Stromnetz „so sicher wie nie“? Kritiker widersprechen

Der durchschnittliche Verbraucher war im vergangenen Jahr bloß 11 Minuten ohne Strom. Medien folgern daraus, das Stromnetz sei „so sicher wie nie“. Kritiker widersprechen.

Verbraucher sind in Deutschland weniger von länger dauernden Stromausfällen betroffen. Die durchschnittliche Unterbrechungsdauer je angeschlossenem Letztverbraucher sei gefallen, teilte die Bundesnetzagentur mit. Der sogenannte SAIDI-Wert sank demnach im vergangenen Jahr auf 10,73 Minuten. Das sind 1,47 Minuten weniger als im Jahr 2019. Insgesamt ist das der geringste Wert seit der ersten Veröffentlichung im Jahr 2006.

Der Präsident der Bundesnetzagentur, Jochen Homann, erklärte, die Zuverlässigkeit der Stromversorgung sei im Jahr 2020 „sehr gut“ gewesen. „Die bisher niedrigste Ausfallzeit des Jahres 2019 konnte im Jahr 2020 erneut unterboten werden“, sagte der frühere Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. „Die Energiewende und der steigende Anteil dezentraler Erzeugungsleistung haben weiterhin keine negativen Auswirkungen auf die Versorgungsqualität.“

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Medien folgern aus der Aussage des Behördenchefs, dass die Stromversorgung hierzulande sehr sicher sei – und das trotz der Abkehr von Kohle- und Atomkraft. Etwa schreibt das Handelsblatt, das deutsche Stromnetz sei „so sicher wie nie“. Ähnlich titelte das Portal EnergieZukunft, als die Bundesnetzagentur im vergangenen Jahr die SAIDI-Kennzahl veröffentlichte: „Trotz Energiewende: Stromversorgung war nie sicherer“.

Kritiker widersprechen indes dieser Interpretation. „Der SAIDI-Wert berücksichtigt nur Ausfälle im Nieder- und Mittelspannungsnetz – die gefährlichen, großen Blackouts treten aber im Hochspannungsnetz auf“, erklärt der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge Herbert Saurugg. „Die Zahl sagt nichts über die Systemstabilität und die Zukunft aus.“ Maximal trage der SAIDI-Wert zur Truthahn-Illusion bei – also zur Fehlannahme, dass alles so reibungslos weiterlaufen werde wie in der Vergangenheit, obwohl sich Umgebungseinflussgrößen drastisch verändert hätten.

Der Experte für elektrische Energietechnik Georg Kerber erklärt, der SAIDI-Wert sei ein Maß dafür, ob die Verteilnetzbetreiber ihre Arbeit gut machten. “Es handelt sich aber nicht um ein Maß für das Blackout-Risiko”, fügt der Professor an der Hochschule München hinzu. Die Stromnetzbetreiber stünden nämlich in einem Zielkonflikt: Sie sollten gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag das Stromnetz sicher und günstig betreiben. Damit die Unternehmen den Sicherheitsaspekt nicht vernachlässigten und etwa zu wenig in die Netzinfrastruktur investierten, wird der SAIDI-Wert für die Bundesnetzagentur berechnet. Die Kennzahl schaffe Wettbewerbsdruck zwischen den Verteilnetzbetreibern – etwa wenn sie mit den Gemeinden verhandeln würden.

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Zwar lasse sich das Blackout-Risiko schwer definieren, aber es gebe Hinweise, dass das deutsche Stromnetz an die Grenzen seiner Sicherheitsreserven gelangt sei, sagt Kerber. „Bereits zwei Mal wurde in diesem Jahr das europäische Stromnetz aufgetrennt – am 8. Januar und am 24. Juli.” Das sei „sehr bedenklich“, auch wenn die Vorfälle nicht unmittelbar auf die Energiewende zurückzuführen seien. Außerdem sei die Zahl der Netzeingriffe wegen drohender Netzüberlastungen gestiegen. Die Verteilnetzbetreiber mussten öfters Kraftwerke an einem Ort abschalten und anderswo hochfahren, um eine Leistungsüberlastung zu verhindern. Diese sogenannten redispatch-Maßnahmen seien ein Zeichen dafür, dass die Ungleichgewichte im Stromnetz zunehmen würden. Sie seien sehr teuer und die Verteilnetzbetreiber würden nur auf sie zurückgreifen, “wenn sie keine andere Möglichkeiten mehr haben“, sagt Kerber.

Saurugg betont, dass der SAIDI-Wert sogenannte Netzwischer – also Stromausfälle im Millisekundenbereich – nicht enthalte. „Diese richten aber bereits heute große Schäden an“, sagt der frühere Berufsoffizier des Österreichischen Bundesheeres. Etwa sei im Jahr 2016 in einem Milchwerk bei Augsburg der Strom bloß für ein oder zwei Sekunden ausgefallen. Trotzdem habe der Schaden fast 50.000 Euro betragen. Hygienevorschriften hätten nämlich von der Molkerei verlangt, die Anlage komplett zu reinigen, sobald sie einmal stillgestanden sei, berichtet Saurugg.

Kerber hält es gleichwohl für richtig, dass die Bundesnetzagentur Unterbrechungen unter drei Minuten nicht einrechnet. „Ansonsten würden etwa auch Ausfälle durch Blitze erfasst – man kann aber nicht erwarten, dass Verteilnetzbetreiber solche Kurzunterbrechungen verhindern“, sagt der Professor. Das sei technisch zu aufwendig und wäre sehr teuer. Dennoch sei es falsch, aus dem SAIDI-Wert abzuleiten, dass ein großer Blackout unwahrscheinlich sei. Sicherheit sei der Abstand vom aktuellen Betriebszustand bis zu dem Punkt, wo ein Schaden passiere, sagt Kerber. „Es ist halt ein Unterschied, ob ein Schützenheim am Waldrand keinen Strom hat, oder ganz Europa im Dunkeln liegt.”

Zwar sank im vergangenen Jahr die durchschnittliche pro-Kopf-Dauer von Stromausfällen, die nicht auf höhere Gewalt wie Naturkatastrophen zurückzuführen waren und länger als drei Minuten dauerten. Aber die absolute Zahl dieser Ausfälle stieg an, teilte die Bundesnetzagentur mit. Insgesamt meldeten die 860 Netzbetreiber 162.224 Versorgungsunterbrechungen in der Nieder- und Mittelspannung. Das war ein Plus von etwa 1,5 Prozent zum Vorjahr.


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Kommentare ( 24 )

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bfwied
2 Jahre her

Es kann jeder selbst nachprüfen und sich selbst ausrechnen, wie viel Strom fehlt, wie viel wann zu welchem Preis zugekauft werden muss und wie die Situation nach Abschaltung der Kernkraftwerke und Kohle-/Ölkraftwerke aussehen wird. Diese Verlautbarung soll die Fata Morgana der Energiewender aufrechterhalten, die Leute in Sicherheit bzw. in den Schlaf wiegen. Es ist Propaganda, nichts anderes. An Strom brauchten wir in D. 2020 559,3 TWh, produziert wurden 488 TWh, davon weniger als 14 % mit Windkraft. Alle „Erneuerbaren“ kamen zusammen auf 50 %, erstmals, weil es ein sonnenreiches Jahr war, der Lockdown herrschte, der Strombedarf daher um ca. 25… Mehr

Peterson82
2 Jahre her
Antworten an  bfwied

Deutschland hat derzeit ca. 30GW installierte Gaskraftwerks-Leistung. Abgerufen werden im Moment etwa 10% davon. Es ist eben nicht so, dass durch Wegfall von Kohle und/oder AKW sofort ein Delta aufreisst, dass in einem Strom-Mangel mündet. Ich stimme zu, es ist naiv anzunehmen dass Deutschland überall und immer genügend Kraftwerksleistung aus regenerativen Energien zu jeder Tages und Nachtzeit erzeugen kann. Aber die Lösung sollte auch nicht sein dann an der Kohle-Verstromung festzuklammern. Diese Grundlastkraftwerke hatten ihre Zeit, sie haben Deutschland den Schub in der Industrialisierung gegeben, sind aber zu starr und unflexibel auf dem immer volatiler werdenden Markt. Meine Vorstellung: Kappt… Mehr

Joe Ast
2 Jahre her

Experten wie Herr Saurugg warnen seit längerer Zeit vor dem Blackout und dessen Auswirkungen in unserer „digitalen Welt“. Bedenklich ist vor allem die dann drohende „Kulturrevolution“. Höchstwahrscheinlich ist danach wirklich nichts mehr wie es vorher war…?

Ingolf
2 Jahre her

Dann Reihe ich mich einmal als „Kritiker“ ein. In meinem Stuttgarter Stadtteil beläuft sich die kumulierte Zeit des Stromausfalls für dieses Jahr bereits auf ca. 2h. Besonders „lustig“ in Zeiten von HomeOffice und da auch die Funkzellen der Mobilnetze (da feste Netzanschlüsse zuerst vom Strom gehen) nur für ca. 10-15 Minuten „gepuffert“ sind, ist auch nach kurzer Zeit „Sendeschluss“. Und die heimischen USVs haben auch nur eine begrenzte Leistung (aber ohne Anschluss zur Außenwelt auch nur begrenzt tauglich). Es kommt noch die Ironie bei Kommunikationsnetzen hinzu, dass das ehemals zuverlässige Festnetz auf IP-Telefonie umgestellt wurde und somit auch die „stinknormale“… Mehr

Sonny
2 Jahre her

Das Sie aber auch immer wieder die von der Regierung motivierten Lügen aufdecken müssen…
…ist ganz hervorragend. Danke.

Markus Machnet
2 Jahre her

Wer die Märchen derer glaubt die erzählen daß unsere Stromversorgung sicher ist – sorry – dem ist schlicht nicht zu helfen. Es gibt mehrere Internetseiten die den täglichen Stromverbrauch und dessen Erzeugung aufschlüsseln. Stellvertretend kann man die Seite agora-energiewende.de nennen. Dort wird sehr anschaulich dargestellt in welches Fiasko wir laufen wenn wir die Atomkraftwerke praktisch gleichzeitig mit den Kohlekraftwerken abschalten. Alleine in dieser Darstellung sieht man wieviel bzw. wenig an den beiden Tagen 20.08. und 21.08. die regenerativen Energiequellen zur Stromversorgung beitragen. https://www.agora-energiewende.de/service/agorameter/chart/power_generation/19.08.2021/22.08.2021/ Das sind lediglich 2 Tage. Gleiches gilt für den Zeitraum vom 03.08. bis 05.08. und 11.08. bis… Mehr

Ingolf Paercher
2 Jahre her

Am 12.08.2021 kam es sogar zu einem Klasse 2- Lastabwurf, bedeutet, man hat industriellen Großverbrauchern wie Verhüttungsbetrieben ohne Vorwarnung den Saft abgedreht.Wir sind schon in bestimmten Betriebssituationen jenseits der Reservesicherheit.
Das ist ist so, wie wenn man einen maroden Seelenverkäufer auf einen Hurrikan zusteuert. Bei jedem Brecher kann sein, daß er zerbirst. Nur werden es sehr viele Seelen sein, wenn das passiert.

Emmanuel Precht
2 Jahre her

Ich erinnere gut wie „Thomas die Misere“ dazu riet Vorräte für einige Zeit anzulegen. Den Grund verschleierte er. Wohlan…

November Man
2 Jahre her

Ein Land das sich selbst seine eigene sichere Stromerzeugung abschaltet das braucht irgendwann mal keine Stromnetze mehr.
Dann sind Petroleumlampen und Kerzen wieder angesagt und wir spielen Tag und Nacht „Mensch ärgere Dich nicht.“
Ja, es ist richtig, die Grünen Öko-Stalinisten transformieren uns alle mit ihren grünen Idiotologien wieder zurück ins Mittelalter.
Die Schuld dafür tragen die Wähler die solche Leute auch noch wählen.

Alois Dimpflmoser
2 Jahre her

Die Energieexperten diskutieren nicht mehr, ob es in der BRD zu einem langfristigen Blackout kommt, sondern nur noch wann!
Aber keine Bange, grüne Politiker können physikalische Naturgesetze außer Kraft setzen, wahrscheinlich können sie sogar die Schwerkraft aufheben, falls das zur Weltrettung erforderlich sein sollte!

89-erlebt
2 Jahre her
Antworten an  Alois Dimpflmoser

Wenn die Abschaltung der drei Atomkraftwerke im Norden mit ein paar kalten, dunklen Wintertagen, die dann bis Frankreich reichen, wird der Black out unvermeidlich sein. Dies kann schon im Jan.2022 der Fall sein. Dann wird schwarz-rot-grün den Einschalter für Moorburg suchen und die FfF Kids sich hoffentlich zum Schnee schippen melden.

Proll27
2 Jahre her

Lt. Aussagen des österreichischen Bundesheeres ist zu 100% mit einem europaweiten Blackout innerhalb der nächsten fünf Jahre zu rechnen. Und diese Zahl ist schon länger in den Medien … Aber egal: Deutschland pennt tief und fest und die Österreicher machen sich dran, ganze Gemeinden auf den Blackout vorzubereiten und Kasernen zu autonomen Rettungsinseln aufzurüsten. Staatliche Hilfen wird es in Deutschland im Blackoutfall mit Sicherheit nicht geben. Reichen diese Aussichten, liebe Deutsche, dass Ihr mal eine Schlafpause macht? Ihr könnt ja, wenn Ihr 2 Kerzen angeschafft habt, wieder in Tiefschlaf gehen.