nach traditioneller Lesart bedeutet das Wort, dass es ein staatliches Gesetz gegen eine bestimmte Handlungsweise gibt und dieselbe damit außerhalb des Rechtmäßigen steht. Nun gäbe es also „illegale“ Staatshandlungen – gemäß einem freischwebenden, supranationalen Recht, das die Staaten selbst durch die Unterzeichnung internationale Konventionen gewissermaßen „ermutigt“ haben. Dennoch ist der Buchstabe, etwa der Genfer Flüchtlingskonvention und ihrer Zusätze, genau auszulegen. Das tun die Kritiker meist nicht.

Athen: Geringe Qualität der Berichte

Außerdem gibt es für beide Behauptungen der Rechercheure – bis auf die Aussagen der Migranten selbst – keine stichhaltigen Beweise. Bei früheren Veröffentlichungen, die in dieselbe Richtung gingen, hatten die griechischen Ministerien für Bürgerschutz und Migration die geringe „Qualität des Berichts“ beklagt und die geführten Interviews als wenig verlässlich erachtet. Bei den geschilderten Vorfällen handle es sich, soweit sie der Wahrheit entsprechen, vermutlich um „Zusammenstöße und Abrechnungen“ zwischen verschiedenen Schlepperringen. Weder die griechischen Behörden noch die EU-Grenzschutzagentur Frontex wendeten derartige Mittel an.

Der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis, der sich dieser Tage im Straßburger EU-Parlament befragen ließ, verwies die niederländische Abgeordnete Tineke Strik (Groenlinks) außerdem auf die griechische Anti-Korruptions-Stelle, die alle derartigen Vorwürfe untersuchen würde. Daneben stellte er fest: „Ich würde daneben allerdings gerne bemerken, dass jedes EU-Mitglied das Recht hat, seine Grenzen zu schützen, mit absolutem Respekt vor den Grundrechten.“

Die Niederländerin hatte weniger eine Frage gestellt als eine Anklage in mehreren Punkten verlesen. Griechenland trample auf den Rechten von Migranten herum, es bringe Kritiker medial zum Schweigen, schließe „die menschlichsten Lager“, um geschlossene Einrichtungen an ihre Stelle zu setzen. Am Ende werde die Wahrheit jedoch dank der UN, dem Europarat, NGOs und investigativen Journalisten ans Licht kommen. Mitsotakis sollte auf ihre Vorwürfe im Detail eingehen. Unter anderem hielt er die ersten Seiten zweier Tageszeitungen hoch, auf denen er unter anderem als „Lügner“ betitelt wurde. Eine freie Presse scheint es in Griechenland also zu geben.

Diese Befragung ist ja überhaupt ein Ritual, das sich die EU-Parlamentarier von den nationalen Parlamenten abgeschaut haben, bei dem aber fraglich bleibt, welchen (rechtlichen) Status der Vorgang haben soll. Denn der griechische Premierminister ist natürlich nur dem griechischen Volk und dem von ihm gewählten Parlament verpflichtet.

Johansson: Asylsystem bis zum 1. September überholen

Schiffahrtsminister Jannis Plakiotakis sagte jüngst gegenüber dem Fernsehsender Skai, dass keine der Beschwerden wegen der Zurückweisungen bisher „auf nationaler oder europäischer Ebene“ bestätigt wurde. Griechenland will allein in diesem Jahr 15.000 Migranten auf legale Weise am Übersetzen auf die griechischen Inseln gehindert haben. In der letzten Woche wurden laut dem Bürgerschutzminister 1.200 illegale Migranten festgenommen, daneben 38 Schlepper und 313 Rauschgift-Schmuggler – ein weiteres heißes Thema zwischen Griechenland und der Türkei.

Nimmt man das Festland hinzu, dann sprechen die Behörden von mehr als 40.000 Zurückweisungen in diesem Jahr, die man in Athen offenbar nicht als „illegal“ ansieht, sonst würde man die Zahl kaum öffentlich machen. Außerdem werden gerade durch den wirksamen Schutz der Landesgrenzen Menschenleben gerettet, so die Auffassung der griechischen Regierung, nicht zuletzt weil Migranten und ihre Schlepper von weiteren Versuchen abgehalten werden. Einsichtig und polizeilich geboten scheint, dass ihnen dazu die Arbeitsmittel (Boote, Motoren, Smartphones, Geld) abgenommen werden. Zur Erinnerung: Griechenland betrachtet die Überfahrten als Verstoß gegen die nationalen Gesetze.

Doch solche Formalien scheinen nichts für Ylva Johansson zu sein, die linke Sozialdemokratin und EU-Innenkommissarin. Ende Juni hatte sie sich mit drei Ministern aus Mitsotakis’ Kabinett getroffen, denen sie erneut einen ernsten Verweis in Sachen „Pushbacks“ mit auf den Weg gab. Schon einmal wollte Johansson den Griechen deswegen Mittel für die Küstenwache streichen. Das war ironisch: Die Küstenschützer, die die europäischen Gesellschaft vor der illegalen Massenmigration bewahren, hätten keinen Anspruch auf Mittel aus der EU-Kasse. Nun setzt Johansson erneut an: Den Ministern Takis Theodorikakos (Bürgerschutz), Jannis Plakiotakis (Schiffahrt und Inseln) und Georgios Jerapetritis (Staatsminister ohne Geschäftsbereich und Nestor der Regierung) teilte sie mit, dass die „Pushbacks“ vor griechischen Küsten aufhören müssten. Die drei Griechen gelobten denn auch, das griechische Asylsystem bis zum 1. September zu überholen – um die Grundrechte der Migranten besser darin zu verankern.

Eine unangenehme Verpflichtung mehr für die griechischen Fachminister. Athen wird sich vermutlich auch weiter darum bemühen, die EU-Forderungen nach „Grundrechten für Migranten“ mit den eigenen Vorstellungen zum Grenzschutz zu vereinen. Vielleicht kann Griechenland die Brüsseler Daumenschrauben dadurch so weit lockern, dass sie nicht mehr drücken. Eine grundsätzliche Lösung des zugrundeliegenden Konflikts zwischen einer Vielzahl von Mitgliedstaaten und der Brüsseler EU-Zentrale wäre sinnvoller.

Mitsotakis: Sprechen Sie lieber von Push-Forwards der Türkei

Tatsächlich hatten die drei Zentralorgane der Europäischen Union (Kommission, EU-Parlament, EuGH) während der vergangenen zehn Tage einen Lauf – nicht des Erfolgs, sondern der Absagen und des Konflikts, und das im Umgang mit drei Mitgliedsländern, die in ähnlicher Weise von der illegalen Migration betroffen sind: Erst weigerte sich das kleine Litauen, einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu folgen. Innenministerin Agnė Bilotaitė will die Grenzen des Landes auch weiterhin schützen, auch wenn die Luxemburger Richter das als Praxis der „Pushbacks“ ansehen. Das war Ende letzter Woche.

Am Montag wählte der ungarische Außenminister Péter Szijjártó mutige Worte an der Grenze zu Serbien, die zudem eine EU-Außengrenze ist. Er warf der Kommission implizit vor, sie bewege „Migranten dazu, die Souveränität von Ländern wie Serbien und Ungarn zu verletzen“, stifte sie insofern zu illegalen Akten, zu Verbrechen an. Szijjártó formulierte all das als Aufforderung: „bitte tut X und Y nicht mehr“, woraus nach jeder Logik hervorgeht, dass dieses X und Y bis heute immer wieder vollführt wird.

Am Dienstag war schließlich der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis mit seinen Straßburger Antworten dran. Den Kampf seiner Regierung gegen die illegale Migration erzählte Mitsotakis dabei als Erfolgsgeschichte: „Wir haben Schleppernetzwerke aufgelöst, die die Verzweiflung von schwachen und traumatisierten Menschen ausgebeutet und sie zu einer sehr gefährlichen Reise ermutigt haben.“ Außerdem solle Frau Strik statt von „Pushbacks“ (der Griechen) lieber von „Push-Forwards“ sprechen. Diese Worte zielen auf die Türkei ab, die nicht nur in Griechenland, sondern auch an der grünen Grenze in Zypern eine beträchtliche Zahl an illegalen Migranten dem jeweiligen Nachbarn „hinüberschiebt“.

Griechische Lager wieder in der Hand des Staates

Mitsotakis mag hier nicht an einen „Kontrollverlust“ der türkischen Behörden glauben: „Wenn ein Boot mit 100 oder 200 Menschen an Bord einen türkischen Hafen verlässt, dann halte ich es für naiv, wenn jemand glaubt, dass dies in Unwissenheit der türkischen Behörden geschieht.“ Schon im März 2020 habe die Türkei das Migrationsthema instrumentalisiert. Erdogan habe die „Regeln dieses Spiels“ geschrieben, die später auch Alexander Lukaschenko an der weißrussisch-polnischen Grenze befolgte. Man solle, so bat Mitsotakis dann schon inständig, in diesen sensiblen Fragen nicht einfach die türkische Propaganda nachplappern, die eben behaupte, dass die Türkei keine Rolle bei diesem Geschehen spiele, während Griechenland sich „unmenschlich“ verhalte und „Grundrechte“ verletze.

Auch was die Unterbringung von Asylbewerbern angeht, gab Mitsotakis in Straßburg Entwarnung: „Fahren Sie einmal nach Samos oder Chios. Sie werden hochmoderne Aufnahmeeinrichtungen sehen, die von der EU bezuschusst wurden und nichts mehr mit der Schande von Moria zu tun haben.“ Das Lager von Moria sei übrigens von der vorausgegangenen radikal-linken Regierung geschaffen worden, die laut Mitsotakis als „sehr ‚sensibel‘ in Fragen der Menschenrechte“ galt. Übrigens hatte Mitsotakis selbst während des Wahlkampfs von 2019 verschiedene Lager besucht und die von der Syriza-Regierung angerichteten unhaltbaren Zustände angeklagt: „Diese Realität existiert nicht mehr“, sagte er nun an Tineke Strik gewandt.

Gerade erst hat Migrationsminister Notis Mitarakis das neue Aufnahmezentrum von Samos einer Vertreterin der US-Regierung gezeigt. Griechenland muss sich in dieser Hinsicht nicht verstecken. Einige sprachen sogar von Luxus für die Migranten, aber entscheidend ist zunächst, dass die neuen Zentren vom griechischen Staat gehandhabt werden und so ein weiteres Feld für NGO-Wildwuchs gesperrt ist.

— Νότης Μηταράκης – Notis Mitarachi (@nmitarakis) June 29, 2022

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