Erdogans Botschaft an die Umma: Die »Unterbrechung« des Kalifats beenden

Mit der Umwidmung der Hagia Sophia zur Moschee sendet Erdogan ein politisches Signal an seine Konkurrenten wie seine Verbündeten. Wer beide sind, wird immer klarer. Was der Westen nicht wissen sollte: Inmitten der Eröffnungsfeierlichkeiten für seine neue Moschee stellte Erdogan auch die »Befreiung« der Al-Aqsa-Moschee in Aussicht.

imago images / Xinhua

Die Entscheidung Erdogans, die Hagia Sophia erneut als Moschee zu nutzen, schlägt international Wellen. Der stundenlang trendende Hashtag auf Twitter (#HagiaSophia) verdankte sich dabei nur zum Teil den entsetzten Reaktionen aus Europa und Nordamerika. Sicher die Hälfte der Tweets waren begeisterte Reaktionen aus der islamischen Welt.

Die zweifellos politische Gerichtsentscheidung, die den offiziellen Status der Hagia Sophia als Museum aufhob und damit den Weg für ihre Nutzung als Moschee wieder freimachte, fällt in eine Zeit, die durch türkisches Vormachtstreben im östlichen Mittelmeer und konfliktive Strategien Ankaras im Umgang mit vielen Nachbarn und »Partnern« geprägt ist. Dazu gehört natürlich das Verhältnis zu Griechenland, aber auch die Ostmittelmeeranrainer Zypern, Israel und Ägypten und das wirtschaftlich in der Region engagierte Frankreich sehen sich einer Türkei gegenüber, die ihre eigenen Regeln aufstellt.

Erdogan bestätigte diesen Eindruck erst jüngst wieder, als er seine Entscheidung für die Umwidmung des Kirchenbaus rechtfertigte: »Natürlich stört der beständige Vorwärtsmarsch der Türkei einige. […] Sie wollen, dass die Türkei, wie in der Vergangenheit, mit dem ihr Angebotenen zufrieden ist und aufhört, ihre Rechte einzufordern und mit anderen wettzueifern.« Doch diese »alte Türkei« gebe es nicht mehr. Man werde so lange kämpfen, arbeiten, aufbauen und sich verjüngen, bis das Land seine Ziele erreicht habe. Das ist also die neue Erdogan-Doktrin: »Die Türkei hat immer verloren, wenn sie einen Kompromiss suchte und Zugeständnisse machte.«

Daneben greift die türkische Außenpolitik – die eigentlich eine erweiterte Innenpolitik ist – immer stärker aus, sogar bis nach Mittel- und Nordeuropa. Die jüngsten Aktionen der Grauen Wölfe, die eng mit dem Regime verbandelt sind, gegen kurdische Demonstranten in Wien künden davon, ebenso die Infiltration der Deutschland-Türken durch den türkischen Geheimdienst. Die Vereinnahmung türkischer Emigranten für den türkischen Staat und ihre Drangsalierung durch ihn haben seit langem System (Jerusalem Post, 30. Juni 2020). Insofern sind auch Auftritte des deutschen Außenministers, bei denen er sich einige Wochen nach der Grenzschlacht am Evros wieder harmonisch vereint mit seinem »Freund« Mevlut zeigt, mehr als irritierend.

Erdogan triumphiert und mit ihm die Umma

Nach der Entscheidung des türkischen Verwaltungsgerichts vom Freitag schreitet Erdogans Regierung rasch zur Nutzung der Hagia Sophia als Moschee. Noch am selben Tag erklang der Muezzin-Ruf, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen. Nach einem Freitagsgebet, das dieses Mal noch vor dem Kirchenbau stattfand, hielt Erdogan eine Fernsehansprache, in der er die Botschaft, die er mit diesem Schritt verbindet, formulierte. In zwei Wochen, am 24. Juli, soll – erstmals nach mehr als 85 Jahren – ein muslimisches Gebet in der früheren Kirche stattfinden. Am Sonnabend wurde das Museum für Besucher geschlossen, um Vorbereitungen für die neue Nutzung zu treffen. Angeblich soll sogar eine religiöse Schule (Madrasa) in der Hagia Sophia errichtet werden.

Die Umma triumphierte. Vor dem byzantinischen Bau erschallten »Allahu akbar«-Rufe und nationalistische Parolen: »Das Osmanische Reich ersteht von neuem.« Das sei der (endgültige) Fall von Byzanz.

Die Rede Erdogans wurde später auf Englisch und Arabisch veröffentlicht, allerdings in leicht unterschiedlichen Fassungen. Im englischen Text ist einleitend vom »Menschheitserbe« Hagia Sophia die Rede und davon, dass die ehemalige Sophienkirche auch als Moschee für alle Besucher offenstehen wird. Ähnlich schönfärberische Zusammenfassungen werden auch auf Deutsch vom türkischen Fernsehsender TRT verbreitet.

— TRT Deutsch (@TRTDeutsch) July 11, 2020

Dagegen finden sich in der arabischen Fassung Sätze, die weniger auf Völkerverständigung abzielen, sondern auf Konfliktbereitschaft und Hegemonialdenken schließen lassen. Diese Sätze wurden offenbar vorsichtigerweise aus dem englischen Skript herausredigiert. Doch im türkischen Original sagt Erdogan selbst: »Die Wiedergeburt der Hagia Sophia [als Moschee] ist ein Vorbote für die Befreiung der Al-Aqsa-Moschee [in Jerusalem]. Wir folgen dem Willen der Muslime auf der ganzen Welt, wenn wir das Zeitalter der Unterbrechung beenden.«

Die Al-Aqsa-Moschee nimmt heute neben dem Felsendom den Jerusalemer Tempelberg ein, auf dem einst der salomonische Tempel und seine Nachfolgebauten standen. Allerdings steht die Al-Aqsa-Moschee den Muslimen schon heute als Gebetsraum zur Verfügung, während Andersgläubige sie nicht betreten dürfen. Mit ihrer »Befreiung« kann also nur die Befreiung des Tempelbergs von israelischer Oberhoheit gemeint sein.

Selbstproklamation zum neuen Kalifen

Auch insgesamt betrachtet, ergeben die Worte des türkischen Staatspräsidenten nur den einen Sinn, dass sich Erdogan in ihnen und durch sie als der neue Kalif inszenieren will, sich geradezu selbst dazu ausruft. Der bis heute letzte Kalif war der osmanische Sultan Abdülmecid II., der 1924 als weltlicher und geistlicher Herrscher abdanken musste. Auf seinen Abtritt folgte offenbar die »Unterbrechung« des Kalifats.

Die Jerusalem Post sieht in Erdogans Worten folglich den Ausdruck einer religiös-militärischen Agenda für den gesamten Nahen Osten, wie sie sich schon in seinem Syrien-Feldzug und den Militärschlägen auf nordirakischem Gebiet gezeigt hat. Kein Wunder, dass auch die palästinensische Hamas wie Erdogans islamistische AKP ein Abkömmling der Muslimbruderschaft, die Umwidmung der Hagia Sophia begrüßte, ebenso die Muslimbruderschaft selbst.

Die Türkei versucht, sich als neue Anführerin der sunnitischen Umma aufzustellen und so Saudi-Arabien seine Stellung streitig zu machen. Erdogan stellt die Umwandlung der Hagia Sophia zur Moschee ausdrücklich in den Rahmen eines gemeinsamen »Willens« aller Muslime, aber offenbar nicht nur. Denn die Umwidmung soll eine »Neubelebung des Hoffnungsfeuers nicht nur der Muslime, sondern aller Unterdrückten, Opfer und Ausgebeuteten« sein. Erdogan als Vorkämpfer der Underdogs – ist das schon wieder innertürkischer Wahlkampf oder mehr?

Im folgenden nehmen Erdogans Worte in der Tat einen eher national-türkischen Charakter an. Er erinnert an die Schlachten bei Manzikert (1071, Seldschuken gegen Byzantiner), Nikopolis (1396, Osmanen gegen Kreuzfahrer) und Gallipoli (1915–1916, Türken gegen Entente-Mächte). Der erneute Aufstieg der »Sonne unserer Zivilisation« lässt erneut Spielraum für pansunnitische Bestrebungen.

Die Umwandlung der Hagia Sophia ist tatsächlich ein Signal, das weithin in den sunnitischen Islam ausstrahlt, namentlich nach Pakistan, Indien und Bangladesh. Dort lebt wohl am ehesten die Erinnerung an den letzten osmanischen Sultan als den zugleich letzten Kalifen weiter, während diese Erinnerung in der arabischen Welt durch die Eroberungen und die Hegemonialpolitik der Osmanen verdunkelt wird. Mit Erdogans Ausgreifen über die türkische Südostgrenze wiederholt sich dieses Muster auch in der Gegenwart. In der jüngeren Vergangenheit hatte Erdogan von einem Gebet in der Damaszener Umayyaden-Moschee geschwärmt – aber das blieb bis jetzt ein Traum oder eine propagandistische Inszenierung.

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