Alle guten Dinge sind drei. Eine kurze Geschichte der Kanzlerstürze.

Die Koalitionen wurden nur formal vom jeweils kleineren Koalitionspartner beendet, eigentlich aber von der Kanzlerpartei selbst. Auch diesmal wieder - falls es so weit kommt.

Erst zweimal in der Geschichte der Bundesrepublik sind Koalitionen vorzeitig, also vor regulären Wahlen zerbrochen und Kanzler gestürzt worden. Die Zeit ist reif für ein drittes Mal. Gemeinsam haben die zwei historischen und der aktuelle Fall eines: Die Koalitionen wurden nur formal vom jeweils kleineren Koalitionspartner beendet, eigentlich aber von der Kanzlerpartei selbst. Auch diesmal wieder – falls es so weit kommt.

I.

Ludwig Erhard stürzt 1966. Nur ein Jahr zuvor hat er gegen Willy Brandt die Wahlen gewonnen. Zum ersten Mal erlebt die Bonner Republik nach stürmischen Wirtschaftswunderjahren eine kleine Wachstumsdelle. Erhard fordert, den Gürtel enger zu schnallen. Er lehnt – anders als die Mehrheit der CDU – staatliche Einriffe in die Wirtschaft ab. Eine Haushaltslücke von 7 Milliarden DM (!) will der Kanzler durch eine maßvolle Steuererhöhung ausgleichen. Widerstand kommt nicht nur von der FDP, sondern vor allem aus der CDU. Sie präferiert erstmals eine Große Koalition mit der SPD, als befinde sich das Land im Notstand. Denn rechts von der CDU rückt die NPD in einige Landtage ein. Befürchtungen kommen auf, dass die Schönwetterdemokratie schon dem ersten Windstoß nicht stand halten könnte.

Die Situation erinnert in mancher Hinsicht an heute. Erhards innerparteilicher Erzfeind Adenauer ist noch immer Parteichef. Er sieht eine Chance, seinen für führungsschwach gehaltenen Nachfolger loszuwerden. Und wie heute wieder spaltet auch ein außenpolitischer Zwist die Union: Gaullisten gegen Atlantiker. Setzt man mehr auf das Bündnis mit den USA oder auf Europa, das ist auch damals schon die Frage. Macron erweist sich als Nachfolger de Gaulles, wenn er die NATO für „hirntot” erklärt. AKK ist mit ihren unerwarteten Initiativen näher bei ihm als bei Merkel. Sie bringt die SPD-Minister Scholz und Maas gegen sich auf. Darin sieht sie ihre letzte Chance. Das ist nicht Außenpolitik, sondern der Machtkampf in Berlin.

Offiziell verlässt damals zwar die FDP die Koalition. In Wahrheit wird Erhard aber von der eigenen Fraktion gestürzt. Vor allem Fraktionschef Rainer Barzel tut sich dabei hervor. Er und Außenminister Gerhard Schröder blockieren sich gegenseitig, so dass als Außenseiter der Baden-Württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger das Rennen macht. Eine Große Koalition wäre nicht zwingend, aber die FDP lehnt das Comeback von Franz von Josef Strauß – diesmal als Finanzminister – ab.

II.

Helmut Schmidt stürzt 1982. Auch er ist nicht Parteichef – das ist Willy Brandt. Und der fordert die SPD auf, „selbst ein Stück grüner Partei“ zu sein. Er stützt damit Kernkraftgegner und Friedensbewegung, deren Fronten mitten durch die SPD gehen. Der NATO-Doppelbeschluss findet in der SPD keine Mehrheit. Massendemonstrationen, an denen auch Brandt teilnimmt, machen gegen Schmidt mobil. Schmidt nützt es nichts, dass er erst zwei Jahre zuvor die Wahl gegen Franz Josef Strauß haushoch gewonnen hat. Der soeben verstorbene SPD-Politiker Erhard Eppler schreibt kurz nach der Wahl: „Noch nie hat sich nach einer Regierungserklärung (…) eine solche Atmosphäre geistiger Öde verbreitet.“ Aber auch die Wirtschaft läuft nicht mehr rund. Die D-Mark muss abgewertet werden. Trotz Wachstumsschwäche steigen die Sozialausgaben. Weil Schmidt nur im Bündnis mit den Gewerkschaften überleben kann, macht er Zugeständnisse, plant eine Ergänzungsabgabe für Besserverdienende. Die wiederum lehnt der Koalitionspartner FDP ab. Am Ende geht es Schmidt nur noch darum, eine Legende zu inszenieren, welche die FDP als Verräter abstempelt. Er fordert die Liberalen auf, Kohl zum Kanzler zu wählen. Lambsdorff soll schriftlich ein Konzept zur „Überwindung der Wachstumsschwäche“ vorlegen. Eine Provokation. Der Marktgraf tut, was Schmidt von ihm verlangt und wird dafür zusammen mit den anderen FDP-Ministern entlassen, weil er damit das Fundament der Koalition verlassen habe. Per konstruktivem Misstrauensvotum wird Helmut Kohl ins Amt gehoben.

III.

Angela Merkel stürzt 2019. Es liegt in der Luft. Auch sie ist nicht (mehr) Parteivorsitzende. Auch in ihrer Partei wächst der Widerstand. Wieder wird dem Regierungschef das Erstarken einer radikalen Partei zum Vorwurf gemacht. Bei Erhard war es die NPD, bei Schmidt waren es die Grünen. Wieder lässt ein relativ kleiner Streitpunkt das Fass überlaufen. Bei Erhard und Schmidt waren es Steuererhöhungen, bei Merkel ist es die voraussetzungslose Grundrente. Anders als Erhard und Schmidt ist die gegenwärtige Kanzlerin bereit, des bloßen Machterhalts zuliebe alles zu schlucken, was der kleinere Koalitionspartner verlangt.

Merkel kennt keinen Schmerz – oder altmodisch ausgedrückt: keine Haltung. So zählt die gegenwärtige die Koalition erledigten Spiegelstriche im Koalitionsvertrag und verweigert die Aussprache darüber, wie schlecht das Land im Großen und Ganzen geführt wird. Bei den ersten beiden Kanzlerstürzen standen mit Kiesinger und Kohl personelle Alternativen zur Verfügung. AKK und Merz könnten sich wie einst Barzel und Schröder gegenseitig blockieren und ein Ministerpräsident (Armin Laschet) unversehens das Spiel machen. Doch wieder ist es die Kanzlerpartei selbst, die ihren Kanzler stürzen muss. An der SPD wird ihre Koalition nicht scheitern, die Angst vor Neuwahlen hält sie zusammen.

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Kommentare ( 85 )

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jansobieski
4 Jahre her

Sie geben sich die Antwort selbst, warum es nicht zum Sturz Merkels kommen wird: Merkel selbst hat keine Haltung. Sie steht für nichts, ist unendlich dehnbar, wie ein ekliger ausgelutschter Kaugummi, den man gerne ausspucken möchte, aber (noch) nicht kann. Also schluckt man ihn runter. Mit jenen, die sie bisher stützen sieht es nicht besser aus. Auch hier keine Haltung, keine Prinzipien, alles Duckmäuser und Jasager. Sie machen alles, um ihre Pfründe zu verteidigen. Der Verkauf der eigenen Großmutter wäre ein Leichtes für sie. Nein, ich habe keine Hoffnung, dass es zum baldigen Ende kommt.

Cluny
4 Jahre her

Herles trauert immer noch der CDU hinterher, bzw. glaubt an deren innere Gesundheit… unbelehrbar? Nicht sehen wollen? Sie kennen die „Definition“ von Wahnsinn?

EndemitdemWahnsinn
4 Jahre her
Antworten an  Cluny

Dass man um einen Toten trauert ist schon ganz normal und legitim. Aber eine zudem noch kurz bevorstehende Wiederauferstehung von den Toten überhaupt für möglich zu halten, ist schon sehr naiv. Die meisten Wähler müssen wohl genauso dummgläubig sein, wenn sie immer wieder diese Parteien wählen, die nur noch dem Namen nach existieren. Selbst Merkel hat ja ca. 15 Jahre gebraucht, die Partei so umzukrempeln, ja sogar 30 Jahre, um sie schließlich ganz zu zerstören. Ein Wiederaufbau, falls es den überhaupt geben kann, würde wohl mindestens genauso lange dauern. Das würden viele, die die alte CDU noch kennen, nicht mal… Mehr

Paul Pimmel - der Herr des Kosmos
4 Jahre her

Wenn Merkel stürzt, dann nur beim Skilanglauf, wie ja schon einmal geschehen. Die SPD wird bei den nächsten Wahlen alles verlieren und hat absolut keine Lust, die eigene politische Hinrichtung auch noch vorzuverlegen. Und die Grünen sind als Koalitionsnachfolger schon fest eingeplant… bei gefühlt 95% Programmübereinstimmung kein Problem.

Wolfgang Schuckmann
4 Jahre her

Sehr geehrter Herr Herles, die Szenarien, die Sie beschrieben, habe ich alle live miterlebt und davor noch viel, viel mehr. Beate Klarsfeld und ihre Kissingeragenda und davor die unselige Politik, die dazu führte, dass Deutschland nach Wk II erst richtig geteilt wurde. Zu all diesen Themata hatte der „Normalbürger“ zur damaligen Zeit so wenig Zugang wie auch heute. Dass „unsere“ Politik in Deutschland einen Fall in der Geschichte darstellt, den man nicht so einfach abhandeln kann, das wissen Sie mit Sicherheit und deshalb möchte ich vermuten, dass Ihnen wie mir ganz klar ist, wer hier die Spielregeln bestimmt. Merkel wird… Mehr

schwarzseher
4 Jahre her

Merkel stürzt nicht 2019, da zu viele in der CDU und der SPD bei Neuwahlen um ihre Posten bangen müssen. Bei den oben beschriebenen Kanzlerstürzen hatten die meisten Politiker neben Eigeninteressen auch Überzeugungen. Solche findet man heute nur noch ganz selten.

StefanB
4 Jahre her

„AKK und Merz könnten sich wie einst Barzel und Schröder gegenseitig blockieren und ein Ministerpräsident (Armin Laschet) unversehens das Spiel machen.“

Dann hätte die CDU genau was gewonnen? … Nichts! Mit der SPD könnte und würde es deshalb eins zu eins weitergehen, wie bisher. Es ginge also „weiter so“.

johndoe19
4 Jahre her

In Deutschland gibt es per Gesetz nur das konstruktive Misstrauensvotum als Mittel, einen Kanzler loszuwerden. Das aber hieße, dass im BT eine Mehrheit einen neuen Kanzler wählte. Diese Mehrheit sehe ich nicht.

Und wenn morgen die SPD aus der GroKo aussteigt, ändert sich nichts. Merkel müsste nur neue Minister ernennen und könnte ohne BT-Mehrheit weiter regieren. Und genau das ist ihr wichtigstes Ziel.

Agrophysiker
4 Jahre her

Also ich halte einen Zerfall der Koalition, und erst recht einen Sturz Merkels, vor Ende er Legislaturperiode für recht unwahrscheinlich. Denn dafür hat die SPD zuviel zu verlieren. Da würde wahrscheinlich die Hälfte der Abgeordneten ihr Mandat verlieren, undnoch mehr darum zittern. Merkel würde ehr mit Grün und selbst mitden Linken direkt zusammengehen als zurückzutreten. Denn sie teilt ja schon von Jugend an deren ideologische Gesinnung. Ansonsten hat sie die CDU weitgehend ausgesiebt, so dass da ein koordinierter Sturz auch von dieser Seite praktisch ausgeschlossen ist. Insbesondere, weil auch die CDU mit weiteren Mandatsverlusten rechnen muss. Nein, Merkel wird nicht… Mehr

Dr. Slonina
4 Jahre her

Wer sollte denn Merkel stürzen? 1966 und 1982 achtete man noch demokratische Regeln und hatte vor allem Leute, die Verantwortung für das Land auf sich nahmen. Heute gibt es eine gleichsam unantastbare Monarchin und einen Haufen von Duckmäusern und Abnickern in ihrem Umfeld sowie ein Parlament, daß in sich eine rot-grüne Sauce bildet und nur eine Aufgabe außer dem Abnicken von Regierungsbeschlüssen kennt: die Ausgrenzung jedweder Opposition, sprich der AfD, ob diese recht hat oder nicht.

Hannibal ante portas
4 Jahre her

Totgesagte leben länger.