Europas letztes Reich: Siebzehn Jahre länger als Lissabon

Ob Russland aufgibt und verarmt, oder siegt und in der Ukraine die Renten bezahlen muss, Moskau wird zum teuren Wasserkopf, der niemand mehr mit Schecks ruhigstellen kann. Nicht mal die Dateninfrastruktur wird funktionieren, weil die besten Köpfe das Riesenterritorium, das kein Reich mehr ist, längst verlassen haben.

IMAGO / SNA
Putin und Xi am 4.2.2022 in Peking

Über Jahrhunderte hinweg gilt in Europa als empörende Ungerechtigkeit, wenn eine Nation größere oder bessere Stücke der übrigen Welt raubt als die Nachbarn. Die wiederum lauern nur auf die nächstbeste Gelegenheit, Teile der entgangenen Beute an sich zu reißen. Während die unterworfene Menschheit verzweifeln mag, ist man in Europa immer nur maßlos wütend über noch ruchlosere Mitchristen. Nie endendes Misstrauen, dass man ihnen etwas abjagen könnte, durchtränkt die Herrscher von neunzig Prozent der Erde.

Niemand zweifelt daran, dass man Welteroberung kann. Verstanden wird sie allerdings nicht. Als 1770 Neu-Holland zum britischen Australien wird, ist der Kuchen weitgehend verteilt. Ab jetzt gibt es ein Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt, muss der andere verlieren. Das alles betreibt man ohne Funk, Elektrizität, Dampfschiffe, Eisenbahnen oder gar Flugzeuge.

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Doch man hat zwei unwiderstehliche Komponenten. Vom späten 15. Jahrhundert bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ist von der Sexualität straf- und sündenfrei allein der in der Ehe vollzogene Fortpflanzungsakt. Zugleich sorgt die Eigentumswirtschaft mit ihrer Dauerangst vor Bankrott permanent für tödlicheres Gerät auf den Waffenmärkten. Während man weltweit bei Eroberungen stirbt und Nachwuchs zum Siedeln verschifft, wächst daheim immer das Mehrfache davon nach. Bis 1914 wächst deshalb auch der Heimatkontinent von 50 auf 500 Millionen Einwohner. Aufgrund ihres geringen Durschnittsalters gehören zu diesen üppigen 28 Prozent der Weltbevölkerung volle 35 Prozent aller Krieger. Spätestens nun können die Spannungen nicht mehr nach Übersee verlagert werden. Bei ihrer Entladung in Europa verlieren über acht Millionen Mann ihr Leben. Die meisten stammen aus den demografischen Portokassen.

Schon 1915 beginnt das Fallen der durchschnittlichen Kinderzahlen pro Frauenleben von in der Spitze 6 auf heute nur noch 1,5, weshalb Europa nach 1945 fast alle Kriege verliert. Während in den Kolonien die Sohneszahlen auf 4 pro Frau hochschnellen, fallen sie daheim auf einen einzigen Jungen und seit den 1970ern, zuerst in Deutschland, noch darunter.

Lange will man nicht hören, obwohl Vietnams Rebellenführer Ho Chi Minh schon 1946 die Franzosen warnt: „Ihr werdet zehn von uns töten, und wir werden einen von euch töten. Ihr aber werdet zuerst erschöpft sein.“ 1954 ziehen sie nach der Niederlage von Dien Bien Phu geschlagen ab. Lernen wollen sie immer noch nicht.

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Überall in Europa leidet man bei den Herrenvölkern am Verlust der Größe. Nationalistische Bewegungen für ihren Erhalt sind die Folge. Für die weiße Herrschaft im Kongo agiert CADBA (Comité d’Action et de Défense des Belges d’Afrique / Komitee für Aktion und Verteidigung der afrikanischen Belgier). Der Machtübernahme am nächsten kommen die Reaktionäre in Paris. Seine Ukraine heißt Algerien, wo ein Sechstel der Einwohner Franzosen sind und fast alle ihre Sprache beherrschen. Doch die Generäle der OAS (Organisation de l’armée secrète) scheitern 1961 zweimal an der Ermordung von Staatspräsident Charles de Gaulle. Deshalb soll die geliebte Heimat unansehlich gemacht werden, bevor man sie ganz verliert. Nicht nur Algiers Universitätsbibliothek und Orans Kulturpalast werden verbrannt, sondern auch simple Stadtbüchereien und Schulen.

Als letztes westliches Reich fällt 1974 das lusitanische. Die rechte Regierung kämpft erbittert um den portugiesischen Sprachraum, verliert aber die Macht an linke Putschisten und ihre Nelkenrevolution. Russische Freunde des Autors lachen verlegen, wenn sie in Danzig beim Abendbrot hören: „Seid meinethalben stolz, dass Euer Großreich bis 1991 volle 17 Jahre länger durchgehalten hat als Lissabon. Das ist doch ein Riesenerfolg. Mehr ist nicht drin.“

Wie OAS-Generale 1961 den Chef nicht töten können, so scheitern 1991 Russlands Putschisten unter Gennadi Janajew und Marschall Dimitri Jasow gegen Gorbatschow und Jelzin, die den Unterdrückten Autonomie geben wollen. Wie in Westeuropa scheint es gut auszugehen, obwohl mit den Russen verarmte Kolonialherren verzichten sollen, während Jahrzehnte früher im Westen die Verluste in der Ferne mit üppig wachsendem Wohlstand zuhause einhergehen. Und doch wird Russland Europas einziges Reich, wo die Trennung von den nicht mehr haltbaren Eroberungen scheitert.

Beide Seiten in der Sackgasse
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Dort erwächst all den gescheiterten Putschisten ein Rächer. Der Jasow-Bewunderer Wladimir Putin ehrt nach Eroberung der Krim im Jahre 2014 den Aufstandsführer von 1991 öffentlich im Kreml. Schon 2005 hatte er den Leichnam von General Antonin Denikin aus Ann Arbor (Michigan) in Moskaus Donskoi-Kloster überführen lassen. Der 1920 entkommene zaristische Kommandeur gegen die Bolschewiki hatte Lenin wegen der Autonomiegewährung an die Ukraine verdammt, die man zwischen 1667 und 1795 den demografisch vergleichsweise trägen Polen entreißt.

Auch die meisten Russen verstehen die Gründe der verherrlichten Größe nicht. Zwischen 1840 und 1914 haben ihre Frauen durchschnittlich 7 Kinder. 1914 sind von 1.000 Wehrfähigen weltweit 100 ethnische Russen. 70 davon sind zweite bis vierte Söhne, die von den Generalen verheizt werden. Bei den Eroberungen im Osten verliert man als Helden verehrte Soldaten. Doch nach jedem Töten und Sterben für die Reichsvergrößerung gibt es mehr Tötungs- und Sterbebereite für weitere Zugewinne.

Heute sind von global 1.000 Wehrfähigen nur noch 10 ethnische Russen. Überzählige Söhne gibt es in der vergreisenden Nation überhaupt nicht mehr. Der Kriegsindex erreicht magere 0.8. Beim Putsch von 1991 steht er noch bei 1.5. Damals folgen auf 1.000 ältere Männer von 55 bis 59 Jahre immerhin noch 1.500 Jünglinge zwischen 15 und 19 Jahren. Heute sind es nur noch 800. Die haben alle Optionen. Viele gehen deshalb nur in den Krieg, weil ihnen bei Verweigerung Erschießung droht.

Putins Russen haben keine Angst vor Polen oder Litauern, sondern vor dem Eingeständnis der verlorenen Größe. Ihre Iskander-Nukleargeschosse zielen ganz überwiegend auf eine wirkliche Macht, stehen also an der Grenze zu China. Von den sieben Millionen Quadratkilometern der Region Fernost (elfmal die Fläche der Ukraine) mit kaum vier Millionen ethnischen Russen erobert man bis 1860 knapp eine Million von China und glänzt damit gegenüber allen übrigen Europäern, die sich am Reich der Mitte die Zähne ausbeißen. Heute pachtet China in Nahost riesige Ackerflächen und beschäftigt über 400 Firmen zum Abholzen der Wälder, weil es Russen für solche Unternehmungen schlichtweg nicht gibt.

Entwicklungen auf dem Balkan
Irritationen über Putin auch in Serbien und Bulgarien
Patrioten zeigen mithilfe von Google Earth die gewaltigen Rodungen und klagen über Wüsteneien, die man dem Nachwuchs hinterlasse. Korrekt ist das nur im ersten Teil, weil man die enterbten Kinder ja gar nicht hat. Lokale Behörden möchten weitere Flächen ausmünzen. Putin aber zieht vorerst noch Grenzen. China will über eine 600-km-Pipeline Süßwasser aus dem Baikalsee auf seinen trockenen Norden leiten. Die Granden vor Ort wollen durchaus verkaufen. Doch Moskau blockiert. Aber es braucht Hilfe. Xis wichtigste Kriegsunterstützung besteht momentan im Stillhalten trotz Abzugs des gegen es gerichteten Militärs. Putin kann so aus der absterbenden Megaprovinz Soldaten zum Heldentod in die ebenfalls vergreisende Ukraine schicken. China, ökonomisch zwölfmal und bei PCT-Patenten siebzigmal stärker als die Russen, gewinnt im Gegenzug freie Bahn nach Norden.

Ob Russland nun aufgibt und verarmt oder siegt und in der Ukraine die Renten bezahlen muss, Moskau wird in jedem Falls zu einem teuren Wasserkopf, der niemanden mehr mit Schecks ruhigstellen kann. Nicht einmal die Dateninfrastruktur wird noch funktionieren, weil die besten Köpfe das Riesenterritorium, das kein Reich mehr ist, längst verlassen haben. Gouverneure östlich vom Ural werden China dann anstandslos bitten, lediglich gepachtet und nicht auf härtere Weise vereinnahmt zu werden. Spätestens dann verstehen selbst die treuesten Putinisten, dass siebzehn Jahre länger als Lissabon gar nicht so schlecht gewesen wäre.

Gunnar Heinsohn (*1943; emer. Prof. Dr. phil; Dr. rer. pol.) hat von 1993 bis 2009 an der Universität Bremen Europas erstes Institut für vergleichende Völkermordforschung geleitet. 2011 hat er das Fach Kriegsdemographie am NATO Defense College (NDC) in Rom eingeführt und bis 2020 gelehrt.

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Kommentare ( 28 )

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DeepBlue
1 Jahr her

Ich zweifle etwas daran, dass man Erfolg oder Niederlage so schematisch an Heinsohns „Youth Bulge“ festmachen kann.
Auch die USA und China vergreisen und haben ein demographisches Problem und trotzdem sehe ich nicht, dass sie ihre Rolle als Supermacht so schnell verlieren werden…

alberto el primo
1 Jahr her

Von Ihrem Focus auf die Basis für Machtveränderungen, nämlich schlicht die zur Verfügung stehende Zahl von jungen Männern als Kämpfern, habe ich viel gelernt, Herr Heinsohn. Aber zunehmend werden Sie altersstarrsinnig und wissen schon alles von vornherein, ohne ordentliches Quellenstudium. Putin will doch kein „Imperium“ wiederaufrichten! Und schon gleich gar kein „europäisches“. Da sind Sie völlig auf dem Holzweg, Herr Heinsohn! Die Militäraktion in der Ukraine ist eine Verzweiflungstat, um den Würger für den Moment vom Hals zu bekommen. Nur darum geht es…

Ticinese
1 Jahr her

Der alte Kontinent ist im wahrsten Sinn alt geworden. Der Bevölkerungsschwund betrifft natürlich nicht nur Russland und Europa, sondern auch Südostasien mit China und Japan. Erschwerend die Emigration gerade junger Talente, insbesondere nach Nordamerika.
Nordamerika hat für leistungsbereite, gut ausgebildete junge Leute aus aller Welt bis heute seine Attraktivität nicht verloren. Der Bevölkerung stieg in den USA seit dem Jahr 1960 von 180 auf 330 Millionen (bei einem selbst für Europa hohen Lebensstandard).
Das rückständige Russland und die zerstrittene EU kann man weltpolitisch wohl abschreiben. Und von China sagt man ja, bevor es reich wird, werde es alt.
 
 
 

Rasparis
1 Jahr her

Von Paul Valery stammt das Zitat „lhistoire du monde, cest lhistoire de la demographie". Der sonst auch von mir unbekannterweise hochgeschätzte Professor übersieht allerdings, daß das Verhältnis der russischen zur chinesischen Demographie immer schon schon sehr stark zu Ungunsten Rußlands ausfiel. Gleich ob heute oder vor 100, 200 oder 500 Jahren. Das hat Rußland allerdings nicht daran gehindert, im 19.Jahrhundert -wie vom Professor beschrieben- große Gebiete in Chinas Nordwesten und Norden zu besetzen und deren Abtretung zu erzwingen ("ungleiche Verträge"). Selbst wenn unterstellt werden darf, daß die Chinesen das nicht vergessen haben und irgendwann versuchen werden, die Seite im Geschichtsbuch… Mehr

Seneca
1 Jahr her

Liest sich auf den ersten Blick alles sehr schlüssig ist aber trotzdem eine eindimensionale Sichtweise. Wenn es immer nur auf den Geburtenfaktor ala Heinsson für alles und jedes ankäme, dann müsste Afrika an der Weltspitze stehen und Japan wie China völlig verarmt und nicht wehrfähig sein. Das Gegenteil ist der Fall. Zudem betreibt Russland seit 20 Jahren eine durchaus erfolgreiche Familienpolitik. Russland hat alles was ein Land für Autarkie benötigt, ähnlich wie der Iran. Die aktuelle geopolitische Lage in der Urkraine hat gänzlich andere Gründe als den „Geburtenfaktor“.

RMPetersen
1 Jahr her

Ich habe die Botschaft des ansonsten hochgeschätzten Gunnar Heinsohn nicht verstanden.
Liest sich wie ein allgemein misanthropischer Abgesang auf Europa, wg. Angriff auf die Ukraine unter besonderer Berücksichtigung des russischen Teiles.
Erinnert mich daran, wie Kurt Georg Kiesinger im Wahlkampf (- es muss um 1970 gewesen sein) auf sein Rednerpult schlug und rief: „Ich sage nur China, China, China!“.

StefanB
1 Jahr her

Mit abwandernden jungen Akademikern, die tatsächlich etwas können und bleibenden teuren Wasserköpfen, kennt sich ja auch und insbesondere der hochverschuldete Westen bestens aus (siehe öffentlicher Dienst, Universitäten, Politik, selbst große Unternehmen). Die dort selbst produzierte Negativauslese wird in den genannten Bereichen teuer endgelagert und führt das System als „Elite“ in den Untergang. Siehe bspw. Habeck und Annalena. Der auf der Reproduktionsrate beruhende Kriegsindex des Autors ist bei Atommächten übrigens nicht wirklich kriegsentscheidend – bei denen ist es eher die ultimative Bewaffnung. Knopfdruck reicht. Mindestens genauso interessant wäre deshalb ein alternativer Kriegsindex, der als Ursache auf die Staatsverschuldung abstellt. These: Je… Mehr

AndreasN
1 Jahr her

@Turnvater Einen ähnlichen Gedanken hatte ich auch schon. Allerdings geht Ostpreußen nicht, denn das bedeutet nur wieder endlosen Ärger mit Polen und Angelsachsen. Was aber, wenn die Russen auf eine andere Idee kämen, die sie ähnlich schon einmal praktiziert hatten – Schaffung einer autonomen deutschen Republik , vielleicht im Fernen Osten, quasi als ein Bollwerk gegen die Chinesen. Weil sie es haben, in der Größe des heutigen Deutschlands. Wieviele würden dorthin gehen, weg aus einem Land, das nur noch bleiern, bürokratisch und selbstzerstörerisch ist, wirklich keine Freiräume mehr lässt und dominiert wird von einer Schicht selbstherrlicher Politiker, Aktivisten und Medien,… Mehr

Deutscher
1 Jahr her

Oh, oh, oh!

Russland wird noch Russland sein, wenn Deutschland nur noch dem Namen nach existiert.

Heinrich
1 Jahr her

Es ist immer wieder interessant, Betrachtungen von Ihrem hohen ‚flight level‘ aus zu lesen, Herr Professor. Allerdings scheint ihre weltumfliegende und zeitreisende Kapsel zwar atemberaubende Erkenntnisse zu eröffnen, aber der Ausblick scheint nur in eine bestimmte Richtung möglich. Selbst wenn man ihrer subkutan vermittelten Sicht des ‚Putinismus‘ folgen würde und selbst wenn man Ihren Schluss – Putin verheize die russichen Söhne in der Ukraine und in der Folge werden im Osten Sinologen gebraucht – für plausibel hält, selbst dann bleiben doch wichtige Fragen offen, Herr Professor Heinsohn: Hätte er, Putin, dem acht Jahre andauernden Gemetzel im Donbass ein neuntes hinzufügen… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Heinrich
margit-kaestner
1 Jahr her
Antworten an  Heinrich

Sehr gut , vielen Dank , die andere Sicht , gerade hier bei Tichy , tut gut .

Leander
1 Jahr her
Antworten an  Heinrich

Selbst um Ihre Fragestellungen erweitert, bleibt die Schlussfolgerung von Prof. Heinsohn die gleiche. Er hat nur einen Punkt ausser Acht gelassen: was macht der Wasserkopf mit den Atomraketen? Die Hemmschwelle diese auch abzufeuern verrottet gerade.