Großbritannien vor der Wahl: Ein Land auf der Suche nach sich selbst

Donnerstag wählen die Briten ein neues Parlament. Im Wahlkampf geht es nicht nur um den Brexit, das von Boris Johnson verhandelte Austrittsabkommen. Mit ihm auf der einen und Corbyn auf der anderen Seite steht das Land vor einer grundlegenden Entscheidung.

Christopher Furlong/Getty Images
Boris Johnson auf einer Wahlkampfveranstaltung in Manchester

Das Vereinigte Königreich zeigt uns dieser Tage, wie ›achtsamer‹ Journalismus geht. Das englische Wort dafür lautet »woke« und könnte auch als wach, bewusst oder erleuchtet übersetzt werden. Es führt Journalisten dazu, dem Premierminister das Photo eines vierjährigen Jungen zu zeigen, der zunächst kein Bett in einem britischen Krankenhaus fand und provisorisch auf einige Jacken gebettet wurde. Schlimm genug. Konfrontiert mit dem Bild, versucht Johnson zu erklären, was seine Strategie für das britische Gesundheitswesen ist.

Doch der Berichterstatter ist nicht interessiert, hält Johnson sein Handy hin und insistiert: »Schauen Sie sich das Bild jetzt an!« Bis Johnson sich resoluter zur Wehr setzt, das Handy in die eigene Tasche steckt, dem Journalisten ein Interview anbietet und gibt. Am Ende schaut er doch auf das Telephon. Doch seine Botschaft ist unverändert: Tiefe Sympathie für die Menschen, die Leid erfahren, und das Bewusstsein, dass sich etwas ändern muss.

The PM grabbed my phone and put it in his pocket: @itvcalendar | #GE19pic.twitter.com/hv9mk4xrNJ

— Joe Pike (@joepike) December 9, 2019

Das ist einer dieser Skandalisierungsmechanismen. Ein Bild wird aus seinem Kontext gerissen und einem Premierminister zur Last gelegt, der zwar – das ist wahr – eine knapp zehnjährige konservative Regierungszeit fortsetzen will, sich dabei aber von seinen Vorgängern in ziemlich vielen Punkten unterscheidet. Tatsächlich könnte man das Einstecken des Handys auch symbolisch deuten: Johnson machte sich die Geschichte des Jungen zu eigen, so wie er sich in seinem Programm willens zeigt, Verantwortung für das britische Gesundheitssystem zu übernehmen.

Ein anderes Beispiel dieses Typs einer ›achtsamen‹ Berichterstattung entzündete sich an einem Ausspruch der Baroness Jenkin, ihres Zeichens Konservative im britischen Oberhaus, die beklagte, dass viele Briten nicht mehr selbst zu kochen wüssten. Die Nachfrage der Journalistin lautete: »Glauben Sie, dass die Menschen daran schuld sind? Oder könnte es auch die Schuld der Regierung oder des Sozialstaats sein?« Die entgeisterte Antwort der Baroness: »Ich glaube, es ist nicht die Schuld der Regierung, dass die Menschen nicht kochen können.«

Der Wandel ist in London schon an der Macht

Großbritannien ist inzwischen wieder bei sich selbst angekommen, hat den Brexit einstweilen zu den Akten gelegt und fragt, welcher der Kandidaten einen stärkeren Zusammenhang mit dem Land erkennen lässt. Eine legitime Frage. Die Antwort einer Ex-Labour-Abgeordneten fällt kritisch für ihre Partei aus. Gloria de Piero, bis vor kurzem Abgeordnete für die Bergbau- und Industrieregion Nottinghamshire, ist ernsthaft besorgt über die Lage in den früheren Labour-Hochburgen:

Boris, actually
Johnson: Wahlwerbespot mit Humor
»Es ist ziemlich hart für uns – die Leute sind stinksauer. Zum Teil wegen der Parteiführung, zum Teil wegen des Brexits. […] Die Seele der Partei ist in Gefahr. Diese Wahlkreise sind unser Herzland, weil dort unser Herz schlägt – sie sind der Grund, warum es uns gibt. Wir wurden gegründet, um diese Gemeinschaften zu repräsentieren. Der Bruch mit unseren traditionellen Wählern hat sich seit mindestens einem Jahrzehnt angekündigt, aber es hat uns nicht gekümmert. Es ist eine Schmach.«

In seinem Wahlkampfendspurt will Johnson fünf solche Wahlkreise besuchen, die traditionell in Labour-Hand waren, aber 2016 – ein sicheres Zeichen für Unzufriedenheit – für den Brexit gestimmt haben. Labour versucht dagegen zu halten mit der Parole »It’s time for real change«. Das Problem ist nur: Der Wandel ist in London schon an der Macht. Es ist Boris Johnson, der eine grundstürzende Veränderung der britischen Politik verspricht. Die Unabhängigkeit von der EU, ein neues Einwanderungsrecht, Freihandelsverträge mit der Welt und eine Politik für alle gesellschaftlichen Schichten und Regionen des Landes.

Deshalb sind auch die Vorwürfe wegen des Sparkurses der vergangenen Tory-Jahre bis jetzt an Johnson abgeprallt. Er konnte einerseits antworten, dass er erst seit gut 100 Tagen im Amt sei, zum anderen glaubhaft machen, dass seine Politik eine andere sein würde. Nicht gerade »big spending«, aber doch maßvolle Mehrausgaben, die vor allem in die Bildung, Straßen und Schienen, aber auch in Glasfaserkabel fließen sollen. Dauerhaft niedrige Zinsen unter der Inflationsrate sollen dieses verantwortliche Investitionsprogramm ermöglichen.

Das konservative Programm im Detail

Wenn es nach Johnson und den Tories geht, soll es künftig drei Arten von Visa für Einwanderer ins Vereinigte Königreich geben: eines ohne weitere Anforderungen für Personen mit »außergewöhnlicher Begabung« – Nuklearphysiker und Primaballerinas sind die Beispiele des Premiers. Eine zweite Variante soll für gelernte Fachkräfte ausgestellt werden, die ein Jobangebot zum Beispiel im Gesundheitswesen nachweisen können. Daneben sollen befristete Visa auch für ungelernte Arbeiter ausgestellt werden, um Engpässe zu bewältigen. »Wir wollen die Besten und Klügsten für unser Land und unsere Wirtschaft«, heißt es dazu in einer Handreichung für konservative Wahlkämpfer, »egal ob als Unternehmensgründer, zum Studium oder in unseren öffentlichen Diensten, namentlich dem Gesundheitssystem.«

Johnson will sein Land nicht abschotten, aber eine demokratische Kontrolle der Einwanderung herstellen; eben das ermögliche der Brexit. Das neue Einwanderungssystem soll punktebasiert sein wie in Australien und so den Zustrom gering Qualifizierter einschränken. Daneben sind die Tories besorgt um die Fairness im staatlichen Wohlfahrtssystem. Zuwanderer aus der EU sollen in den ersten fünf Jahren kein Recht auf staatliche Leistungen haben. Außerdem soll Kindergeld nicht mehr in andere Länder überwiesen werden (was in der EU immer noch die Regel ist).

Ein anderer Blick
James Delingpole über Boris Johnson und Betrachtungen zum Brexit
Nigel Farage (Brexit Party) kritisiert unterdessen, dass Johnson »schon immer sehr weich« in Fragen der Einwanderung gewesen sei, und beharrt auf einer realen Senkung der Zahlen. Genau das wollen auch die Tories. Glaubt man den Umfragen, wird sich Farage allerdings schwer tun, auch nur einen einzigen Abgeordneten ins Unterhaus zu entsenden. Immerhin scheint sich aber die informelle Kräftebündelung von Konservativen und Brexit Party positiv auszuwirken: Die Liberaldemokraten sehen ihre Bemühungen unterminiert, traditionell konservative Parlamentssitze in Südostengland zu erobern, während Farage im Norden vor allem Labour in seinen einstigen Hochburgen attackiert und so auch dort konservative Siege wahrscheinlicher machen könnte.

Messerattacken, »Klimanotstand«… und die Wirtschaft?

Ein weiteres Thema, das die Briten seit geraumer Zeit beschäftigt, ist die Zunahme der Messerattacken im öffentlichen Raum. Im Kampf gegen diese Gefahr soll die sogenannte »Stop-and-search«-Politik ausgeweitet werden: Polizisten können Personen auch beim bloßen Verdacht nach gefährlichen Objekten (wie Säure oder Messern) durchsuchen. Dazu eine interessante Zahl der Londoner Polizeichefin Cressida Dick: Man durchsuche zwar vier Mal mehr junge schwarze als junge weiße Männer, die Erfolgsrate – also Funde von Messern, Drogen oder Diebesgut – sei aber bei beiden Gruppen gleich, die stärkere Überwachung der jungen Schwarzen also gerechtfertigt. Die britische Polizei hat offenbar das richtige Auge für Gefährder und Kleinkriminelle.

Einen »Klimanotstand« können die britischen Konservativen nicht erkennen, wollen aber trotzdem pragmatische Maßnahmen ergreifen, um den CO2-Ausstoß zu senken. Das dürfte auch ein Versuch sein, den Klima-Fundamentalisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Umweltschutz ist ja bekanntlich ein konservatives Thema. Durch Aufforstung und die Renaturierung von Mooren soll Großbritannien bis 2050 CO2-neutral werden (Labour will das bis 2030 erreichen). Außerdem sollen die Ozeane und ihre Fischbestände durch einen mit 500 Millionen Pfund unterstützten »Blue Planet Fund« besser geschützt werden. Daneben soll aber auch die Elektromobilität gefördert und die Offshore-Windkraft ausgebaut werden. Unter David Cameron hatte man den Ausbau der Windkraft im Binnenland weitgehend gestoppt.

Zudem wollen die Konservativen eine Reihe von Unternehmenssteuern senken, vor allem für kleine Betriebe, die vom EU-Austritt belastet werden könnten. Um eine ersprießliche Wirtschaftspolitik ging es freilich wenig in diesem Wahlkampf. Das Land sucht einstweilen noch sich selbst.

Was will das Land?

Bei dieser Suche könnten vielleicht auch Bürgerdialoge helfen. Drei Tage vor den Wahlen zum britischen Unterhaus fiel Boris Johnson nun noch ein Thema vor die Füße, das der Konservative bis dahin nicht auf dem Zettel hatte. Der Mitarbeiter eines Speditionsunternehmens fragte Johnson in einer öffentlichen Fragestunde, was er eigentlich mit der britischen Rundfunkgebühr vorhabe, die vor allem der traditionsreichen BBC zugutekommt. Johnson reagierte erst zögerlich, hielt Rücksprache mit einem Berater, stellte aber schließlich fest:

»Ich soll hier zwar keine Ad-hoc-Maßnahmen aus dem Stand versprechen. Aber langfristig muss man sich fragen, ob diese Art der Finanzierung für ein Massenmedium noch Sinn ergibt, zumal wenn man sieht, wie sich andere Medien finanzieren.«

Man könnte sagen, die Frage kam Johnson gelegen, denn er und seine Partei liegen derzeit im Clinch mit dem halböffentlichen Channel 4 und dessen Journalismusverständnis. Eine Debatte zum »Klimawandel« hatte Ende November ohne einen konservativen Vertreter stattgefunden.

Das Chaos-Programm von Jeremy Corbyn

Das Programm von Labour liest sich im Vergleich dazu alles in allem ziemlich phantastisch: Im Falle eine Wahlsiegs will man innerhalb von zehn Jahren flächendeckend zu einer 32-Stunden-Woche kommen, angeblich ohne Einkommensverluste für die Arbeitnehmer, da zugleich die Produktivität steigen werde. Große Firmen sollen dazu verpflichtet werden, zu mindestens 10% in den Besitz der Belegschaft überzugehen. Dividenden sollen ebenfalls bis zu einer Grenze von 500 Pfund im Jahr unter den Arbeitnehmern verteilt werden, alles was darüber liegt, in einen Klima-Fonds eingezahlt werden. Betriebsvorstände sollen zu einem Drittel von »Arbeiter-Direktoren« besetzt werden. Daneben stehen natürlich Steuererhöhungen auf dem Plan von Labour und eine Option auf die Legalisierung harter Drogen.

Weder patriotisch noch demokratisch
Johnson und Trump. Über den Missbrauch der Nation.
Ähnlich vage ist die Brexit-Politik der britischen Sozialisten, zu der so etwa jeder Spitzenpolitiker seine eigene Auffassung haben kann. Sicher ist, dass ein neues Abkommen mit der EU ausgehandelt werden und den Briten nochmals in einem Referendum vorgelegt werden soll. Ob man dann für oder gegen dieses neue Abkommen werben will, darüber scheiden sich die Geister in der Partei. Mit dieser Chaos-Strategie hat Corbyn vermutlich erneut einige Remainer angezogen, die Partei bleibt aber ohne eigenes Profil in der Brexit-Frage. Corbyn kämpft um Platz, nicht um Sieg.

Insgesamt ergibt sich ein desaströses Bild der Partei, das zuletzt auch der Schattengesundheitsminister Jonathan Ashworth in einem an die Presse gestreuten Gesprächsmitschnitt auf den Punkt brachte: Zwar habe man die Unterstützung des linksliberalen städtischen Publikums (»middle class Guardian reading people«), doch außerhalb der großen Städte könne man Corbyn nicht ausstehen. Die Leute glaubten, dass Labour den Brexit verhindert habe; im Falle eines Wahlsiegs seiner Partei müsse man allgemeine Sicherheitsvorkehrungen treffen. Später verteidigte sich Ashworth, das wären natürlich alles nur private Scherze gewesen.

Das vermutlich einzige Szenario, in dem Labour-Chef Corbyn einigen Einfluss erhalten könnte, wäre ein erneutes »hung parliament«, das die Konservativen folgerichtig als Schreckensvision von biblischen Ausmaßen darstellen:

»Labour und seine Verbündeten von den Lib Dems, den [schottischen] Nationalisten und Grünen brauchen nur zwölf Sitze mehr, um Jeremy Corbyn zum Premierminister zu machen und das Chaos eines ›hung parliament‹ fortzusetzen. Wir wären auf absehbare Zeit gefangen in diesem Fegefeuer, diesem ersten Kreis der Hölle …«

Das Mehrheitswahlrecht hält auch Großkopferte auf Trab

Derlei literarische Bilder – entlehnt aus Dantes »Göttlicher Komödie« – sollen Corbyn als Captain Chaos erweisen. Dagegen wären den Konservativen neun Sitze mehr genug, um die Zeiten ohne klare Regierungsmehrheit zu beenden. Wie bescheiden … Tatsächlich hofft Johnson natürlich auf einen sehr viel höheren Sieg. Seit Oktober verfügen seine Konservativen in Umfragen über einen stabilen Vorsprung von zehn Prozentpunkten vor Labour. Doch die nationalen Umfragewerte müssen auch in den einzelnen Wahlkreisen tragen. Das britische Mehrheitswahlrecht ist zwar normalerweise praktisch, was die Herstellung klarer Verantwortlichkeiten und deutlicher Mehrheiten im Parlament angeht. Diese Vorteile gehen aber mit enormen Unsicherheiten einher – die allerdings weniger die Regierten als die Regierenden treffen. So sind auch einige Großkopferte bei dieser Wahl wieder einmal von der Abwahl bedroht, da sie ihre Wahlkreise zuletzt nur knapp gewannen und die Mehrheitsverhältnisse durch den Brexit ohnehin durcheinandergewirbelt werden.

Dazu gehört etwa die Lib Dem-Vorsitzende Jo Swinson, die ihren schottischen Wahlkreis nur mit gut 5.000 Stimmen Mehrheit gewann. Ebenso gefährlich ist diese Wahl für den Außenminister und Hardcore-Brexiteer Dominic Raab, der in einem Remain-Wahlkreis antritt. Und sogar Boris Johnson trennten bei der letzten Wahl nur 5.000 Stimmen von einer Niederlage im Londoner Vorortwahlkreis Uxbridge. Kein Wunder, dass das Land und seine Politiker bis zum letzten Kampagnentag in Bewegung bleiben. Auf das Ergebnis darf man gespannt sein. Das Schicksal eines Landes hängt daran.

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