„Wo kommst du her?“ zu fragen ist erlaubt. Es macht dich aus, aber es ist nicht alles. Erinnerungen an eine Zeit, in der viele eher fragten: "Wo liegt er?" Oder: "Wo hat es dich erwischt?"
„Wo kommst Du her?“, wurde bei uns im Fabrikdorf nicht gefragt. Wozu auch? Da wohnten die Kaczmareks neben den Mazurs, und dazwischen die Eschelbergers und Hannichs. Manche hatten noch diese schweren slawischen Silben, und viele waren gebildeter und klüger als die langsameren Einheimischen und kamen aus großen Städten in den Sudeten. Das Rechtschreibprogramm macht übrigens „Sudeln“ draus, weil das Wort schon nicht mehr so geläufig ist. Es ist ein Wort von den deutschen Herkünften.
Ich bin eben noch aus der Generation, in der man nicht gefragt hat „Wo kommst Du her?“, sondern „wo liegt er?“, der Bruder, der Onkel, der Vater, oder „wo hat es dich erwischt?“, wie unsere verkrüppelten Väter sich gegenseitig nach dem Ort ihrer prägenden Lokation fragten. Auf der allgegenwärtigen Landschaft des Todes war Kreta die größte Landfläche, weil die Hälfte der Männer dort geblieben waren, gefolgt von Russland und Narvik und Frankreich und Polen, die Geographie war Grauen und Verlust.
Später kamen dann einzelne Ungarn und Tschechen und viel später dann die Türken, die übernahmen die schlechten Wohnungen, und dann kamen die Rumänen und Russen. Die haben sich alle schwer getan, am Anfang. Und der war meist ein Leben lang. Ja, es gab schon auch die Alteingesessenen, aber deren Töchter mussten auch einen von den Neuen nehmen, weil die Hoferben und ihre Brüder irgendwo geblieben waren, und so waren die alten Trennungen überholt worden durch das irgendwie Leben-müssen. „Die große Völkermühle“ nennt Carl Zuckmayer den Rheingraben, weil sich da alle gefunden haben.
„Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl,
braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht.
Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie,
das war ein ernster Mensch,
der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu,
oder ein keltischer Legionär,
ein Graubündner Landsknecht,
ein schwedischer Reiter,
ein Soldat Napoleons,
ein desertierter Kosak,
ein Schwarzwälder Flözer,
ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland,
ein Magyar, ein Pandur,
ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler,
ein böhmischer Musikant
– das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt.“
Es war nicht nur am Rhein so und hat auch nicht aufgehört.
Zuwanderung beginnt nicht mit den Gastarbeitern, wie neuerdings immer so getan wird. Die Tabuisierung der eigenen Geschichte führt nur zu Blindheit. „Woher kommst Du?“ hat früher weniger interessiert. Weil es ums Überleben ging. Wenn bei uns die Fabriksirene heulte, nicht um 6 Uhr und nicht um 12 Uhr und nicht um 18 Uhr, sondern zwischendurch in der Nacht oder mitten am Tag, dann rannten die Frauen alle, gleich welcher Herkunft zum Werkstor, weil es ihrer hätte sein können, den es erwischt hat. Ich bin groß geworden unter der Generation „Lebst Du noch?“. Das war die Frage und nicht „Wo kommst Du her?“. Die große Angst ist der große Gleichmacher.
Diese Frage hat mir erstmals Alexander Mann gestellt. KGB-Aufpasser auf einer Reise durch die zerfallende Sowjet-Union. Wir hatten uns auf einem Schiff über den Baikal-See angefreundet. Mein Urgroßvater kam irgendwoher aus Russland zum Eisenbahnbau nach Oberbayern und blieb da hängen. Sein Urgroßvater wanderte aus Schlesien zum Bau der Eisenbahn nach Sibirien. „Dein Vorfahr war schlauer als meiner“, sagte Alexander in die rote, untergehende Sonne über dem weiten Wasser hinein. „Wo kommst Du her“ ist Glück oder Pech, je nachdem.
Neuerdings wird die Frage öfter gestellt. In den Abiturklassen werden die, die meinen Namen tragen, gefragt: „Kommst Du aus Russland?“ Die Frage ist neuerdings wichtig. Die Klassen sortieren sich nach Ethnien. Tonangebend sind die Macho-Türken. Sie werden in Schach gehalten von den Jungs aus Russland und Kroatien, Geschichte wiederholt sich in der Oberstufe. Türkische Mädchen sind schlau und still und viele verschwinden mit 16, kommen nach den Ferien nicht mehr zurück. Ein paar deutsche Bubis ducken sich weg. Ihnen hat man die Geschichte ausgetrieben, gründlich. Die ständig gepredigte Identitätspolitik zwingt Jugendliche in Identitäten, die sie vielleicht gar nicht wollen, in denen sie eingesperrt werden. Integration geht anders. Irgendwo kommst Du an und da bist du. Und „Wo kommst Du her?“ zu Fragen ist erlaubt, wenn Du dafür stehst, wo Du bist. Es macht dich aus, aber es ist nicht alles.
Lesen Sie auch die anderen Teile unserer Serie „Wo kommst du her?“:
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Gut getroffen, sehr geehrter Herr Tichy. Zu meiner Schulzeit gab es keine Frage nach der Herkunft, Queen war ebenso Freddie Mercury wie das Schubert Oktett F-Dur in unterschiedlicher Darbietung! Meiner Ansicht nach muß man sich damit abfinden, wie jüngst zum Neujahres-Empfang des Hamburger Abendblatt im „Vier-Jahrenzeiten-Hamburg“. Was für eine abgestandene zusammen gedrängte Masse an verwahrloster Gesellschaft, das dort vor die Kamera trat? Der sogenannte Hamburger Ehrenbürger vom Otto Versand und Fegebank im Interview? Irre, was nicht nur diese Leute vor laufendem Mikrofon auf Einladung des Hamburger Abendblatts absondern? Man darf gespannt sein, was sich Medien noch so alles einfallen lassen,… Mehr
Ich bin eine Generation jünger als Sie. Bei uns war das etwas anders. Zur Schule gegangen in Fallersleben, bestanden unsere Gymnasialklassen zu 90% aus Deutschen, leicht erkennbar an den Namen. Kinder von Gastarbeitern aus Italien hatten wir genau einen in der Klasse – Giovanni. Kein Wunder, bei der Nähe zum VW Werk. Bei unseren Eltern noch teilweise als Spaghetti-Fresser abwertend bezeichnet, hatte sich das Bild der Italiener in unserer Generation bereits massiv verändert. Die Italiener passten zu uns sehr gut und mit Zunahme der italienischen Restaurants mauserten sie sich zu unseren Lieblingseinwanderern. In der Oberstufe genau eine Exotin – Tochter… Mehr
So ganz stimmt das nicht, Herr Tichy. Es ist schon eher Birnen mit Äpfeln vergleich. Wenn Sie in den Kirchenbüchern auf Familysearch nachschauen, dann werden Sie sehen, dass die ältesten und häufigsten Eintragungen (ca. 1600 bis Ende 1800) des Namens Tichy in der Zips vorkommt. Dieses Gebiet um Schmöllnitz, Göllnitz wurde von bayrischen Siedler besiedelt und es kamen viele Schlesier hinzu. Die Siedler haben bis zur großen Flucht 1945 bayrischer Mundart gesprochen. Viele dieser deutschen Siedler mit zum Teil polonisierten Familiennamen sind um 1800 ins unbewohnte Banater Bergland umgesiedelt, wo sie Ortschaften gegründet, eine Bergbauindustrie geschaffen haben (Wolfsberg, Steierdorf) und kamen bis Ende der 90er nach Bayern zurück. Sie haben über… Mehr
„Die Klassen sortieren sich nach Ethnien. Tonangebend sind die Macho-Türken. Sie werden in Schach gehalten von den Jungs aus Russland und Kroatien“ Sie kennen sich gut aus, Herr Tichy. In der Tat muss man das Macho auftreten türkischer Gangs bestätigen. Zoff mit Einem, heißt Zoff mit der Gang. Inzwischen auch arabischer und russische Gangs, wobei es bei denen vereinzelt, sogar Deutschstämmige und andere Nationalitäten gibt als Mitläufer, je nach Zufall des Lebens. Einige Türkengangs sind dadurch froh, sagen zu können, „seht doch her, wird sind doch gar keine türkische Gang“. Nicht nur in der Schule, sondern überall wo sich die… Mehr
Kluge Gedanken! Vielleicht könnte man noch ergänzen, dass die Frage „Wo kommst Du her?“ zumindest für die zweite Generation assimilationsfähiger Zuwanderer ohne optische Markierung meistens entfällt. Slawen sind so betrachtet assimilationsfähig, Türken nicht. Interessant auch die Beobachtung, dass Franzosen oder Japaner sich durch die Frage „Wo kommen sie denn her?“ so gut wie nie diskriminiert fühlen. Der Franzose hat mir immer stolz geantwortet „aus Paris!“ Leider assoziiert der Fragende mit der Herkunft seines Gegenübers unbewusst die sozioökonomische Leistungsfähigkeit und Historie dessen Ethnie. Der höflich-zurückhaltende Mann aus Tokio steht für eine der leistungsfähigsten Ethnien auf diesem Planeten, der schwarze Mann aus… Mehr
Bei uns in einer städtischen Verwaltung ist die Frage „woher kommst du“ nicht mehr erlaubt. Die Frage wurde als rassistisch verunglimpft, nach der Herkunft darf man nicht mehr fragen, alle mussten eine entsprechende Onlineschulung gegen Diskriminierung durchlaufen. Früher hatte man so übrigens den neuen Kollegen mit genau dieser Frage kennengelernt und beide Seiten hatten so ein Gesprächsthema, mit dem man sich freudig austauschen konnte. Niemand hatte bisher die Frage als diskriminierend empfunden. Am besten man spricht überhaupt nicht mehr mit Kollegen, welche Migrationshintergrund aufweisen. Man könnte ja irgendwas verfängliches sagen. Männer und Frauen und Diverse bleiben am besten auch unter… Mehr
Das Problem ist die empirisch bestens belegte Sozialhierarchie innerhalb diverser Gesellschaften. Für die USA lautet diese Hierarchie: Weiße Europäer>Nordostasiaten>Latinos>Afroamerikaner, was so ziemlich exakt die sozioökonomische Leistungsfähigkeit der Ethnien widerspiegelt und eben deshalb kränkend wirkt. Und wer will schon gerne gekränkt werden?
Unglaublich, die menschliche Dummheit.
Das löst man so, indem man ein „Kennenlern Gruppentreffen“ veranstaltet, in dem sich jeder nach seinem Verständnis vorstellt, ohne Nachfragen.
Mich hat die Frage nie gestört, wenn sie aus informativer Neugier zum Kennenlernen gestellt wurde.
In der Tat kann man die Frage auch beleidgend und entwürdigend stellen.
„Wo kommst du denn her“?
Diese Frage ist weder beleidigend noch entwürdigend, egal wie sie gestellt wird.
Es ist eine einfache Frage, welche aus Neugier und/oder Interesse an der ethnischen Herkunft eines Menschen gestellt wird.
Sie dient zur Kontaktaufnahme, drückt Interesse aus, kann durch entsprechende Gegenfrage ein Gespräch eröffnen.
Wer sich dadurch beleidigt fühlt oder sogar entwürdigt, der schämt sich offenbar seiner Herkunft. Denn die Antwort:“Ich bin hier geboren, aber mein Vater/Mutter kommt aus …“ ist doch nun wirklich nicht ausgrenzend, sondern eine Tatsachenfeststellung.
Die Bayern haben uns Flüchtlingskinder auch ohne die Frage „wo kommst du her“ sofort als „Zuagroaste“ aus folgenden Gründen erkannt:
1. Nachname
2. Vorname (nach den gefallenen Brüdern unserer Eltern benannt)
3. Dialekt
4. Religion (evangelisch)
Wie konnte man sich schnell integrieren?
1. Sprache (Dialekt) lernen
2. Leistung (beim Sport: Fussball, Schifahren)
Mein Heimatland ist das Homeland, und ich habe eine Weile zwecks Studiums im bayerischen Exil gelebt. Unvergessen, wie uns auf einer Veranstaltung der Verwaltung (Station im Referendariat) so ein Hansel unsere Gruppe mit einer lustigen Formulierung begrüsste: „…Teilnehmer aus so exotischen Orten wie Neuss und Novosibirsk.“ Für die Bayern war das wohl irgendwie dasselbe. Nördlich des Weißwurschtäquators, alles die gleichen exotischen Saupreissen. Ob all dieser rassistischen Ablehnung durch die Barzis bin ich natürlich – genau wie unsere so rassistisch benachteiligten Zuwanderer – voll auf die Barrikaden gegangen. Voller Stolz auf meine migrantische Saupreissen-Herkunft habe ich ihnen z.B. erklärt, warum es… Mehr
„Wo kommst du her“? Eine Frage die mich nie gestört hat, im Gegenteil, wenn der Fragende zuhören wollte, musste er viel Zeit mit sich bringen.
Aber die allerwenigsten haben mich je gefragt, „Wo kommst du her“.
Denn sie hatten Angst vor sich selber, die Frage zu stellen.
Sie blieben lieber mit ihrem (un)Wissen im Bereich der Vorurteile.
„Im Übrigen gab es ja noch viele, bei denen die Väter weg waren oder bei den etwas Älteren nicht mehr wiedergekommen oder „draußen geblieben“ waren; Vaterlosigkeit hatte viele Gründe und überhaupt wurde Vaterland ja bald verboten.“ Und eine menschenwürdiges Grab haben sie auch nie erhalten, noch nicht einmal in der Erinnerung der Allgemeinheit, denn, sie waren ja alle Mörder und Verbrecher die freiwillig und mit Freude „dahingezogen“ sind. Diese Schäbigkeit kann man auch nur einer „jungen Generation“ erzählen, denn es hat sie niemand gefragt ob sie wollen. Auch mich hat nie ein Großvater auf seinen Knien geschaukelt. Sie waren schon… Mehr
Ich erlaube mir nach der kurzen, familiär-wurzeligen Einordnung ein längeres Zitat, weil für uns Deutsche, Herr Tichy, eben die von Ihnen geschilderte Geschichte immer noch einen wesentlichen Teil des einigenden Grundstocks bildet. Und diese Geschichte ist eben deutsch, und die kann von später aus fremden Ländern hierher Gezogenen nicht geteilt, nicht übernommen werden, und wenn sie der deutschen Pässe ein Dutzend hätten. Ich bin Allgäuer (grad no so, wie mir ein Kompagnon aus Pfronten nicht müde wird, mitzuteilen) mit pommerschen, weichselländischen, unterfränkischen und schwäbischen Wurzeln. Sogar mit russischem Migrationshintergrund, welchem aber durch die Einbürgerung mit Preußen-Adler-Stempel vor 99 Jahren der… Mehr