Der Spiegel Nr. 32 – Der Sommer, der nie endet

Apokalypse now - es ist etwas wärmer, und klar: Die Welt geht unter. DER SPIEGEL gekonnt bei dem, was er am besten kann: Die Beschwörung des Untergangs, die sich am besten aus einem wohlgekühlten Redaktionsbüro schreibt. Und immer sachlich.

Da kommt ein heißer Sommer („Fast ein Jahrhundertereignis“, Deutscher Wetterdienst) und schon ist Deutschland im Ausnahmezustand. Und die Spiegel-Redaktion findet ein Ferienthema. Der Inhalt passt nicht zum Titel. Denn die Story wird ohne die sonst allgegenwärtige Moralisierung oder erhobenen Zeigefinger erzählt. Ich habe lange keine Titelgeschichte des Magazins mehr gelesen, die handwerklich so gut gemacht war. Endlich mal kein Schmoren im eigenen Wissenssaft, sondern Auseinandersetzung mit vielen verschiedenen Aspekten und den dazu gehörigen handelnden Personen.

Unangenehm fällt allerdings auf, dass in den Schlagzeilen auf dem Titelblatt und im Teaser, die Hitzeperiode in Bildzeitungsmanier marktschreierisch konnotiert ist mit dem Schlagwort, Klimawandel. Dies, obwohl im Text selbst darauf hingewiesen wird, dass ein Zusammenhang möglich, aber nicht bewiesen ist – nicht zuletzt deshalb, weil Klimazusammenhänge äußerst komplex und das Wissen darüber immer noch als verhältnismäßig gering einzuschätzen ist.

Als Lohn für all den Schweiß, der den Leser in diesen Tagen überkommt, hätte ich mir mehr Aspekte erwartet, welche möglichen positiven Effekte eine dauerhafte Erwärmung unserer Breiten mit sich bringen könnte. Denn, wo es Verlierer gibt, gibt es auch Gewinner – mehr jedenfalls als den angeführten pfälzischen Winzer Stephan Knipser, dessen Vater schon vor 30 Jahren auf sonnenhungrige Reben setzte. Sogar einen Gelben Orleans baut er an, eine Rebsorte, die vor 1.200 Jahren angeblich der Lieblingswein Karls des Großen war, allerdings im deutschen Weinbau ausgestorben, weil sie zu spät reifte. Was lehrt uns das? Es sind große Klimakreisläufe, denen unsere Breiten ausgesetzt sind. Und: Die Natur ist schlauer als wir Menschen, die permanent in sie eingreifen wollen, in der irrigen Annahme, dass unsere Wissenschaft besser sei.

Die meisten Startups müssen viel Geld in die Hand nehmen, wenn sie via PR-Maßnahmen ihrer Zielgruppe mitteilen wollen, dass es sie gibt. Nicht so Sahra Wagenknecht. Ihr räumt der Spiegel mit gleich drei Beträgen „Aufstehen für Sahra“, „Linker Zeitgeist“ und „Raus aus der Wagenburg“ fünf Seiten ein, um die neue linke Neidpartei namens „Aufstehen“ bekannt zu machen, mit der die Reichen ärmer und die Armen reicher gemacht werden sollen. Inhaltlich bleibt bei mir von „Aufstehen“ nur hängen, dass es jetzt eine „Bewegung“ gibt, die vielleicht „Vorwärts“ geheißen hätte, wenn die Marke nicht bereits besetzt wäre. Ob Wagenknecht die Unterstützer auf Dauer bei der Stange halten kann, darf bezweifelt werden. So schreiben enttäuschter SPD-Mann Marco Bülow, Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen und Alt-Grüne Antje Vollmer in ihrer Unterstützer-Botschaft: „Wer sammeln will, muss auch sammeln können. Er muss die Fähigkeiten und den Willen besitzen, alte Gräben zu überwinden. Toleranz und Respekt im Inneren, Überwinden von Sektierertum und ideologischen Grabenkämpfen, größtmögliche Offenheit der Debatten und keine Verratsvorwürfe – diese Punkte sind unverzichtbar, wenn man die chronische Spaltungstendenz linker Bewegungen sowohl in der Form wie auch im Inhalt überwinden will.“ Das liest sich wie das Pfeifen im Walde oder drastisch ausgedrückt wie eine Abgrenzung von dem immer wieder zutage tretenden Verhalten Wagenknechts. Wohin es die „Bewegung“ – ein historisch belastetes Wort  – treiben wird, ist abzuwarten. Jedenfalls überschlägt sich der SPIEGEL geradezu. Es ist ja die gute Seite, die aufsteht. Bürgerproteste von der anderen Seite, wie in Dresden, dürfen darauf nicht hoffen. So einfach ist das Weltbild in Hamburg. 

Cornelia Schmergal berichtet in „Am Ende der Nacht“ für meinen Geschmack zu gefühlsduselig und wohlwollend über den Gesundheitsminister Jens Spahn, der die Kliniken zu Einstellungen von Pflegekräften zwingen will. Wer sich nicht fügt, wird mit finanziellem „Liebesentzug“ bedroht. Die Crux, auf die Schmergal nicht eingeht: Die Anzahl Pflegekräfte, die benötigt würden, um den Pflegenotstand in den Kliniken zu beseitigen, sind in Deutschland nicht vorhanden. Es geht bereits die sarkastische Bemerkung durch die Klinikverwaltungen, Herr Spahn solle doch einfach einen 3-D-Drucker aufstellen. Damit mache man sich die Pflegekräfte selbst.

Im Bundestag tun sich schlimme Sachen. Der Spiegel mutmaßt, dass die Dauerbelastung der Bundestagsverwaltung den Betrieb gefährde. „Steno bis zum Umkippen“ gibt einen Einblick in die Unwilligkeit des Politikbetriebs, sich zu verändern. Veit Medick und Ann-Katrin-Müller ereifern sich über zu lange Dienstzeiten von Bundestags- und Kantinenmitarbeitern. Das Problem: Die Sitzungen dauerten in der aktuellen Legislaturperiode so lange, weil die AfD nicht das Spiel der etablierten Parteien mitspiele und Reden zu fortgeschrittener Stunde zurückzöge. Es liegt nicht an der AfD, dass es nicht zuletzt die allzu eingefahrenen Absprachen sind, die Parteienverdrossenheit schüren. Demokratie sollte uns viel wert sein. Nicht nur, aber auch: Zeit für Debatten und ganz besonders entsprechendes Personal, um die Debatten zu protokollieren. Und immerhin: Es war die Weigerung der Alt-Parteien, das Wahlgesetz zu ändern, das statt grundgesetzlich vorgeschriebener 598 Abgeordnete plötzlich 708 in das Parlament und die Kantine schickt. Jetzt so tun, als ob es die Ausübung der parlamentarischen Arbeit ist, die Überstunden produziert, ist mehr als nur ein fragwürdiges Demokratieverständnis.

Günther Oettinger fordert in „Das machen unsere Freunde nicht noch mal mit“ die CSU zu einem stärkeren Pro-Europa-Kurs auf. Augenfällig an dem Gespräch ist, dass dort zwei Welten verbal nebeneinander stehen, die miteinander nichts zu tun haben. Müller, der immer wieder zur unermüdlich vorgetragenen Floskel des Populismus greift und Oettinger zu entsprechenden Positionen treiben will, und der EU-Kommissar, der jenseits von Journalismus-Floskeln und Zeitgeist seinem Amt nachgeht.

Wer ist der wahre Christian Lindner? Der Retter der FDP  wird von der Redaktion nicht im Ressort <Politik>, sondern im Ressort <Gesellschaft> portraitiert. Marc Hujer hat ihn begleitet. Einen Tag lang. In Lindners Porsche 911. „Ein Männertraum“.  Es ist ein Stück, das harmlos daher kommt und doch gefährlich ist. Denn das Stück sagt: Die Granden der FDP, die das Etikett ‚Spaßpartei‘ doch so gerne ablegen wollten, kultivieren es weiter, statt sich davon zu lösen. Ein Affront gegenüber der hart arbeitenden Basis, die um Stimmen bei Kommunal- und Landtagswahlen kämpft. Christian Lindner droht der Verlockung zu erliegen, die eine Kunstfigur mit sich bringt. Oder wurde Lindner reingelegt? Die übliche Masche – der Journalist gibt sich wohlwollend und wird zum Schnellrichter, sobald er am PC sitzt? Lindner  wird kämpfen müssen, um dieses Etikett wieder abzulegen. Denn natürlich ist ihm ein Porsche zu gönnen. Nur – die Neidgesellschaft verzeiht nicht.

Seit einem Monat gibt es im Spiegel die Sommerserie zum Thema bezahlbarer Wohnraum. In dieser Woche geht es darum, wie Bürgermeister und Stadträte versuchen, die Mietsteigerungen zu stoppen. Im einem Interview fordert Ex-Bundesjustizminister und ehemaligem Oberbürgermeister von München, Hans-Jochen Vogel, die Preissteigerungen bei leistungslosen Gewinnen, also auch bei Bauland für die Allgemeinheit abzuschöpfen(„Spekulationen eindämmen“). Mir ist unklar, was das volkswirtschaftlich bringen soll. Wagenknecht und die SPD werden den Vorschlag sicher begeistert aufgreifen.

Ein Jahr lang stand die Lufthansa in dem Ruch, die Pleite von Air Berlin mit betrieben zu haben. Dinah Deckstein und Martin U. Müller zeigen in „Verkalkuliert“ eine andere Lesart. Air-Berlin-Großaktionär Etihad schaffte es seinerzeit, verschiedene Interessengruppen gegeneinander auszuspielen. Nach dieser Lesart wäre der Bundesregierung vorzuwerfen, sie habe sich in (gutem) Glauben auf eine Rettung und abgeschreckt von potenziellen Bildern gestrandeter Kunden ausnutzen und zu absehbar ineffektiven Rettungsaktionen hinreißen lassen.

Im Spiegel-Gespräch „Europa ist futsch“ räumt Romain Leick dem französischen Soziologen Emmanuel Todd viel Raum für dessen Thesen ein. Laut Todd hätten sich in Europa „seit der Steinzeit … durch die Geschichte der Menschheit unterschiedliche Familiensysteme herausgebildet und verbreitet, die bis heute die Mentalitäten, die Werte, die Moral, die Sitten und damit die Verhaltensweisen zutiefst prägen. Sie sind viel älter als die Religionen, die mit ihnen in einer komplexen Wechselwirkung stehen. Denn jede Religion hat etwas zu Sexualität, zur Reproduktion, zur Beziehung, von Mann und Frau zu sagen.

Familie und Religion bildeten gewissermaßen das Unbewusste der Gesellschaften, während Wirtschaft und Politik sich an der Oberfläche der Geschichte, im Bereich des Bewusstseins abspielten. Das Gespräch dokumentiert ein ungewohntes Bild von Historie und Soziologie mit der Schlussfolgerung, dass der „gute, kritische, demokratische und liberale Partner“ für Deutschland Großbritannien sei. 

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Kommentare ( 10 )

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Alf Egner
5 Jahre her

Alles in dieser Kolumne ist immer gut recherchiert. Was ich aber net versteh, ist,
dass damit quasi dem Spiegel eine Wichtigkeit gegeben wird, die er nicht hat. Als sei der Spiegel das Nonplusultra. Ich könnte auch fragen: Wer oder was ist der Spiegel ??!?

Fun Thomas
5 Jahre her

Den „Spiegel“ lass ich mir schon lange nicht mehr schenken.

giesemann
5 Jahre her

Wegen solcher Interviews wie dem mit E. Todd lese ich den „Spiegel“ noch – der Rest ist mehr oder weniger Schweigen, Mist.

pcn
5 Jahre her

Glückwunsch, Herr Lindner zum 911er! Auch von mir ein „Männertraum“! Welch zeitloses Auto! Einfach nur perfekt. Aber der Spiegel! Hat die Bundesrepublik Deutschland keine anderen Sorgen, als sich ums Wetter zu kümmern? Und um Sarah Wagenknecht? Und um Antje Vollmer? Und als Krönung des Feuilletonnismus der Mann, den man in Baden Württemberg nicht mehr als Ninisterpräsidenten sehen wollte, und der sich in Brüssel um eine Plastiksteuer europaweit kümmert? Auf Plasikgeschirr plus Messer und Gabrln kommt nach seinem Willen eine deftige Steuer drauf. Und jetzt essen wir unsere Würstchen vom Grill eben mit der Hand und legen reichlich Papierservietten bei. Wäre… Mehr

Klaus Mueller
5 Jahre her

Ist das ein neues Qualitätsmedium? Nie davon gehört. Seit Jahren nicht. Der Titel und der besprochene Inhalt sind unglaublich stark und verspricht mehr an Entwicklung in diesem Land der Dichter und Denker.

Paul J. Meier
5 Jahre her

Die Verkaufszahlen des Spiegels sprechen für sich und auch die alten, weißen Gewohnheitsleser werden weniger. Über Neuleser unter den Neubürgern dürften sich die Spiegelmacher wohl auch keine großen Hoffnungen machen, aus diversen Gründen. Der Sommer wird trotzdem noch vor dem Spiegel in die Kniee gehen. 😉

NordChatte
5 Jahre her
Antworten an  Paul J. Meier

Leider! Ich war auch mal Abonnent.

Micha
5 Jahre her

Der Spiegel war in dieser Hinsicht schon immer ein hysterisches Käseblatt. DER SPIEGEL 1974: „Katastrophe auf Raten“ Eine Eiszeit wurde heraufbeschworen. DER SPIEGEL 1977: „Wärmeperiode geht zu Ende“ S.o. Klimawechsel in den Medien: Von Eiszeit zur glabalen Erwärmung in 30 Jahren: https://homment.com/climate-change1 DER SPIEGEL 1981: „Saurer Regen über Deutschland – Der Wald stirbt“ DER SPIEGEL 1984: „Der Schwarzwald stirbt“ Der Wald in Deutschland im Allgemeinen und in Baden-Württemberg im Speziellen wird immer vielfältiger. Das hat die bundesweite Waldinventur ergeben, bei der in 2011 und 2012 zum dritten Mal sämtliche Baumbestände in der Bundesrepublik erfasst worden sind. Im Vergleich zu den… Mehr

Fragen hilft
5 Jahre her
Antworten an  Micha

Vielen Dank für die fleissige Zusammenstellung. Faktische Zusammenstellungen schrumpfen Emotionen auf ihre angemessene Bedeutung. Danke

giesemann
5 Jahre her
Antworten an  Micha

Daumen hoch auch von mir, lieber Micha. Was der „Spiegel“ nicht anspricht, um’s Verrecken nicht, das ist das EINZIGE WIRKLICHE Problem, das wir global haben: Die rasch ansteigende Bev.-zahl. Nicht in Europa, das passt denen nicht, denn das würde ja bedeuten: Die Euros machen alles richtig mit ihren 1,5 Kinderchen pro Frau, für die sie gut sorgen können – alle anderen nicht. Bis zum Jahre 2050 so circa kommen noch einmal 2.500 Millionen Erdenbürger hinzu – etwa so viele, wie überhaupt auf Erden gelebt haben zur Zeit meiner Gnadengeburt (um 1950). Dann werden es 10.000 Millionen sein, mit fürchterlichen Folgen,… Mehr