DER SPIEGEL Nr. 22 – neues Reisemagazin am Kiosk

Paris – ein Ort der Liebe und des Geliebtwerdens, ein Ort der Kultur, ein Ort zum Träumen, ein Ort der Hoffnungen. Das richtige Thema, um das Selbstbild der SPIEGEL-Redaktion zu beschreiben.

Paris – ein Ort der Liebe und des Geliebtwerdens, ein Ort der Kultur, ein Ort zum Träumen, ein Ort der Hoffnungen. Das richtige Thema, um das Selbstbild der SPIEGEL-Redaktion zu beschreiben. Als Ort der Anschläge – darüber wurde unlängst viel geschrieben – wird Paris diese Mal nur am Rande gestreift, ebenso als Ort der Streiks, als Ort des Chaos.

Ein Traum von Liebe

Die Titelstory „Ein Fest fürs Überleben“ könnte genauso gut ein Reisemagazin über Paris eröffnen – jede Menge Klischee, obwohl die Autoren Ullrich Fichtner und Julia Amalia Heyer genau das nicht wollen, wie sie immer wieder durchblicken lassen. Und doch können oder wollen sie sich davon nicht trennen. Gar nicht zusammen passt die Klage darüber, dass sich nur noch die Etablierten Wohnungen im Stadtzentrum leisten können – und dann führen Größen wie der Journalist Georg Stefan Troller und Renzo Piano durch ihr Paris. Für ein Reisemagazin Paris ebenfalls zu empfehlen „Die Stadt der Erinnerungen“, kurze, schön geschriebene Stücke über die Pariser Lieblingsorte von SPIEGEL-Redakteuren. Oder ist es der Auftakt zu einer neuen SPIEGEL-Extention: nach SPIEGEL Wissen und SPIEGEL Geschichte jetzt SPIEGEL Reise?

Tatsache ist: Es ist ein Stück Eskapismus. Vergangene Woche entdeckte die SPIEGEL-Redaktion, dass es sogar eine Zunahme von Wohnungseinbrüchen gibt. Diesem Einbruch der Wirklichkeit in das heile Leben der Schreibmillionäre kann nur mit diesem Traum-Stück begegnet werden.

Näher, Putin zu Dir

Peter Müller, Ruben Rehage, Michael Sauga und Christoph Schult berichten über die vorsichtige Annäherung der EU an Putin, die in der nächsten Zeit zur Aufweichung der Sanktionen gegen Russland führen könnte. Warum nicht? Wenn Donald Trump mit der Auflösung der Nato droht, wird es Zeit, dass Deutschland und Russland wieder näher zusammenrücken. Näher, Putin zu Dir, ist ohnehin das Lied der Stunde, seit Europa mal wieder solidarisch Griechenland rettet und in der selben Woche Putin per Staatsbesuch demonstriert, dass er längst einen Fuß auf dem Nacken Europas hat – und Griechenland seinem Ruf als Gaunerstaat alle Ehre machen will.

Bei den parteipolitischen Themen bleibt die aktuelle Ausgabe schwach. Ein Pflichtstück von Wolf Wiedmann-Schmidt zum Parteitag der Linken über die „Zwangsehe“ zwischen Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht. Muss man das lesen? Die Linke schrumpft wohl noch schneller als die SPD; einen festen Platz hat sie wohl nur noch im Herzen der Spiegel-Macher. Mehr um Vernunftehe geht es bei CDU und CSU. Da wird immer noch fieberhaft nach einem neutralen Ort für ihr klärendes Beziehungsgespräch zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer samt kleiner Entourage gesucht, wie Ralf Neukirch beschreibt („Irgendwie, irgendwo“). Das ist wirklich sehr witzig zu lesen und ein gewinnbringender Einblick in das Innenleben der feindlichen Schwestern.

Die SPD hat in dieser Woche im SPIEGEL gar keinen Status. Das ist allerdings treffend. Dafür eine Spurensuche: Gibt es sie oder gibt es sie nicht, die Liebesbeziehung zwischen AfD und Pegida? Melanie Amann fand vor allem im Osten „Rechte Freunde“. Klar, die Ossis sind nur Bundesbürger auf Bewährung. Sie müssen sich die Anerkennung durch den SPIEGEL erst noch erarbeiten; abweichende Meinung, wo kämen wir dahin. Außer dann, wenn es Redaktionskonsens ist. Grünen-Chef Anton Hofreiter zeigt im Gespräch mit Alexander Neubacher und Britta Stuff ein simples Weltbild: „Zack, verboten“ – schlecht für jedweden Beziehungsstatus und hilfreich für das Verständnis der Grünen.

Dass Hedgefonds-Manager ein differenziertes Weltbild hätten, kann man auch nicht behaupten. Das Interview von Martin U. Müller („Es geht um die Existenz“) mit Investor Christopher Hohn legt die Denkmuster offen.

Klasse im Abseitigen

Aus voller Seele dankbar bin ich Johann Grolle für seinen Wutausbruch: „Nieder mit den Passwörtern!“ Geärgert hat mich der Beitrag „Die Geburt des Monsters“. Und zwar deshalb, weil Autor Wolfgang Höbel sich in etlichen Details auf Wolfgang Behringer beruft. Dessen lesenswertes Buch „Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in eine Krise stürzte“ wurde bereits zum Erscheinen Ende 2015 in der Literaturbeilage des SPIEGELs umfassend beschrieben.

Empfehlen möchte ich in dieser Woche das brillante Sonderheft „Kreativität. Der Schlüssel zu Glück und Erfolg“ aus der Reihe SPIEGEL Wissen. Der Höhepunkt darin ist für mich das Interview von Thomas Schulz mit dem weltweit führenden Evolutionsforscher Jared Diamond über die Faktoren, die zum Auf- und Abstieg von Nationen führen. „Wer sich gegen jeden Wandel sperrt, zerfällt zwangsläufig“. Laut Diamond sind die USA besonders starr: „Die USA versteifen sich zu sehr auf eine Haltung, die sich ‚American Exceptionalism‘ nennt: Wir sind total anders als alle anderen, wir sind außergewöhnlich und können deswegen von niemandem etwas lernen“.

Zum Schluss: „Gleiches Notdurft-Recht für alle!“, fordert Markus Dettmer. Es gibt, so scheint es, in Deutschland rechtsfreie Räume: die Toilette beziehungsweise das Urinieren im Dienst, ist so einer – aber nicht mehr lange. Weil es ach so menschlich ist, wird die hin und wieder notwendige Verrichtung während der Arbeitszeit von Arbeitgebern und deren Versicherungen gerne mal als privat eingestuft – in Juristendeutsch „eigenwirtschaftliche Tätigkeit“ –, die Räumlichkeiten dafür gleich mit. Und wenn dort etwas Größeres passiert, etwa ein Unfall, wird die Haftung weit von sich geschoben. Ist ja auch unangenehm. Jetzt muss das Bundesverwaltungsgericht ein Machtwort sprechen. Ach ja: Wenn ein Zimmermann nach einem Richtfest hackevoll mitten auf der Straße uriniert und dabei von einem Auto erfasst wird, ist das ein Arbeitsunfall. Denn ein Richtfest diene dazu, die gute Laune zu heben, befanden die Richter.

Im Abseitigen ist der SPIEGEL eben immer noch Klasse.

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