DER SPIEGEL Nr. 41 – „Operation Wunderkind“

Der Sonntagsvorleser findet diesmal den Spiegel zeitlos und streckenweise schlecht recherchiert - aber trotzdem ein Muß: Wegen eines einzigen Gastbeitrags.

In dieser Woche ist der Spiegel zeitlos, trotzdem ein Muss. Das allerdings wegen eines einzigen Stücks. Ein Muss durch den Text „Der letzte Deutsche“ von Botho Strauß. Eine Glosse soll es sein, ein Debattenbeitrag ist es gewiss. Ob sie an die Diskussion heranreichen wird, die 1993 der Essay „Anschwellender Bocksgesang“ ausgelöst hat? Deutschland ist nicht mehr das Deutschland von 1993. Und so ist der Text mit dem Untertitel „Uns wird die Souveränität geraubt, dagegen zu sein“ literarisch, künstlerisch brillant, dabei merkwürdig unentschieden. Gedankenblitze und dumpfe Empfindungen aneinandergereiht, nach einem verborgenen Schema miteinander verknotet. Was ist Glosse, was ist Statement? Das Ziel, eine neue Debatte anzustoßen, könnte durchaus gelingen.

Faszinierend sind die Auszüge aus dem Briefwechsel der SPD-Granden Helmut Schmidt und Willy Brandt, der – herausgegeben und eingeleitet von Meik Woyke – unter dem Titel „Partner und Rivalen“ zur Buchmesse erscheint. Mit welcher Behutsamkeit und wie stilvoll diese beiden Bärbeißer einander umgarnten, anspornten, unterstützten, kritisierten, beklagten, ist ein herrliches Stück deutscher Geschichte und auch ein Beispiel für – die derzeit untergehende – Kultur des Schreibens und des brieflich miteinander Umgehens.

Sehr fein ist zudem der Essay „Landung in Deutschland“ von Spiegel-Autor Stefan Berg mit einem herrlichen Einstieg und seinem Geständnis, dass das Deutschsein besonders schön wurde, als die Gesamtdeutschen Weltmeister im Fußball wurden.

In der Titelgeschichte widmet sich der Spiegel in dieser Woche den oftmals hysterischen Anstrengungen bundesdeutscher Eltern, ihren Nachkommen mit allen Mitteln die besten Startpositionen für den künftigen Werdegang zu sichern. Ein Thema, das Auflage verspricht. Doch die Leser werden enttäuscht sein. Denn die Rechercheanstrengungen halten sich in Grenzen. Natürlich geht die Redaktion dorthin, wo sie sich vermutlich bestens auskennt – ins Hamburger Elite-Gymnasium Christianeum im Nobelstadtteil Othmarschen und an die private Phorms Schule Hamburg. Dazu Recherche bei zwei Hamburger Anwälten und einem Kinderarzt in Düsseldorf. Ein Hamburg-Düsseldorfer Elite-Problem? Anspruch und Erwartungen vieler Eltern an ihre Kinder genauso wie an Schulleitungen und Lehrer blenden landauf landab die Realitäten aus und versuchen mit allen rechtlichen, medizinischen und therapeutischen Mitteln die (sehr)gute Note, den hervorragenden Schulabschluss, den Studienplatz an der Wunschhochschule durchzusetzen. Was der Titelstory von Barbara Hardingshaus und Dialika Neufeld fehlt, ist die Einordnung des zunehmenden Phänomens, die es zu einem überregionalen Thema macht.

Schwach ist der Beitrag „Der Schatz im Paternoster“ von Alexander Jung über die handstreichartige Übernahme der DVAG durch die Allianz noch vor der Wiedervereinigung. Der kuriose Trick: Die Allianz zahlte damals 271 Millionen Mark für das Versicherungsmonopol in der DDR. Das Geld floss aber nicht an die Treuhand, sondern ging in die Kasse der DVAG, blieb also praktisch bei der Allianz. War da keiner zu finden, der aus dem Wiedervereinigungsnähkästchen plaudern wollte? Wer sich noch daran erinnert, wie sorgsam die Allianz eine ausführliche Medienberichterstattung über den Handstreich vermied, hätte sich 25 Jahre danach eine kritischere Aufarbeitung des Themas gewünscht.

Fällt Spiegel-Liebling Ursula von der Leyen bei der Redaktion in Ungnade? Wachsweich geht es um die Plagiatsvorwürfe ihrer Promotion. Ob das ein Halali ist, bleibt abzuwarten.

Ansonsten bietet das Heft wieder einmal einen bunten unterhaltsamen Reigen. Wir erfahren unter anderem, dass Kühe wohl nur dann glücklich sind, wenn sie gehörnt sind (sicherlich ein Thema, das bei Kühen für Gesprächsstoff sorgen wird), Putin offensichtlich den Pullover deshalb ab und zu auszieht, um mit seinem freien Oberkörper nicht nur Frauen, sondern auch ältere Männer zu beeindrucken. Dass endlich Wasser auf dem Mars gefunden wurde, wird die Science-Fiction-Literatur bereichern.

Mit dem Text von Botho Strauß ist der Spiegel in dieser Woche Pflichtlektüre

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