Neuverschuldung für Militär und Infrastruktur: Illegitim, aber legal?

Nicht wegen Unaufschiebbarkeit des Vorhabens, sondern allein zu dem Zweck, den neu gewählten Bundestag auszutricksen und ihn mit Hilfe der alten Mehrheit vor vollendete Tatsachen zu stellen, soll jetzt noch schnell der alte Bundestag entscheiden. Dieses Vorgehen zeugt von Verachtung des Wählerwillens – ja, von Verachtung des demokratischen Legitimationsprozesses.

IMAGO / Chris Emil Janßen

Vor dem Zusammentritt des neu gewählten Bundestages soll nach dem Willen von Unionsparteien und SPD noch schnell der alte Bundestag mit einer aus Unionsfraktionen und Rest-Ampel zusammengesetzten Zwei-Drittel-Mehrheit mittels Verfassungsänderung eine gigantische Neuverschuldung ermöglichen. Aber ist das überhaupt mit dem Grundgesetz und dem Demokratieprinzip vereinbar?

Die „Friedensdividende“ ist seit der Wiedervereinigung aufgezehrt worden. Um wieder verteidigungsbereit zu werden, braucht die Armee viel Geld. Entsprechendes gilt für das Vorhaben, die marode Infrastruktur, die seit Jahrzehnten vernachlässigt wurde, zu sanieren und auszubauen. Über beide Vorhaben besteht im Prinzip Konsens bei einer Mehrheit sowohl des alten als auch des neugewählten Bundestages. Aber bisher hatten die Unionsparteien eine Finanzierung durch neue Schulden abgelehnt. Vor der Wahl hatten sie die Schuldenbremse für unantastbar erklärt. Jetzt will die künftige schwarz-rote Koalition ein „Sondervermögen“ in Höhe von 500 Milliarden für die Infrastruktur schaffen und mit einer Aufweichung der Schuldenbremse Rüstungsausgaben in unbegrenzter Höhe (Merz: „whatever it takes“) ermöglichen. Aber darf der alte Bundestag dies jetzt noch schnell beschließen?

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Ein verfassungsrechtliches Problem ist der Plan, die für das Sondervermögen und die Durchlöcherung der Schuldenbremse erforderlichen Verfassungsänderungen vom alten Bundestag beschließen zu lassen, aus folgendem Grunde: Nachdem ein neuer Bundestag gewählt worden ist, gibt es eine Übergangszeit von maximal 30 Tagen, in welcher die Wähler zwar schon über die Zusammensetzung des neuen Bundestages entschieden haben, aber der neue Bundestag sich noch nicht konstituiert hat. Die Legislaturperiode des alten Bundestages endet mit dem Zusammentritt, also mit der Konstituierung des neuen Bundestages (Artikel 39 GG). Bevor der neugewählte Bundestag zusammentritt, ist der alte Bundestag für seine parlamentarischen Aufgaben noch zuständig. Es gibt nach dem Grundgesetz keine „parlamentslose Zeit“.

Aus dieser Regelung folgert die vorherrschende Meinung in der staatsrechtlichen Literatur, dass vor dem Zusammentritt des neuen Bundestages der alte Bundestag uneingeschränkt alle Beschlüsse fassen dürfe, die in den Zuständigkeitsbereich des Parlaments fallen.

Mit dem Wortlaut des Grundgesetzes ist diese Ansicht vereinbar. Aber Vorschriften der Verfassung sind nicht nur nach ihrem Wortlaut, sondern auch nach Sinn und Zweck der Regelung auszulegen. Die periodisch stattfindende Wahl des Parlaments ist das legitimatorische Zentrum des parlamentarisch-demokratischen Systems. Sie vermittelt dem Parlament und mittelbar auch der Regierung und den weiteren Staatsorganen demokratische Legitimation. Die Wahl verwirklicht das demokratische Fundamentalprinzip der Volkssouveränität: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, wie es in Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt.

Hat das Volk gewählt und damit über die Zusammensetzung des neuen Bundestages entschieden, dann könnte – auch nach dem Wortlaut des Grundgesetzes – dieser theoretisch bereits am Tag nach der Wahl zusammentreten und seine Arbeit aufnehmen. Es gäbe dann keine Übergangszeit zwischen Wahl und Konstituierung des neu gewählten Parlaments. Das ist aber aus praktischen Gründen nicht möglich: Es wird eine gewisse Zeit benötigt, um die Stimmen zu zählen und nach Feststellung des vorläufigen Endergebnisses die Auszählung zu überprüfen und das endgültige amtliche Endergebnis zu ermitteln. Erst auf dieser gesicherten Basis können die Parlamentsmandate verteilt werden. Und hierfür stellt das Grundgesetz eine Frist von maximal 30 Tagen zur Verfügung. Zweck der Übergangszeit, in welcher die Legislaturperiode des alten Bundestages noch andauert, ist also lediglich, einen parlamentslosen Zustand in der Zeit zu vermeiden, in welcher aus praktischen Gründen der neue Bundestag noch nicht zusammentreten kann.

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Betrachtet man diesen Zweck im Zusammenhang mit dem demokratischen Legitimationsprinzip, dann ergibt sich hieraus eine Begrenzung der dem alten Bundestag in der Übergangszeit zustehenden Kompetenzen. Mit der Wahl trifft das Volk idealtypisch eine politische Richtungsentscheidung. Entweder wird als Ergebnis der Wahl die bisherige Regierungspolitik bestätigt oder die Regierung verliert ihre parlamentarische Mehrheit und eine andere politische Richtung gewinnt die Oberhand. Jedenfalls in letzterem Fall geht die Staatsgewalt nicht mehr vom Volke aus, wenn der alte Bundestag noch Entscheidungen trifft, die im neuen Bundestag keine Mehrheit fänden.

Dem wird in der staatsrechtlichen Literatur entgegengehalten, dass doch der alte Bundestag durch die vorangegangene Wahl legitimiert sei und dass nach den formalen Regelungen des Grundgesetzes seine Zuständigkeit erst mit der Konstituierung des neuen Bundestages ende, also bis zu diesem Zeitpunkt seine aus der früheren Wahl resultierende Legitimation andauere. Diese Argumentation nimmt aber als gegeben an, was erst bewiesen werden müsste. Näherliegend ist die Annahme, dass mit der Wahl des neuen Bundestages die Legitimation des alten Bundestages im Grundsatz endet und nur zu dem einen Zweck noch als gegeben angesehen werden kann, bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages die staatliche Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Folgt man dieser Auffassung, ist aus Gründen der demokratischen Legitimation nach der Wahl eines neuen Bundestages der alte Bundestag nur noch für solche Entscheidungen zuständig, die unabdingbar getroffen werden müssen und sich nicht noch einige Tage bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages verschieben lassen.

Die Gegenansicht hat den Vorteil, dass sich anhand ihrer rein formalen Kriterien immer präzis bestimmen lässt, ob der alte Bundestag noch zuständig ist oder nicht. Auf ihrer Basis braucht man sich keine Gedanken darüber zu machen, ob eine Entscheidung unabdingbar und unaufschiebbar ist. Aber dieser Vorteil wird damit bezahlt, dass die von den Wählern abgewählte alte Bundestagsmehrheit noch schnell Entscheidungen gegen den Wählerwillen treffen kann, die für das Gemeinwesen von großer Tragweite sind und die Entscheidungsfreiheit des neu gewählten Parlaments gravierend beeinträchtigen. Das ist jedenfalls mit dem Geist der Demokratie unvereinbar.

Bis heute hat der Bundestag die Wahlentscheidung immer respektiert. Nur ein einziges Mal hat der alte Bundestag in der Übergangszeit bis zum Zusammentritt des neu gewählten Parlaments getagt und eine Entscheidung getroffen. Damals ging es um die parlamentarische Zustimmung zum Bundeswehreinsatz im Kosovo, die unaufschiebbar war und für die es sowohl im alten als auch im neuen Bundestag eine Mehrheit gab. Diese bisherige Praxis zeigt: Der Bundestag hat bisher respektiert, dass die Neuwahl eine neue demokratische Legitimation für den neu zusammengesetzten Bundestag hervorgebracht hat und dass die Legitimation des alten Bundestages nur für Notfälle ausreicht.

Was die Spitzenpolitiker der Unionsparteien jetzt mit den SPD-Sondierern verabredet haben, ist ein strategischer Missbrauch der dem alten Bundestag in der Übergangszeit noch zustehenden Kompetenzen. Für das neue Schuldenregime benötigen sie eine Änderung des Grundgesetzes. Die dafür erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit werden sie im neuen Bundestag wahrscheinlich nicht erreichen – Linke und AfD verfügen dort gemeinsam über eine Sperrminorität. Nicht wegen Unaufschiebbarkeit des Vorhabens, sondern allein zu dem Zweck, den neu gewählten Bundestag auszutricksen und ihn mit Hilfe der alten Mehrheit vor vollendete Tatsachen zu stellen, soll jetzt noch schnell der alte Bundestag entscheiden. Dieses Vorgehen zeugt von Verachtung des Wählerwillens, ja, von Verachtung des demokratischen Legitimationsprozesses. Eine abgehobene politische Klasse setzt sich arrogant über diejenigen hinweg, von denen in der Demokratie die Staatsgewalt ausgehen soll. Sie zeigt keinen Respekt vor dem Wahlergebnis und keinen Respekt vor dem Grundgesetz. Sie ändert noch schnell die Verfassung, weil sie die dafür erforderliche Mehrheit gerade bei der Wahl verloren hat.

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Das Bundesverfassungsgericht wird dies hoffentlich korrigieren. Sicher ist dies nicht. Der formalistische Standpunkt der Grundgesetz-Kommentatoren hält ja alles für kompetenzgemäß, was der alte Bundestag bis zur Konstituierung des neuen tut. Von diesem Standpunkt aus ist die beabsichtigte Grundgesetzänderung legal. Vom Standpunkt der demokratischen Legitimationstheorie aus wäre sie, wenn nicht illegal, so zumindest illegitim.

Eine der großen Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaates besteht darin, dass es in ihm grundsätzlich keinen Widerspruch zwischen Legalität und Legitimität gibt: Die Gesetzgebung ist demokratisch legitimiert, Exekutive und Gerichte an die demokratisch legitimierten Gesetze und alle Staatsorgane an die demokratisch-rechtsstaatliche, die Menschenwürde schützende Verfassung gebunden. Handeln die Staatsorgane legal, dann handeln sie in Übereinstimmung mit den das Grundgesetz prägenden Legitimitätsprinzipien.

Hält man – entgegen der von mir vertretenen Auffassung – Beschlüsse des alten Bundestages nach einer Neuwahl auch dann für legal, wenn sie ebensogut bis nach der Konstituierung des neu gewählten Bundestages aufgeschoben werden könnten, dann tut sich im Zeitraum zwischen Neuwahl und Konstituierung des neuen Bundestages eine Kluft zwischen Legitimität und Legalität auf: Der alte Bundestag handelt, wenn er von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, nur noch legal, aber nicht mehr legitim. Diese Diskrepanz schädigt zumindest das Vertrauen der Bürger in das Funktionieren der Demokratie.

Der Autor ist emeritierter Staatsrechtsprofessor an der Universität Freiburg.

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Kommentare ( 116 )

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Peter Pascht
17 Tage her

Bundestag und Bundesrat dürfen eine Verschudlgung nur dem Grunde nach beschließen, nicht der Höhe nach, denn der Geldbetrag de Verschuldung beeinflusst die Geldmenge, die Geldwertstabilität Inflation), Verschuldung = Inflation Verschuldung = die Ausgabe zusätzlicher Geldschein(Banknoten) was ausschließliches zuständiges Recht der Bundesbank ist. Für den Geldbetrag der Verschuldung bedarf es der Zustimmung der Bundesbank, weil diese die staatliche Aufgabe de Wahrung der Geldwertstabilität hat. Wird die Genehmigung der Bundesbank zur Höhe der Verschuldung im Haushalt nicht eingeholt, ist der Haushalt widerrechtlich und vefassungswidrig. Gesetz über die Deutsche Bundesbank § 2 Rechtsform, Grundkapital und SitzDie Deutsche Bundesbank ist eine bundesunmittelbare juristische Person des… Mehr

Last edited 17 Tage her by Peter Pascht
BKF
20 Tage her

Ich finde es grundsätzlich sehr bedenklich, wie oft das GG verändert wird, das doch Verfassungsrang haben soll, da es immer noch nicht zur Annahme einer Verfassung entsprechend dem Mechanismus im GG gekommen ist. Eine Verfassung sollte Grundsätzliches für den Staat regeln und nicht wie daraus abgeleitete Gesetze einer andauernden Überarbeitung und Änderung bedürfen. Ich sehe bei diesen dauernden Änderungen am GG eine mangelde Achtung vor den grundsätzlichen Regelungen des GG, man ist noch gar nicht reif für eine richtige Verfassung.

Last edited 20 Tage her by BKF
Peter Pascht
17 Tage her
Antworten an  BKF

bisher wurde das GG siet seinem Erlass 1949 schon 280 mal geändert.

Skeptiker
20 Tage her

Aber das sind doch die demokratischen Parteien.

Teiresias
21 Tage her

Natürlich verstösst er damit gegen das Demokratiegebot im Grundgesetz, weshalb das Verfassungsgericht das eigentlich stoppen müsste.

Aber das Verfassungsgericht ist nun mal längst politisches Werkzeug.

Rob Roy
21 Tage her

Mit „Infrastruktur“ hat Saskia Esken schon geklärt, was gemeint ist: „Soziale Infrastruktur“.
Das heißt, das Geld wird nicht in Brücken oder Schulen investiert, sondern dient der Finanzierung von NGOs, Bürgergeld, Flüchtlingshilfen und sonstigen linken Wohltaten.

DDRforever
21 Tage her

Aber so war die BRD doch schon immer. Legal, Illegal. Eben BRD.

WGreuer
21 Tage her

Bei derzeit ~2,5 Billionen Euro Schulden bedeuten zusätzliche 900 Mrd. mal schnell 36% Steigerung. Und das, obwohl Merz vor 4 Wochen(!) noch groß getönt hat, dass er an der Schuldengrenze unbedingt festhalten wolle, man dürfte nicht auf Kosten der Kinder leben und denen diese Last aufbürden. Es ist also unverfroren und es ist Wortbruch gegenüber dem Wähler zugleich. Dank des Boykotts russischer Energie und steigenden Energiekosten (der CO2 Preis steigt auf 200 €/to ab 1.1 27) ist mit einer erheblichen Inflation zu rechnen. Das bedeutet steigende Zinsen. Wir werden nicht mehr in der Lage sein, alleine die Zinsen zu zahlen.… Mehr

Alf
21 Tage her

Die Lösung wäre doch so einfach. Das eingefrorene Vermögen Rußlands wird konfisziert und für die Verteidigung verwendet. Finanzielle Wohltaten der Ampel an NGOs werden gestoppt und Leistungen zurückgefordert. Es gibt keine Entwicklungshilfe oder sonstige Leistungen für Staaten, die ihre Bürger nicht zurücknehmen. Bürgergeld erhält nur noch, wer dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Kein Bürgergeld an Ausländer. Ausländer sind keine Bürger. Auch kein Kindergeld an Personen, die gar keine Kinder haben u.a. Abgelehnte Asylbewerber/Wirtschaftsflüchtlinge erhalten kein Geld und wer nicht ausreisewillig ist, dem werden alle Unterstützungen, auch Sachleistungen, gestrichen. Dies sind nur ein paar Beispiele. Und schon ist Geld in der… Mehr

Armin Reichert
20 Tage her
Antworten an  Alf

Das eingefrorene Vermögen Rußlands wird konfisziert und für die Verteidigung verwendet.

So funktioniert Demokratie.

Mit Verlaub, ich glaube, dass Sie einen an der Waffel haben.

NurEinPhilosoph
21 Tage her

Das, was Merz auf Vorrat beschliessen lassen will, ist kein Haushalt im buchhalterischen Sinn: es ist eine unbegrenzte Bürgschaft.

NurEinPhilosoph
21 Tage her

Die Analyse übersieht ein wesentliches Problem. Die alte Regierung beschliesst vor ihrem Abtritt einen Sonderhaushalt der neuen Regierung. Dieser Sonderhaushaushalt besteht aus Blankoschecks, ist ausserhalb des ordentlichen Budgets und kennt keine Obergrenze mehr. Angesichts der Dimensionen (800 Mrd. , 1 Billion oder 1.5 Billionen oder X) stellt sich eine ganz andere Frage: kann die Bundesregierung überhaupt neue Staatsschulden in einem solchen Volumen im Anleihe-Markt unterbringen oder muss die Bundesbank dann der Bundesregierung wieder alle Schulden abkaufen, weil es sonst nicht genügend Käufer für diese neuen Staatsanleihen auf dem Markt gibt? Lässt die Bundesregierung also über die Bundesbank diese neuen Schulden… Mehr