Libanon: Der Zorn gegen Regierung und Hisbollah

Nach der gigantischen Detonation im Hafen von Beirut ist ein gewaltiger Aufstand in dem Land losgebrochen. Das Volk rebelliert gegen jahrzehntelange Misswirtschaft und Korruption einer kleinen Elite, die sich offenbar um vieles sorgte, nur nicht um das Wohlergehen der Bürger.

imago Images/Itar-Tass

Die Explosion von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut hat ein riesiges Loch von 43 Metern Tiefe in das Hafengelände gerissen und eine gewaltige Druckwelle ausgelöst, die Häuser zertrümmerte und die Menschen darin durch den Raum schleuderte. Laut dem amerikanischen Institut für Geophysik (Virginia) war es wie ein Erdbeben der Stärke 3,3. Noch im 200 km entfernten Zypern soll man die Detonation soll man noch gehört haben. Dieselbe Explosion erschüttert nun auch das gesellschaftliche Zusammenleben im Libanon, jener einstigen »Schweiz des Nahen Ostens« mit ihrer eleganten Hauptstadt. Über 150 Menschen sind bei der riesenhaften Explosion ums Leben gekommen. Die ebenfalls schwer ramponierten Krankenhäuser kamen nicht nach damit, die 6.000 Verletzten zu verarzten. Hunderttausende sind obdachlos.

Doch der Libanon stand schon vorher auf tönernen Füßen. Durch die Corona-Krise angetrieben, stieg die monatliche Inflationsrate im Juni auf 20 Prozent. Im Vergleich zum Vorjahr haben sich die Preise verdoppelt. Und weil der Libanon die meisten Bedarfsgüter importieren muss, wird sich bald die Frage stellen, wie man das noch finanzieren soll. Ebenso ist fraglich, wo man ankommende Güter und Lebensmittel überhaupt noch anlanden und lagern könnte. Der Hafen von Beirut ist ja ein planiertes Trümmerfeld.

Den Bürgern war die im wahrsten Sinne des Wortes brenzlige Lage schon bewusst, bevor eine Riesenladung Sprengstoff im Hafen von Beirut explodierte. Doch nun rufen sie nach Konsequenzen für das fahrlässige Handeln der Regierenden, ihre Korruption und Verantwortungslosigkeit. Sie sind nun auf den Straßen und fordern den sofortigen Rücktritt der gesamten Regierung. Riesige Massen sammelten sich auf dem zentralen Märtyrerplatz und blieben dort über Stunden. Verletzte gab es natürlich auch hier.

In Beirut wurden, Balken an Balken, große Galgen aufgestellt. Man kann sich die Parolen der aufgebrachten Menschen dazu denken. Auf den Transparenten steht: »Tretet zurück oder lasst euch hängen.« Und: »Verschwindet, ihr seid alle Mörder.« Daneben brachen auch gewaltsame Aufstände los. Die Menschen erklären ihrem Staat den Krieg. Ein Polizist im Einsatz wurde getötet. Laut der staatlichen Agentur NNA wollte er Menschen helfen, die in einem Hotel im Zentrum Beiruts festsaßen. Dabei hätten ihn »randalierende Mörder« angegriffen.

Der Aufstand der »99 Prozent«

Laut dem Roten Kreuz wurden mehr als 200 Menschen verletzt. Das lenkt den Blick auf die Christen des Landes, die sich in besonderer Weise von den Unruhen bedroht sehen. Als Minderheit sind sie auf den Schutz der Administration angewiesen. Doch die einstige Bevölkerungsmehrheit ist längst im Schwinden begriffen, immer mehr junge Christen verlassen das Land. Die Explosion traf, so Marc Frings vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das fein austarierte Machtgefüge der verschiedenen Religionen. Wie die Detonation mit roher Gewalt über Beirut losbrach, so ist nun das Verfassungsgefüge des ganzes Libanons in Gefahr durch die losbrechenden Proteste.

Demonstranten versuchten, sich den Weg über Absperrungen zum Parlament zu bahnen. Steine und Brandsätze flogen. Beirut brannte. Schüsse sollen gefallen sein. Die Polizei reagierte mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen. Auch die Armee kommt nun zum Einsatz, um die Demonstranten in Schach zu halten. Anderswo drangen Demonstranten in öffentliche und Regierungsgebäude ein, darunter mehrere Ministerien und auch das Gebäude der Bankenvereinigung. Ein Bild von Präsident Michel Aoun wurde zerschlagen. Das Außenministerium wurde von den Aufständlern besetzt. Ebenso marodierten sie sich ihren Weg in das Energieministerium, das allerdings als Hort der Korruption gilt. Stromausfälle in Tageslänge sind inzwischen eine Normalität.

Tatsächlich handelt es sich nur um die Wiederaufnahme der Proteste vom letzten Herbst, als die Libanesen schon einmal Reformen und die Übernahme von Verantwortung von ihren Politikern forderten. Jetzt ist der Ton schärfer geworden. Die Twitter-Parole »Knüpft ihnen die Schlinge« drückt das aus. Im Libanon sind die »99 Prozent« zu Revolutionären geworden, die von Galgen und Guillotinen sprechen. Auch Ältere stimmen den radikalen Forderungen zu. Es müsse wohl so passieren.

Am Samstag kündigte Premierminister Hassan Diab an, Neuwahlen anstoßen zu wollen. Zurückgetreten ist wegen der Ereignisse die Informationsministerin Manal Abdel Samad. Sie versuchte zugleich einen Teil des Zorns aufzunehmen und abzumildern und entschuldigte sich »bei allen Libanesen, die ihre Ziele nicht erreichen konnten«. Davor hatte schon der Außenminister das sinkende Schiff der Regierung verlassen.

Geberkonferenz mit Trump, Macron und Maas

Am Sonntagmittag traf sich erstmals eine Geberkonferenz zugunsten des Landes per Videoschalte. Emmanuel Macron hatte eingeladen. Frankreich fühlt sich dem Land durch Kolonialgeschichte und Francophonie verbunden. Auch Donald Trump nahm teil. Trump hatte direkt nach der Detonation von einem Anschlag gesprochen. Tatsächlich halten sich auch in diesem Fall Videos auf Twitter, auf denen angeblich ein verdächtiges Flugobjekt – vielleicht eine Drohne – im Anflug auf die Lagerstätte zu sehen sein soll. Trump berief sich auf Geheimdienstinformationen. Die internationale Presse bemühte sich, ihn zu widerlegen.

Doch ein starkes Dementi offizieller Vertreter gab es bisher auch nicht; es sei noch zu früh für eine abschließende Einschätzung, hieß es in London. Inzwischen kam heraus, dass auch die offiziellen Ermittlungen einen Anschlag nicht ausschließen. Für Deutschland meldete sich Heiko Maas in der Videokonferenz an. Die Bundesregierung hat schon im Vorfeld zehn Millionen Euro Soforthilfe zugesagt. Sogar das viel angefeindete Israel hat dem Nachbarstaat medizinische und humanitäre Hilfe zugesagt.

Der Libanon als mehr oder weniger festumrissene Identität verdankt sich der autonomen Provinz Libanonberg, die innerhalb des Osmanischen Reiches von einem christlichen Gouverneur verwaltet wurde. Später engagierten sich die Franzosen und errichteten das Protektorat Groß-Libanon. 1941 wurde das Land unabhängig. Die beiden ersten Jahrzehnte nach dem Weltkrieg waren eine Zeit des
Wohlstands und der politischen Stabilität für den Libanon. Er galt als die »Schweiz des Nahen Ostens« mit Beirut als Klein-Paris.

Allerdings hat das Land bis heute keinen Frieden mit Israel geschlossen und duldet die schiitische Terrorgruppe Hizbollah. Im Parlament führen deren Vertreter sogar die antiwestliche Opposition an. Hassan Diab wurde von Parteien der antiwestlichen Koalition mitgewählt, darunter die Hizbollah. Auch der christlich-maronitische Ex-General und heutige Staatspräsident Michel Aoun ist ein Repräsentant der Anti-Westler.

Doch wer auch immer das Land heute oder in Bälde regiert: Die Lage dürfte ungemütlich werden. Fortgesetzte Unruhen könnten leicht auf andere arabische Länder übergreifen, die unter ähnlichen Bedingungen von Oligarchie und Korruption leiden. Der sogenannte »arabische Frühling« könnte sich neu beleben und bald gar nicht mehr so »frühlingshaft« hoffnungsvoll sein. Die zurückgetretene Informationsministerin sah einen Wandel zum Besseren derzeit »außer Reichweite«.

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