DER SPIEGEL Nr. 46 – „Ich will weiterleben“

DER SPIEGEL - Nur bedingt Lesenswert. Der FOCUS ist im Fall Westerwelle präziser, der SPIEGEL unglaubwürdig; bei VW zu kurz gesprungen und den Fall Pirinçci nicht erfasst.

SPIEGEL-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer und Dirk Kurbjuweit heben in dieser Woche Guido Westerwelle auf den Titel. Anlass ist die Vorstellung seines Buches „Zwischen zwei Leben“, in dem er zusammen mit Co-Autor Dominik Wichmann beschreibt, wie sein Kampf gegen einen besonders bösartigen Krebs, die akute myeloische Leukämie, sein Leben und seine Perspektiven verändert hat. Wer genaueres über die Krankheit selbst und die Heilungsmethoden erfahren möchte, sollte den FOCUS zur Hand nehmen, dem das Buch gleichfalls vorlag, und in dem Medizin-Redakteur Kurt-Martin Mayer kurz und verständlich das Wesentlichste zur Therapie zusammenfasst.

Der Titel selbst ist kein Meisterstück der Interviewkunst. Die Mitgefühlsnummer nimmt dem SPIEGEL keiner ab. Schließlich war es der SPIEGEL, der Westerwelle bis auf´s Messer bekämpfte und demütigte. Vermutlich findet beim SPIEGEL ohnehin ein Liberaler nur dann Gnade, wenn ermöglichst abgehalftert oder todkrank ist. Und Mitgefühl kann der SPIEGEL daher auch nicht glaubwürdig. So wirkt die Gesprächsführung oberflächlich. Inhaltlich interessant ist Westerwelles glasklares Bekenntnis zur Flüchtlingspolitik von Angela Merkel, während sich sein Nachfolger Christian Lindner bisher nach allen Seiten offen zeigt. Überrascht hat mich Westerwelles Sorge, dass „das Projekt Europa noch nicht durch ist… Im Moment sehe ich vor allem Fliehkräfte“. Überrascht auch deshalb, weil im aktuellen FOCUS der renommierte Münchner LMU-Professor Klemens Joos in seinem Kommentar „Warum Europa so stark ist“ feststellt, dass sich Europa seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon 2009 in einer neuen Realität befindet. Sein Fazit: „Die Vereinigten Staaten von Europa sind schon sechs Jahre alt und auf dem besten Weg, früh erwachsen zu werden.“

Jan Fleischhauer zeichnet nach, wie Akif Pirinçci sich im Social Web dazu verführen ließ, mit immer provokanteren Äußerungen Beifall zu suchen, bis er jedes Gespür für Tabus verlor. Dann reichte ein Halbsatz, der ihn innerhalb von Sekunden gesellschaftlich vernichtete und dazu führt, dass er jetzt unter breitem Beifall eines nach Blut rasenden Publikums von Verlagen und Buchhandel boykottiert wird. Es sind viele Seiten Text und Fleischhauer kommt Pirinçci als Person näher – und bleibt stecken. Denn längst setzt sich Pirinçci ja mit buchstäblich Dutzenden von Prozessen gegen die Verdrehung seines Halbsatzes zur Wehr; ein Thema, das bereits vergangene Woche in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung angerissen worden war. Mittlerweile wird aus dem Fall Pirinçci eher ein Fall „Lügenpresse“: wie immer man zu dem stehen mag – ein Zitat zu verfälschen geht halt nicht. Und jetzt ist dies Wasser auf die Mühlen derer, die diese Art Medien unter „Lügenpresse“ subsumieren. Fleischhauer springt zu kurz; seine Einfühlsamkeit gerät zur Masche einer journalistischen Personifizierung, die eher ablenkt als den Kern des Geschehens zu erfassen – die bereitwillige Einseitigkeit und Fehler in der Berichterstattung und das gesellschaftliche Klima, das den Pranger wieder fordert und dabei die Werte der Gesellschaft mit Füssen tritt – denn diese Werte zeigen sich im Umgang mit Außenseitern – und als solchen hat Fleischhauer Pirinçci trefflich geschildert.

Etwas versteckt und angestaubt weist der Spiegel darauf hin, dass der BND die USA, Polen, Österreich, Dänemark und Kroatien ausspionierten. Und das schlimmste: Die Spitzel spionierten sogar die Hotline des US-Außenministeriums für Reisewarnungen aus. Damit wird die Zurückhaltung verständlich, mit der das Kanzleramt auf das Abhören von Merkels Handy durch amerikanische Dienste reagierte.

Eine Zumutung ist der Leitartikel von Dietmar Hawranek: „Zerschlagt diesen Konzern!“ Die starke Meinung zur Zukunft von VW wird nicht durch Fakten zur Machbarkeit untermauert. Da muss man schon mal auch nachrechnen, wie groß die Summe der Teile wäre und für wen sich eine Zerschlagung rechnet. Vielleicht warten ja Raider wie Warren Buffet nur auf ihre Gelegenheit.

Der SPIEGEL Nr. 46 in dieser Woche: Der FOCUS ist im Fall Westerwelle präziser und der SPIEGEL unglaubwürdig; bei VW zu kurz gesprungen und den Fall Pirincci nicht erfasst: Da gilt nur das Prädikat „bedingt lesenswert“.

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